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Schicksalsgenossen. Scheitert Carsten Sieling am 26. Mai, gerät auch die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles unter noch größeren Druck.
© Michael Bahlo/dpa

Furcht der SPD vor der Bremen-Wahl: Der letzte Deich der Sozialdemokraten bröckelt

Seit 73 Jahren regieren Sozialdemokraten Bremen – das könnte sich nun ändern. Die SPD-Chefs in Berlin blicken mit großer Sorge auf den Stadtstaat.

Es ist nicht einfach, auf der Sebaldsbrücker Heerstraße die SPD das Fürchten zu lehren. Carsten Meyer-Heder steht am Infotischchen der CDU und lächelt freundlich verlegen. Der schlaksige IT-Unternehmer mit Glatze und Fünf-Tage-Bärtchen ist der Spitzenkandidat der Bremer CDU für die Bürgerschaftswahl in zwei Wochen und – aus Gründen, die noch genauer zu besprechen sein werden – infolgedessen das Schreckgespenst der Bundes-SPD. Meyer-Heder soll hier um Wähler werben. Es kommt nur keiner. Gar keiner.

Sebaldsbrück im Stadtteil Hemeligen, das heißt hier in der Ecke: kleine Leute, großes Daimler-Werk, viel Migrationshintergrund. Im Grillkiosk „Zum halben Hahn“ herrscht werktags Betrieb, nur ist heute Samstag. Meyer-Heder hakt beide Daumen in die Hosentaschen und schweigt. „Egal, wo wir uns hinstellen in Selbaldsbrück“, entschuldigt sich der lokale CDU-Vize, „es kommt kaum einer.“ Dann stopft er sich die Jackentaschen voll mit Seifenblasenflaschen für die Kinder und schlägt vor, es ein paar Schritte weiter zu versuchen, beim Supermarkt.

Im kleinsten Bundesland tut sich Ungewöhnliches

Das ist ganz praktisch, weil man in der Zwischenzeit kurz die allgemeine Lage skizzieren kann. Die Bürgerschaftswahl in Bremen ist normalerweise ein Ereignis von begrenzter nationaler Bedeutung. Eigentlich wäre sie auch diesmal völlig von der Europawahl überdeckt worden, die ebenfalls am 26. Mai stattfindet. Aber im kleinsten Bundesland tut sich Ungewöhnliches. Seit seiner Gründung vor 73 Jahren wird Bremen von der SPD regiert. Doch diesmal wankt die letzte Hochburg der Sozialdemokratie.

Als das letzte Stammland fiel, riefen die SPD-Regierenden Neuwahlen aus

Dass die CDU seit knapp einem Jahr mit der SPD gleichauf liegt, wäre bemerkenswert genug. In der jüngsten Umfrage landete die ewige Oppositions- aber sogar einen Punkt vor der ewigen Rathauspartei: 26 zu 25 Prozent.

So etwas weckt Erinnerungen. Als das letzte Mal ein SPD-Stammland an die CDU fiel, riefen die Regierenden in Berlin vor Schreck Neuwahlen aus. Nun handelte es sich damals um das große Nordrhein-Westfalen. Aber damals hieß der SPD-Häuptling auch noch Gerhard Schröder. Unter den bescheidenen Verhältnissen, mit denen seine Nachfolger sich plagen, könnte schon der Verlust eines Zwergstaats mit knapp 700.000 Einwohnern eine schwer beherrschbare Dynamik auslösen. Zumal, wie gesagt, nach 73 Jahren ungebrochener Herrschaft. Ein Rathaus zu verlieren, ist eine Sache. Aber das Bremer Rathaus ist ein Symbol. Wenn die Sozialdemokratie hier nicht mehr auf die Füße kommt – wo dann?

CDU-Spitzenkandidat Carsten Meyer-Heder (r.) liegt in den jüngsten Umfragen vor Bürgermeister Carsten Sieling (l.) von der SPD.
CDU-Spitzenkandidat Carsten Meyer-Heder (r.) liegt in den jüngsten Umfragen vor Bürgermeister Carsten Sieling (l.) von der SPD.
© Carmen Jaspersen/dpa

Für den Mann, der die roten Deiche halten soll, ist das alles eine schwere Last. Vielleicht schaut Carsten Sieling von den SPD-Wahlplakaten deshalb seinen hoffentlichen Wählern hinter seiner runden Brille wie ein freundliches, aber leicht erschrockenes Kaninchen in die Augen. Der Bundestagsabgeordnete Sieling kam vor fünf Jahren zum Bürgermeisteramt, weil sein Vorgänger Jens Böhrnsen nach dem schlechtesten Wahlergebnis der bremischen SPD-Geschichte hinwarf. Böhrnsen kapitulierte damals wegen 32,8 Prozent. Sieling kann von solchen Werten nur träumen. „Regiert Bremen kompetent“, steht auf seinen Wahlplakaten. Das könnte als norddeutsch unterkühlt durchgehen, aber andererseits: Das ist ja nun eigentlich das Mindeste, was man von einem Bürgermeister erwarten sollte.

Ein Bunker, überregional bekannt

Mittlerweile ist Meyer-Heders Wählersuchtrupp beim Supermarkt angekommen, vorbei an dem riesigen Weltkriegsbunker, der Sebaldsbrück voriges Jahr kurzen überregionale Bekanntheit bescherte. Da entdeckte die Polizei in der verlassenen Ruine eine riesige Hanfplantage, komplett mit künstlicher Beleuchtung und Bewässerungsautomatik. Am Supermarkt – vormals Aldi, jetzt „Bizim Süper Market“ – schiebt eine ältere Frau mit Kopftuch ihren Einkaufswagen durch das CDU-Häufchen. Herr Dogan kommt und lässt sich aufklären, mit wem er es zu tun hat. Herrn Dogan gehört der Süper Market und neuerdings auch der Bunker. Er will aus dem Betonklotz etwas machen – Event-Räume, 17 Wohnungen.

So ein energischer Jungunternehmer, das wäre für den Christdemokraten Meyer-Heder eigentlich der ideale Ansprechpartner. Aber erstens hängen im Süpermarketeingang die Wahlplakate der Kandidaten von Grünen und SPD. Zweitens heißen die beiden Mustafa Öztürk und Mustafa Güngör. Und drittens hält eine rätselhafte Kraft die Spitzenkandidatendaumen derart hartnäckig in den Hosentaschen fest, dass er den Mund auch nicht aufkriegt.

Demokratie lebt und wird belebt durch den regelmäßigen Wechsel in der Regierung. Das gilt für das Land Bremen, und das gilt für den Bund. Es lebe der Wechsel.

schreibt NutzerIn 2010fff

73 Jahre Vergeblichkeit

Nun muss man wissen, dass dies alles für Carsten Meyer-Heder komplettes Neuland darstellt. Der 58-Jährige hat ein sehr erfolgreiches IT-Unternehmen aufgebaut und hatte mit Parteipolitik nichts am Hut, bis der Bremer CDU-Chef Jörg Kastendiek ihn seiner Partei vor eineinhalb Jahren als Spitzenkandidaten vorschlug. Der Landesvorstand stimmte sofort zu, woraufhin Meyer-Heder überhaupt erst mal in die Partei eintrat. Die setzte ihn einstimmig auf Listenplatz Eins.

Der Vorgang erzählt natürlich einiges über die bremische Christdemokratie und ihren inneren Zustand nach 73 Jahren der Vergeblichkeit. Doch dazu kam persönliche Tragik. Meyer-Heders Entdecker Kastendiek kämpfte lange gegen ein schweres Krebsleiden an. Am Dienstag starb der CDU-Chef, erst 54 Jahre alt.

Mangelhaft. Carsten Meyer-Heder wirft der SPD in Bremen eine verfehlte Bildungspolitik vor.
Mangelhaft. Carsten Meyer-Heder wirft der SPD in Bremen eine verfehlte Bildungspolitik vor.
© Carmen Jaspersen/dpa

Er war fast bis zuletzt mit im Wahlkampf unterwegs. So hat er auch die ziemlich einzigartige Plakatkampagne noch erlebt, mit der sein Favorit die Hansestadt überzog. Die Plakate in der Parteifarbe Orange stechen von den Laternen gleich in den Blick, unten sieht man Meyer-Heders markanten Glatzkopf und darüber jede Menge Sprüche. „Werder spielt 1. Liga – Zeit dass Bremen nachzieht“, steht da oder „Ich kämpfe für alle Klassen – und Lehrer.“ Manchmal beschränkt er sich frech auf ein Ausrufezeichen.

Ein "Dorf mit Straßenbahn", so spotten die Bremer selbst

Die Sprüche zielen auf Bremens größte Probleme. Das kleinste Bundesland ähnelt strukturell dem großen Berlin, nur dass das Meiste eben im Maßstab kleiner ist im „Dorf mit Straßenbahn“, wie die Bremer sich selbst in einer Mischung aus Stolz und Minderwertigkeitskomplex nennen. Größer als in der Hauptstadt ist allerdings das Gefälle zwischen Arm und Reich, zwischen Villenvierteln und Problemquartieren. Die Halbstadt Bremerhaven wechselt sich als Arbeitslosen-Rekordhalter in ihrer Größenklasse mit Gelsenkirchen ab. In den Pisa-Schulrankings landet Bremen zuverlässig auf den letzten Plätzen. Wohnen in der Stadt wird auch immer unbezahlbarer, und natürlich der Verkehr – kurz: Für einen Wechsel nach 73 Jahren gäbe es Gründe genug.

Im Wahlkampf wird das alles von den Spitzenkandidaten brav abgehandelt in den zahlreichen Talkrunden, sei es im „Wahllokal“ von „Buten un Binnen“, dem Fernseh-Regionalmagazin, sei es auf Einladung des „Weser-Kurier“. Viel Leidenschaft kommt aber nicht auf. Das liegt sehr an den beiden Carstens. Der eine taugt nicht zum Volkstribun, der andere auch nicht. Sieling ist ein freundlicher Mensch, der durchaus auf Leute zugeht. Doch gegen Legenden der Volkstümlichkeit wie Hans Koschnick oder den Spontanumarmer Henning Scherf bleibt der Nachfolger blass. Den Pensionär Scherf und seine Frau hat die SPD sogar auf ein Plakat gedruckt, was erst recht zum spöttischen Vergleich reizte.

Die Äußerungen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert beeinflussen auch den Bremer Wahlkampf.
Die Äußerungen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert beeinflussen auch den Bremer Wahlkampf.
© Georg Wendt/dpa

Carsten Sielings Hauptproblem ist indessen weder er selbst noch der Konkurrent und nicht mal der Zustand im Land Bremen. An dem kann der 60-Jährige eh nur begrenzt etwas ändern, nicht mal mit den zusätzlichen Millionen, die sein Schuldenland seit den letzten Verhandlungen vom Bund bekommt. Das Dilemma lässt sich für Außenstehende erahnen, wenn im „Buten un Binnen“-Talk eine Schulleiterin aufsteht und erklärt, dass jeder mehr Lehrer versprechen, das aber niemand einlösen könne, solange direkt hinter der Grenze in Niedersachsen der gleiche Lehrer einfach mehr verdiene. Sehr verkürzt gesagt leidet Bremen daran, dass es überhaupt ein Bundesland ist. Im Umland zwischen Teufelsmoor und dem freundlichen Unistädtchen Oldenburg wohnt es sich nämlich genau so schön, nur ruhiger und billiger.

Sein zentrales Problem beschreibt eine Zahl: 16 Prozent

Aber Sielings eigentliche Sorge gründet nicht darin, nicht in Fehlern und Versäumnissen, die sich in 73 Jahren angesammelt haben, nicht darin, dass die CDU stärker wäre als je; das ist sie gar nicht. Sein zentrales Problem beschreibt eine andere Zahl: 16 Prozent. Der letzte Umfragewert für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Der Bundestrend zieht die Bremer mit nach unten. Den Rest besorgte Kevin Kühnert, als der Juso-Chef den Sozialismus ausrief.

Nicht, dass sie dem in Bremen prinzipiell abhold wären. Sieling war früher Chef der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion. Die Linkspartei ist ungewöhnlich stark für ein westliches Bundesland, zwölf Prozent. Die AfD bleibt übrigens schwach mit acht Prozent, auch weil die Lokalkonkurrenz „Bürger in Wut“ schon vor ihr da war und zwei bis drei Prozent Law-and-Order-Wähler bindet.

Andrea Nahles schwieg, Olaf Scholz witzelte

Nur ist das Fatale am Fall Kevin Kühnert, dass der Jungspund die Schwäche seiner Parteispitze vorführte. Vizekanzler Olaf Scholz versuchte die Provokation wegzuwitzeln – er sei auch mal Juso gewesen. Die Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles schwieg. Unter anderen Umständen hätten beides als Gesten der Souveränität durchgehen können. Nur konnte jeder förmlich riechen, dass sie sich nicht zu widersprechen trauten.

Henning Scherf war der bislang letzte SPD-Bürgermeister, der in Bremen mit 40 Prozent + X regierte.
Henning Scherf war der bislang letzte SPD-Bürgermeister, der in Bremen mit 40 Prozent + X regierte.
© Kitty Kleist-Heinrich

Am Dienstag meldet sich Henning Scherf zu Wort. „Die große Mehrheit ist für Rot-Rot-Grün“, sagt der 80-jährige Altbürgermeister. Er war der letzte, der in Bremen mit 40 + x regierte. Seine Botschaft ist so klar wie der Ort des Interviews aufschlussreich: Da will einer nicht nur nervöse Nerven in seiner Heimatstadt beruhigen; „Spiegel online“ liest man in Berlin genauso wie in Bremen.

Für Jamaika reicht es noch nicht

In der Sache hat Scherf wahrscheinlich sogar Recht. 25 Prozent SPD plus 18 Prozent Grüne plus zwölf Prozent Linke ergäbe eine komfortable Mehrheit. Meyer-Heders CDU müsste ein Stück zulegen, damit es für Jamaika mit Grünen und FDP reicht; die Liberalen kümmern bei sechs Prozent herum. Die Grünen, die bisher mit Sieling regieren, legen sich nicht auf einen Partner fest. Eine große Koalition gab es in Bremen auch schon einmal, allerdings unter SPD-Führung.

Am Sonntag, dem 26. Mai, jedoch werden Rathausbündnisfragen noch sehr fern liegen. Dann werden abends auf den Fernsehschirmen die Balken der Europawahl zu sehen sein, die Balken der Bremen-Wahl, später die Balken der Kommunalwahlen in zehn Ländern, darunter aller fünfe im Osten. Die SPD-Balken werden kurz bleiben. Und wenn dann zum allgemeinen Unglück noch die kleine Katastrophe an der Weser kommt, dann können in Berlin leicht ein paar rote Deiche brechen. Nur Carsten Meyer-Heder, der wäre auf einmal ein Held, obwohl er dafür fast gar nichts kann.

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