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Straßenranderscheinung. Oft bekam Robert Wright von Passanten zu hören: „Sie lächeln immer!“
© Stuart Franklin/Magnum Photos/Agentur Focus

Brexit und die Folgen: Der erste Brite, dessen Leben nach dem Brexit schon anders ist

Robert Wrights stand elf Monate auf einer Londoner Verkehrsinsel, um für den Brexit zu demonstrieren. Jetzt hat er sein Ziel erreicht – und etwas verloren.

Hätte Robert Wright gewusst, dass seine ganz persönliche Pro-Brexit-Demonstration auf einer Verkehrsinsel in Westminster geschlagene elf Monate dauern und ihn mehr als 5000 Pfund kosten würde, er weiß nicht, ob er es auf sich genommen hätte.

Den 31. Januar 2020 wird man in Zukunft den „Brexit“ nennen, auch wenn er mindestens bis zum Ende des Jahres für so gut wie niemanden praktische Konsequenzen haben wird. Außer, ganz sicher, für Sally und Robert Wright.

„Es hat unser Leben gekapert“, sagt Robert Wright.

„2016 wusste ich nicht, dass alles so persönlich werden würde. Dass ich Mut brauchen würde. Ich dachte, man bräuchte für das EU-Referendum einfach nur eine Meinung“, sagt seine Frau Sally.

„Ich dachte nicht, dass ich auf der Straße landen würde“, sagt Robert.

„Just hoot“ – „Einfach hupen“

Auf den Straßen vor Londons Westminster Palace nämlich, wo sie elf Monate lang ihre rot-weißen Schilder hochhielten. Für den Brexit? „Just hoot“ – „Einfach hupen“. Sally und Robert Wright haben damit dem Protest der Brexiteers rund um das Parlament das Geräusch hinzugefügt: das unablässige Hupen der Austrittswilligen.

Nun endet für sie eine Lebensphase. Die Koordinatoren des historisch einmaligen Hupkonzerts sitzen im noch ganz jungen Post-Brexit-England im Gegenwartsgemurmel arbeitender oder Mittag essender Mitglieder des traditionsreichen Wirtschafts-Clubs „Institute of Directors“. An den Wänden verdienstvolle Vorfahren in Öl.

Sally und Robert Wright. „Ich bin stolz, das durchschaut zu haben.“
Sally und Robert Wright. „Ich bin stolz, das durchschaut zu haben.“
© Deike Diening

Nun läge es nahe, diesen Ortswechsel von der ausgesetzten Verkehrsinsel zu diesem weich gepolsterten, zutiefst englischen Ort mit dem Brexit überhaupt zu vergleichen: nach langer Zeit da draußen in der Härte der Wirklichkeit zurück in das weiche Polster der Tradition, der Lärm der Globalisierung abgepuffert durch jahrhundertealte Mauern eines Clubs mit unveränderlichen Regeln. War nicht das das Ziel des Brexit? 

Doch Robert Wright, 65, seit zehn Jahren pensionierter Beamter, ist in diesem Club schon seit 25 Jahren Mitglied. Die Karte hält mit dem „Club Sandwich“ die Tradition in Ehren und umarmt mit der „Quinoa Bowl“ die Zukunft. Jeder Einzelne auf seinem Sessel ist Ziel eines makellosen Service. Robert Wright trägt Fliege und ein Strahlen im Gesicht, das nur damit zusammenhängen kann, dass er zusammen mit seiner Frau Sally sein Ziel erreicht hat.

Es hupten vor allem die Taxifahrer

Ein gutes Jahr zuvor, im Januar 2019, steht kurz vor dem anvisierten ersten Brexit-Termin auf einer Verkehrsinsel in Whitehall, zwischen Downing Street und dem Parlament, umspült vom Verkehr wie Großbritannien vom Meer, Robert Wright. Er trägt eine Mütze, deren Umriss ihm eine jederzeit erkennbare Silhouette verleiht. Ob die Leute hupen, weil sie seiner Aufforderung auf dem Schild folgen, seiner Meinung sind oder ihn einfach bloß wiedererkennen, ist nicht zu trennen.

Schon drei Monate lang hält Wright sein Schild in die Höhe: „Just hoot.“ Alles Hupen rund um Westminster ist damit zu einem Hupen für den Brexit geworden. Und es hupten, sagte Wright, vor allem die einfachen Leute: Bus- und Taxifahrer. Vor allem Taxifahrer.

Robert Wright steht fast ein bisschen neben sich, er wird am laufenden Band interviewt, der kommende, erste Brexit-Termin wird vermutlich gerissen werden, und er hat das Gefühl, viel mehr als den Brexit, nämlich die Demokratie als funktionierende Staatsform verteidigen zu müssen. Wenn das basisdemokratische Referendum nicht umgesetzt werde, sagt er, dann sei die Demokratie in Gefahr. „Leave means leave.“

Theresa May, „der Automat“

Robert Wright selbst ist mit dem teuersten Pendlerticket zur Peak-Zeit in die Stadt gekommen, zusammen mit allen anderen, die von Turnbridge Wells aus täglich nach London pendeln.

Zunächst war ja alles gut gelaufen, erzählt Robert aus der komfortablen Position des Clubsessels: David Cameron trat ab und machte Platz für eine Premierministerin, die versicherte, das Land aus der EU führen zu wollen. Doch Sallys Herz sank, sagt sie, nachdem sie deren unseligen Satz „Brexit heißt Brexit“ gehört hatte. Von da an war sie sicher, dass Theresa May, „der Automat“, in Wahrheit gar nicht rauswollte. „Himmelschreiend“, ergänzt Robert, wie Theresa May einfach nur so getan habe als ob. Ihrer und der Plan der EU sei es gewesen, den „Deal“ so nachteilig zu gestalten, dass Großbritannien nach ein paar Jahren um seine Rückkehr betteln würde. „Ich bin stolz, das durchschaut zu haben“, sagt Wright.

1975, Robert und Sally waren schon zwei Jahre verheiratet, hatten beide für den Beitritt zur EU gestimmt. „Wegen der Handelsbeziehungen.“ Wäre es dabei geblieben, sie hätten bis heute keine Probleme. „Wir sind dieselben“, sagt Sally. „Die EU hat sich gewandelt.“ Die EU, die nun plane, ein Superstaat zu werden.

In Zukunft immer lächeln!

1975 war ja noch keine Rede von einer supranationalen Organisation, die am Ende die Souveränität der beteiligten Nationalstaaten aushebeln würde. Sally erinnert sich an die großformatigen Flyer, die sie sich damals von vorne bis hinten durchlas. „Keiner sprach von den United States of Europe.“ Heute, sagt Robert, sei Europa auf dem besten Weg zum Empire, „komplett mit Hymne, Flagge und Armee“.

Was konnte man tun in dieser verfahrenen, blockierten Lage? „Einfach hupen.“ – „Just hoot!“ Das war schon mal etwas. Ein Ventil. Eine einfache Sache. A bit of fun and encouragement. Für den Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg bastelten sie ein Schild in Latein.

Sally Wright und Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg.
Sally Wright und Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg.
© privat

Seine elf Monate auf der Straße, sagt Wright, seien eine einzige Bildungsreise gewesen. Mit steiler Lernkurve. Nicht zuletzt habe er etwas über Meteorologie gelernt. Er hat da draußen spektakuläre Winde erlebt, starken Regen und danach über die nass glitzernde Straße in die Sonne geschaut. Er lernte: Sobald es anfängt zu regnen, hört der Wind auf.

Von dem ersten Foto, das der „Guardian“ von ihm druckte, lernte er auch. Parolen rufend war er da abgebildet. Unvorteilhaft getroffen fand er sich mit seinem Empörungsgesicht. Nach diesem Foto beschloss er, in Zukunft immer zu lächeln! Dieses Lächeln, das weder den Grad seiner Sorge und Empörung noch den aktuellen Stand der Brexit-Verhandlungen spiegelte, verlieh ihm eine Aura von Selbstvertrauen, Ausgeglichenheit und Zuversicht, auf die man ihn immer wieder ansprach. „Sie lächeln immer!“, sagten die Leute verwundert.

Demonstrieren schmerzt. Körperlich

Demonstrieren, lernten beide, schmerzt körperlich: Die Schilder würden nur mit Hupen belohnt, wenn sie hochgehalten werden. Sally kneift sich in den Oberarm. „Arme, Beine, Lunge, da draußen auf der Straße – es tut wirklich weh!“, sagt Robert.

„Und wir haben gelernt, wie man mit Leuten redet“, sagt Robert. Statements etwa provozierten kein Nachdenken, Fragen schon. Wright akquirierte auf diese Weise Mitstreiter. Er notierte sich die E-Mail-Adressen von Unterstützern. Von den 250 Leuten auf seiner Liste halfen etwa 20 Leute sporadisch aus, tagsüber die Schilder in den Verkehr zu halten. Der größte Teil waren Rentner, und das musste auch so sein, denn wer hätte sonst mitten in der Woche tagsüber Zeit?

Anfangs dachten sie noch, dass ihr Protest höchstens bis zum 29. März 2019 dauern würde, zum offiziellen ersten Brexit-Datum. „Haltet durch“, habe ihnen der Parlamentsabgeordnete Owen Paterson gesagt, als er sie einmal in der U-Bahn traf. „Wir holen den Brexit für euch!“

„Religion und Politik – darüber redet man nicht“

„Haben die eine Kristallkugel?“, fragte sich Sally Wright.

Sie hatte einmal das Programmieren von Computern gelernt, war aber dann Hausfrau geworden mit zwei Kindern. Robert war ohnehin pensioniert. 2016, da wohnten sie noch in Eastbourne, haben Sally und Robert vor dem Referendum jeden Samstag einen Straßenstand betreut von der den Brexit unterstützenden Organisation „Grassroots out“, die später in „Vote Leave“ aufging.

Sie selbst hatten mit Straßenprotesten keinerlei Erfahrung. „Religion und Politik – darüber redet man nicht“, das sei damals, also vor dem Referendum, in England Konsens gewesen. Religion und Politik galten als das Privateste überhaupt. Das war wohl ein Grund dafür, dass die möglichen Effekte und Folgen des einmaligen „Should I stay or should I go“ vor dem Referendum niemals in ganzer Tiefe diskutiert wurden.

Aber mit dem Konsens war es nach dem Referendum ohnehin vorbei.

Sie positionierten sich acht Uhr früh

Die Remainer, sagt Wright – nachweislich in der Unterzahl, sonst hätten sie das Referendum ja wohl kaum verloren –, hätten die Öffentlichkeit überzeugen müssen. Deshalb hätten sie sich vor dem Parlament in der Nähe der Fernsehkameras postiert, wo sie im Hintergrund der Berichterstatter ein wogendes Meer blauer EU-Fahnen bildeten.

Die Brexiteers konzentrierten sich auf die Politiker: House of Commons, House of Lords. Sie positionierten sich um acht Uhr früh an den Eingängen, den „Carriage Gates“ und am „Cromwell Green“, sowie an den Ausgängen der Underground Station Westminster, um die Parlamentarier abzupassen. Montag, Dienstag und Mittwoch, zu den Sitzungstagen des Parlaments.

Es war, sagt Robert, wie morgens einen Laden öffnen: Tag für Tag dasselbe. Zunächst hatte er noch täglich seine acht gefalteten Schilder im Zug dabei. Dann erlaubte ihnen die befreundete „We voted Leave“-Organisation, sie nachts in deren Büro unterzustellen. Die Plakate hatten sie mit simpelsten Mitteln selbst hergestellt. Wollten sie ein neues Schild von Profis drucken lassen, kostete das 100 Pfund.

Protest?, fragte der Chinese. Aha

Robert Wright ärgert sich über die Zuschreibungen, die pauschal allen Brexit-Anhängern gemacht worden seien. Am meisten fuchsten ihn Unterstellungen, er sei, wie ja die meisten Brexiteers, Rassist, dumm und außerdem alt. Er solle doch mal an die Jungen denken.

Sie hatten ja keine Ahnung. Wozu hatte er fünf Jahre lang Berufstätigen aus europäischen Ländern Englischunterricht gegeben, die auch noch jeweils eine Woche bei ihm wohnten? Ingenieure waren darunter, Banker. Und streckte er nicht durch seine zwei Kinder und drei Enkel seine Fühler ganz ordentlich in Richtung Zukunft aus?

Einmal habe ein chinesischer Tourist von Sally auf ihrer Verkehrsinsel wissen wollen, was das alles bedeute. Protest? Aha – ob er mal halten dürfe? Dann sei er einen ganzen Nachmittag neben Sally stehen geblieben und habe das Schild hochgehalten, denn zu Hause würde er niemals öffentlich protestieren können!

Union Jack um den Hals

Der ideelle Beitrag von Sally und Robert zum Brexit ist nicht bezifferbar, aber am Ende haben sie es sich noch einmal 500 Pfund kosten lassen, den Sieg in der Nacht zum 1. Februar zusammen mit „We voted Leave“-Mitstreitern und Abgeordneten des Parlaments und des Europaparlaments im ersten Stock des „Westminster Arms“ zu feiern. Robert, Träger von Fliegen, zwirbelte sich zur Feier des Tages einen Union Jack um den Hals.

Doch schon jetzt, in der noch taufrischen Post-Brexit-Ära Anfang Februar 2020, gut platziert zwischen den stabilen Säulen des neoklassizistischen „Institute of Directors“, ist die Gefahr drohender Unterforderung absehbar.

Zurzeit liest er viel über Genderthemen

Robert Wright, energiegeladen wie stets und am temporären Ziel seiner Bemühungen angelangt, kann nun auf den Brexit-Krimi zurückblicken wie auf ein soeben fertig gewordenes Buch, an dem er selbst mitgeschrieben hat. Er hat abgeschlossen, der Brexit ist auf dem Weg. Er wird sich eine andere Aufgabe suchen müssen. „Aber es ist großartig, pensioniert zu sein. Das Internet ist unglaublich!“, sagt er begeistert. Robert Wright hat jetzt öfter das Gefühl, ausgetrickst zu werden. Das Brexit-Referendum-Gefühl hat sich festgesetzt und ist übertragbar geworden. Es kommt ihm jetzt auf vielen Gebieten so vor, als wolle man ihn etwas glauben machen, das nicht zu seinem Besten ist. Zurzeit liest er viel über Genderthemen. Er hat den Eindruck, man wolle ihm einreden, dass es mehr als zwei Geschlechter gebe.

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