Großbritannien: Brexit, Fish and Ships – die Fischer wollen raus aus der EU
Ein Brexit ohne Deal, auf die härtestmögliche Weise also. Davon träumen Briten wie Paul Joy auf ihren Kuttern. Sie haben vollkommen recht. Vollkommen?
Eines hat Paul Joy, Fischer seit 47 Jahren und letzter seiner Art, den anderen voraus: Er hat ein Gedächtnis. Er weiß, dass früher alles besser war. Er weiß deshalb auch, wie es sich anfühlen würde, wenn bald alles wieder so wie früher wäre. Wie damals, als er auch schon an fast jedem Morgen durch den Hafen von Hastings stapfte, ein Hafen an Englands Südküste, der kein Hafen ist, sondern ein weiter Kieshaufen am Meer, fast einen halben Kilometer lang und gut hundert Meter breit und vollgestellt mit Booten, Verschlägen und mit Säcken, in denen stinkende Netze gammeln.
Joy weiß, dass alles gut war für ihn und seinesgleichen bis zum 22. Januar 1972, als sein Premierminister Edward Heath die Urkunde zum Beitritt Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft unterschrieb. Die Urkunde zum Beitritt in einen Staatenbund, der nur ein Ziel zu kennen schien: Leute wie ihn zu vernichten.
Paul Joy, 69 Jahre alt, blauer Overall, blaue Augen, schneeweiße Zähne, die Kirchenbucheinträge von Hastings belegen, dass die Männer seines Namens und seines Blutes seit 800 Jahren Fischer gewesen sind. Leute, die im Auftrag des örtlichen Museums forschten, fanden heraus, die Ahnenkette könnte sogar 1000 Jahre zurückreichen. Joy hat die Kanalküstensonne eines anbrechenden Oktobertages im Gesicht, als er sagt, der Kiesstrand hier und die Boote und die Fischer und er selbst, das alles sei „ein lebendes Museum“. Er hat zwei Söhne, der eine arbeitet als Gärtner, der andere in der Pharmaindustrie. Der Gärtner angelt ein bisschen, in seiner Freizeit.
Die Zeit wird knapp
Der Vater der ersten nichtfischenden Joys seit vielleicht 1000 Jahren repariert seine Tintenfischfallen. Seit Juni macht er das. 300 solcher Käfige besitzt er, er schneidet die alten Polypropylennetze von ihnen herunter bis nur noch das Stahlgerüst bleibt und bespannt es neu. Joy webt, knotet, zurrt, ein Arbeitstag, eine Falle, bis zum April will er fertig sein, dann beginnt die nächste Tintenfischsaison. Zwei Tage und eine Stunde davor, am 29. März um 23 Uhr, wird Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union rechtskräftig werden.
Die neue Zeit. „Wir brauchen den Brexit dringend“, sagt Joy. Und zwar jene Variante, auf die es im Moment hinauszulaufen scheint, ohne Ersatzabkommen mit der EU, ohne Absprachen darüber, wie der Handel zwischen den abtrünnigen Briten und den verbleibenden Mitgliedsländern künftig ablaufen soll. Das Reisen, der Zugang zum Meer. In London regiert Theresa May und mit ihr die Sorglosigkeit, die Zeit wird knapp. Die „No deal“-Variante, ein „harter Brexit“, wird mit jedem Tag wahrscheinlicher.
Käme es tatsächlich dazu, Joy würde rausfahren aufs Meer, Tintenfischweibchen als Lockmittel in die Tintenfischfallen stecken, sie ins Wasser werfen, und falls er sich umschauen sollte, böte sich ihm ein ungewohnter Anblick. Sähe er andere Fischerboote, würden das ausschließlich britische sein. Derzeit dürfen die Franzosen zum Beispiel, so regelt es die EU, 1400 Tonnen Kabeljau im Jahr aus dem Ärmelkanal holen, die Briten 140. Die deutsche Hochseefischerei erwirtschaftet in britischen Gewässern 67 Prozent ihrer gesamten Erlöse, 82 Prozent der Heringsfänge der Deutschen kommen von hier.
Zwölf Meilen vor Frankreich ist Schluss
„Das ist die Geisteshaltung der Europäischen Union“, sagt Joy. Er selbst darf in diesem Monat 150 Kilogramm Kabeljau aus dem Wasser holen, das sei „okay“, aber fast schon die Ausnahme. Vor drei Jahren waren es 50. Leben lässt sich davon nur mühsam. Auch dann, wenn man wie Joy nicht nur Kabeljau und Tintenfische fängt, sondern „alles, was uns gerade erlaubt ist“.
Zur Geisteshaltung der EU kommen noch Abmachungen, die Großbritannien mit einzelnen ihrer Mitgliedstaaten getroffen hat – und die vor allem deshalb gelten, weil es im vergangenen halben Jahrhundert schon immer so war. Französische Fischer – neben den Niederländern, Belgiern, Iren und Deutschen – dürfen sich der britischen Küste bis auf sechs Seemeilen nähern. Sollten Paul Joy und seine Landsleute dies auf der gegenüberliegenden Ärmelkanalseite versuchen, gäbe es Ärger. Zwölf Meilen vor Frankreich ist für sie Schluss.
Das extreme Ungleichgewicht hat seine Ursache vor allem im mal mehr, mal weniger gerecht austarierten System aus Geben und Nehmen, auf das sich die EU-Mitgliedsländer ununterbrochen zu einigen versuchen. Den Briten hat man gesagt: Wenn ihr EU-Landwirtschaftssubventionen haben wollt, dann gebt uns euren Fisch. Das eigentlich Verwunderliche aber ist, dass Großbritanniens Fischer fast vier Jahrzehnte stillgehalten haben.
Erst beim Referendum wachten sie auf
Erst, als das Brexit-Referendum vom Wunschtraum zur Tatsache wurde, wachten sie auf, ließen sich benutzen von den Austrittsbefürwortern und benutzten wiederum diese, sie waren die perfekten Hauptdarsteller für deren „taking back control“-Schauspiel und den Segen, den es versprach. Am 23. Juni 2016, dem Tag, als die Wähler über den EU-Verbleib des Landes abstimmen sollten, setzte Paul Joy sein Kreuz hinter die Zeile „Leave the European Union“. Er sagt, er kenne keinen Kollegen, der es damals anders hielt.
Um ihn herum versuchen Seilwinden und rostige Bulldozer beladene Fischerboote aus den Wellen zu ziehen und schieben die leeren dorthin zurück. Die Boote haben Kufen, Möwen keifen, Hunde laufen herum, einer bellt. Das hier ist immer noch Europas größter Hafen, der auf diese Weise, ohne Kaimauern, betrieben wird. 26 Boote sind auf dem Kieshaufen registriert. Und Joy ist so etwas wie der Chef hier.
Er leitet den Fischmarkt am Hafenrand. Er steht der Hastings Fishermen’s Protection Society vor, dem Zusammenschluss der hiesigen Kollegen. Dazu repräsentiert er sie auch in der Organisation Nutfa, der New Under Ten Fishermen’s Association, die landesweit die Interessen derer vertritt, die in kleinen, weniger als zehn Meter langen Booten aufs Meer fahren. Drei von vier Fischerbooten in Großbritannien haben diese Größe, die meisten der 12000 britischen Fischer sind auf ihnen beschäftigt. Sie dürfen aber nur vier Prozent der Menge fangen, die den einheimischen Fischern insgesamt zugestanden wird.
Ein einziges Schiff dagegen, der 113 Meter lange niederländische, aber unter britischer Flagge fahrende Trawler „Cornelis Vrolijk“ fängt laut der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Jahr 2017 schon fast das Doppelte. Sieben Prozent der gesamten nationalen Fangquote holt das Schiff aus dem Meer.
Der Krieg um die Jakobsmuscheln
Die Konfliktlinien, die sich aus all dem ergeben – zwischen den Briten und der Rest-EU, zwischen Großfischern und den kleinen und der in London gemachten Politik – versucht Joy von seinem Büro aus, im Stockwerk über der kleinen Fischlagerhalle am Hafenrand zu überblicken.
Die Fischerei in der Europäischen Union ist ein unübersichtliches, oft auch bewusst unübersichtlich gemachtes Geschäft. Es findet, den meisten Blicken entzogen, weit draußen auf dem Meer und dort vor allem unter Wasser statt. Es ist erbarmungslos.
Auf Joys Bürotisch liegt ein Stapel einer Septemberausgabe der „Fishing News“. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautet, gedruckt in Großbuchstaben: „French attack scallopers“ – Franzosen greifen Muschelfischer an. „Ich habe Mitleid mit den Franzosen“, sagt Joy, „auf eine Art.“
Der Angriff, der an einem frühen Morgen Ende August vor der französischen Kanalküste stattfand, entwickelte sich zu einer Seeschlacht. Als fünf britische Schiffe, darunter die 30 Meter lange „Honeybourne III“, vor Frankreichs Zwölf-Meilen-Zone auftauchten, wurden sie bereits erwartet, von 40 kleinen Booten. Auf einem Video ist zu sehen, wie Signalraketen und Nebelbomben auf die britischen Schiffe niedergehen. Leute, die dabei gewesen sind, berichten von Brandsätzen. Am Ende durchbrechen die Briten die Blockade, die „Honeybourne III“ rammt eines der deutlich kleineren Boote. In der BBC war die Rede vom „Scallop war“, vom Krieg um die Jakobsmuscheln.
Die EU droht
Die Briten hatten nichts Verbotenes vor. Sie waren bloß rücksichtslos. Sie waren mit ihren großen Schiffen – die Fangvorrichtungen über den Meeresboden ziehen, die Eggen gleichen, mit denen Bauern ihre Felder aufkratzen – außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone unterwegs. Es gibt für sie kein Fangverbot für Jakobsmuscheln. Für Franzosen, so regelt es ein nationales Gesetz, indes schon, bis zum 1. Oktober müssen die Tiere von ihnen in Ruhe gelassen werden.
Der Muschelkrieg, es war die Eskalation genau dessen, was Fischer wie Paul Joy den Franzosen und anderen EU-Europäern vorwerfen: zu nah und zu viel an fremden Küsten zu fischen, auf Raubzug zu gehen auf Kosten der Tiere und der Einheimischen. Nur, dass es eben eine spiegelverkehrte Variante davon war, sich nicht vor ihren Ufern, sondern denen Frankreichs abspielte.
Der Muschelkrieg, der seit Jahren immer wieder aufflammt, könnte auch ein Vorbote sein, ein Verweis auf die Zeiten, die Joy so verzweifelt erwartet. Die, in denen die unübersichtlichen und ungerechten Fischfangregeln der Europäischen Union abgelöst werden von Regellosigkeit. Von durch nichts gebändigter Konkurrenz und dem möglichen Beharren auf alten Gewohnheiten. Was, wenn die Fischfangfabriken vom europäischen Festland nach einem „No deal“-Brexit dennoch in britische Hoheitsgewässer steuern oder hart an deren Rand? Wenn sie wandernde Fischarten dort fangen, bevor sie die britischen Wasser erreichen? Drohungen dieser Art, ausgesprochen von EU-Leuten, gibt es bereits.
„Das ist wie Busfahren“
Ein Kollege Paul Joys nimmt sie ernst. Er heißt Tony Delahunty, ist 64 Jahre alt, auch sein Sohn ist lieber Gärtner geworden, als den Vater zu beerben. Delahunty selbst war vor Weihnachten zum letzten Mal fischen, nach 42 Jahren. Das Boot ist verkauft, den Ford Transit, mit dem er seine Fänge zum Großhandel fuhr, den hat er noch.
Delahunty hat Phantomschmerzen oder Sehnsucht oder beides, er hat sich jedenfalls Fische gewissermaßen ins Haus geholt. In seinem Garten im Örtchen Selsey, gut 100 Kilometer westlich von Hastings gelegen, ist ein steingefasster Koi-Teich. Da draufzuschauen, „das beruhigt“, sagt er.
Ob er auch für den Brexit gestimmt habe? Das könne er nicht sagen, sagt er, er müsse da diskret sein. Er ist – so wie Joy – ja ebenfalls Chef eines Fischerverbandes. Delahunty kann nur sagen, dass er deshalb oft in London ist, in Brüssel und in Paris, und für die Reisen dorthin den Eurostar nimmt. Den Schnellzug, der unter dem Ärmelkanal hindurchfährt. Und er kann sagen, dass er diese Fahrten, das unmerkliche Grenzenüberwinden, das Unkomplizierte daran, sehr schätze. „Das ist wie Busfahren.“
Delahunty schätzt auch geordnete Verhältnisse. Im Frühjahr, als die britische Regierung gegenüber Brüssel kapitulierte und der EU eine eineinhalbjährige Übergangszeit nach dem Brexit zusagte, in der die Festlandsfischer weiter in britischen Gewässern unterwegs sein dürfen, hat er sich kurz aufgeregt. Weil die Regierung bis dahin das Gegenteil versprochen hatte. Heute sagt er, „wir brauchen diesen Übergang.“ Um die Zeit zu nutzen, um weiterzuverhandeln. Um neue Regeln zu finden, und wenn es geht, sich darauf zu einigen. Konkreter wird Delahunty nicht, aber er sagt das so, als wisse er schon, welche das sein könnten.
Eine Pfütze auf der Straße, 42 Tage Krankenhaus
800 Kilometer weiter nördlich, an Schottlands Westküste, lebt ein Mann, der seit dem Brexit-Referendum kaum etwas anderes tut, als die handelnden Politiker in seinem Land auf die Notwendigkeit solcher Regeln hinzuweisen, und darauf, dass sie vor dem 29. März 2019 feststehen sollten. Er tut es bislang vergeblich. Und er hat dafür bereits bezahlt.
Er heißt Alistair Sinclair, ist 64, seit 30 Jahren lebt er vor allem von den Krabben, Muscheln und Hummern hinter seinem Haus. Es steht im Dorf Furnace am Nordufer des Loch Fyne, einer dieser schmalen, von der Küste weit ins Land reichenden schottischen Meeresbuchten.
Auch Sinclair fischt nicht mehr, er lässt fischen. Er hat einen Skipper eingestellt, einen 21 Jahre alten Burschen, tüchtig sei der. „Trinkt nicht, nimmt keine Drogen.“ Im vorletzten Sommer hatte Sinclair auf dem Heimweg von Edinburgh, wo er wieder eine Verabredung mit einem Politiker hatte, einen Verkehrsunfall. Eine tiefe Pfütze auf der Straße, 42 Tage Krankenhaus, drei Tage danach wieder auf dem Boot. Rasch merkte Sinclair, das wird nichts mehr. „Ich bin nicht fit. Wenn ich ins Wasser falle, war’s das.“ Wenn es zum „No deal“-Brexit käme, dann auch.
Sinclair und die anderen Krebsfischer an Schottlands Westküste sind angewiesen auf einen möglichst raschen Transport der gefangenen Tiere. Sie bekommen gute Preise dafür, allerdings nur unter der Bedingung, dass die Krabben und Hummer die Großmärkte und Restaurants von Festlandeuropa fangfrisch und lebend erreichen. Das, was Sinclair aus seinen Fallen holt und bis ein Uhr mittags versandfertig macht, erreicht am nächsten Morgen in der Regel Frankreich, den Fährhafen von Boulogne-sur-Mer. Mittags sind die Tiere in Paris, bis nach Spanien und Kroatien werden sie geliefert.
Das System funktioniert, aber es ist fragil
Wenn sich diese Reise – wegen einer Zollabfertigung zum Beispiel, die nach einem „No deal“-Brexit unvermeidbar wäre – allerdings verlangsamt, ist Sinclairs Geschäftsmodell in Gefahr.
Er hat, wenn er nach Edinburgh oder London fährt, oft einen Brief seines Lieferanten dabei, der klarmacht: Es geht nicht darum, dass die Krebse eine ein, zwei Stunden längere Reise nicht überleben würden. Es geht darum, dass dieses Liefer- und Verteilsystem ziemlich ausgeklügelt ist. Es hat mehr als zwei Jahrzehnte Arbeit gemacht, bis es funktionierte. Es hat Lohn und Brot in die Gegend gebracht. Die Tiere müssen an der dünnbesiedelten schottischen Westküste eingesammelt, aufs Festland gefahren und dort dann wieder in acht Ländern verteilt werden. Das System funktioniert, aber es ist fragil. Es kann nur so funktionieren, wie es heute funktioniert.
Käme es zum „harten Brexit“, dann hätte Großbritannien seine Gewässer zurück. Davor kreuzte vielleicht eine EU-Armada und fischte alles leer. Oder die britischen Fischer – die heute den größten Teil ihres Fangs exportieren, aus diesem Land, das wiederum den größten Teil des hier gegessenen Fischs importiert – könnten diese Gewässer exklusiv nutzen und so viele Tiere aus ihnen herausholen wie wohl nie zuvor. Nur verkaufen könnten sie sie nicht.
Torsten Hampel