Ein Jahr vor dem Brexit: Warum ich für den Brexit gestimmt habe
In einem Jahr verlässt Großbritannien die EU. Unser Autor, der britische Journalist Roger Boyes, kann es kaum erwarten. Warum er dafür gestimmt hat. Ein Essay.
Ein eiskalter Wind fegt durch Margate. Der Dichter T. S. Eliot kam 1921 nach einem Nervenzusammenbruch in den Badeort, um sein dichtes episches Gedicht „Das öde Land“ zu schreiben. Das meiste davon kritzelte er in ein Notizbuch, während er Schutz suchte in einem der Strandpavillons an der Promenade. Das Epos handelt von der Fragmentierung des Lebens nach dem Ersten Weltkrieg, diesem Gefühl, dass die Welt auseinanderbricht. „April ist der übelste Monat von allen“, schrieb er und meinte damit, dass Veränderungen von Übel sind, genauso unvorhersehbar und unbeständig wie der Wechsel der Jahreszeiten.
Jetzt haben wir den März 2018 in Margate. Es ist noch genau ein Jahr Zeit, bevor die Briten die Europäische Union verlassen; die ganze Nation ist zerstritten, zersplittert oder benebelt. Auf Eliots Bank liegt ein Obdachloser, der Schlafsack in Khaki kennzeichnet ihn als Kriegsveteranen. Ich widerstehe der Versuchung, mir die Geschichte seines harten Schicksals anzuhören, und pflüge weiter meines Weges entlang des Sandstrandes, stemme mich dem Sturm entgegen, an den Amüsierarkaden vorbei, dem wiederaufgebauten „Dreamland“-Jahrmarkt, vorbei auch an einem Club, der mit einer Bee-Gees-Coverband wirbt, lasse einen verschlossenen Burgerladen und die Bude eines Wahrsagers hinter mir, gehe den Marine Drive hoch und betrete ein gut geheiztes Fischrestaurant, The Buoy and Oyster. Nach mehr als einer Meile auf meinem Samstagsmorgenmarsch ist es der erste Laden, der geöffnet, voll besetzt und einladend ist.
Ein Jahr vor dem Brexit ist die ganz Großbritannien zerstritten, zersplittert, benebelt
„Das ist ja wie in den verdammten Siebzigern da draußen“, sage ich, aber die Kellnerin versteht es nicht. Später kommt der Eigentümer Simon Morriss an meinen Tisch. Als Koch hat er schon in Frankreich, Italien und Österreich gearbeitet. Und er ist erst 30. Ich hatte mit 30 noch Pickel; er hat ein Restaurant am Strand, das sogar an einem Tag, an dem der Wind draußen pfeift, voll ist.
Es gibt zwei Margates. Das erste besteht aus missgünstigen Patrioten, örtlichen Chauvinisten, die sich wehmütig zurücksehnen in eine Ära, als Margate zu den Lieblingsurlaubsorten der Briten gehörte: Es gab Strände, Eselreiten und die Wintergärten, in denen Stars auftraten. Dann kam der Pauschaltourismus nach Spanien und Margate versäumte es, sich neu zu erfinden. Die großen Appartmenthäuser im Stadtteil Cliftonville, hoch oben an der Steilküste mit Blick aufs Meer, waren einst im Sommer bis zum Brechen voll. In den Achtzigern verkamen sie zu leeren Ruinen. Als Tony Blair regierte, wurden in ihnen Flüchtlinge und Einwanderer geparkt: Um sicherzustellen, dass in den Großstädten keine Ghettos entstanden, wurden Gemeinden mit hohem Immobilienleerstand ermutigt, Asylbewerber aufzunehmen.
„Sie hängen rum, machen einen Höllenlärm, machen ihre Geschäfte und stieren den Frauen hinterher“, sagt Maise, die mit ihrem Hund Gassi geht und eine Zigarette raucht. „Sie leben von Sozialleistungen, bezahlt von unseren Steuern, und unsere jungen Leute bekommen keine Chance.“ Eingewickelt in einen Schal, lässt sich ihr Alter schwer einschätzen. Sie sagt, sie sei „Anfang 60“. Maisie zeigt auf die andere Straßenseite. „Sie sind der Grund dafür, dass hier jeder für den Brexit gestimmt hat.“ Ich kann niemanden sehen. Nur Maisie, der Hund und ich sind hier. Die Flüchtlinge rauchen ihre Zigaretten wohl drinnen.
In Südengland mussten viele Gemeinden ihrem eigenen Niedergang zusehen. Dann kamen die Asylbewerber
Sie hat aber einen Punkt. Nicht nur in Margate, sondern auch in Ramsgate – wo Karl Marx seinen Urlaub verbrachte –, in Broadstairs und in dem breiten Küstenstreifen in Kent und Essex haben die Wähler ihre Stimme dem UKIP-Clown Nigel Farage gegeben. Sie wollten die eigene Irrelevanz nicht akzeptieren, die Art und Weise, wie sie zur Seite gespült wurden von dem, was die meisten Leute bloß als gutartige Effekte der Globalisierung ansehen. Sie haben den Abstieg ihrer Gemeinden mitansehen müssen, ausgelöst durch Billigflieger und neue, sonnigere Urlaubsziele. Und sie sind wütend, dass sie zur Abladestelle für Ausländer geworden sind.
„Ich sehe kein Problem in Cliftonville“, sagt der Restaurantbesitzer Simon. Das liegt daran, dass er für das neue Margate steht. „Nadine und ich haben uns direkt in den Ausblick verliebt“, sagt er. Sechs Monate vor der Brexit-Abstimmung übernahm er das zweistöckige Restaurant von einem Ehepaar aus Litauen. Die hatten unten einen Supermarkt und oben ein Café mit osteuropäischen Spezialitäten. Wir essen Krabben, Austern, wilden Heilbutt, alles bezogen von den Fischern vor Ort. Das Gemüse kommt vom Bauern aus der Region. Kent ist auch bekannt als der Garten Englands. Hier wächst alles.
„Niemand in unserem Geschäft, weder wir in der Gastronomie und im Tourismus noch unsere Lieferanten, können auf Dauer mit der Unsicherheit leben“, sagt Simon über die zähen Brexit-Verhandlungen. Die Fischer favorisieren den Ausstieg aus der EU. Sie sind schon lange überzeugt, dass ihre Gewässer unter Überfischung durch die europäische Konkurrenz leiden. Ihre wirtschaftliche Bedeutung ist marginal, ihr politischer Einfluss dagegen riesig: Theresa Mays dünne Mehrheit im Unterhaus hängt von einigen konservativen Politikern ab, die in schottischen Hafenstädten gewählt wurden, sowie einigen Unionisten in Nordirland, die schon lange fordern, dass Großbritannien die Kontrolle über seine Gewässer ausweiten sollte. Enttäuscht May die Fischer, verliert sie ihre Macht.
Die Mitgliedschaft in der EU wurde in Großbritannien zur Generalausrede für jedes politische Versagen
Die Bauern sehen das etwas differenzierter. Sie haben von EU-Subventionen stark profitiert. Die Regierung ermutigt sie jetzt dazu, intensiver über ihre Aufgabe nachzudenken. Wenn sie einen Teil ihrer Arbeit nicht nur dem Bioanbau widmeten, sondern auch der Erhaltung der Landschaft und der Artenvielfalt, dann würde London sie mit ähnlich üppigen Subventionen und Krediten unterstützen wie bisher die EU. Das verspricht zumindest Michael Gove, der Brexit-Ideologe und amtierende Landwirtschafts- und Umweltminister. Die Bauern sind in zwei Lager aufgeteilt, in diejenigen, die in Gove, so wie in all seinen Vorgängern, jemanden sehen, den man hinters Licht führen kann, und die anderen, die frustriert sind von der Drosselung der wettbewerbsfähigen britischen Landwirtschaft durch die EU. Egal welcher Gruppe sie angehören, es herrscht eine Art unguter Waffenstillstand mit der Regierung.
Auch die Dienstleistungsbranche macht sich Sorgen: dass sie ihr Personal aus anderen EU-Ländern verliert, dass Kunden nervös werden und weniger Geld ausgeben, dass ein schwaches Pfund die Inflation treibt und dann die Zinsen steigen, Großbritannien vor einer Schuldenkrise steht, sich die Europäer woanders wohler fühlen werden und sich die Briten am Ende nur um sich selbst drehen.
Die Spaltung zwischen dem nervös nach vorne schauenden Margate und dem nervös missgünstigen Margate steht stellvertretend für die politische Lage in Großbritannien. In Margate hoffen Optimisten wie Simon auf einen Imagewandel der Stadt: Ein Hochgeschwindigkeitszug bringt wohlhabende Londoner in 90 Minuten an die Küste. Ein von David Chipperfield entworfenes Museum feiert William Turner, einen der bekanntesten britischen Landschaftsmaler.
Lesen Sie auf der zweiten Seite: Warum Großbritannien den Brexit braucht - und ich dafür gestimmt habe
Für den britischen Autor David Goodhart verläuft die eigentliche Grenze zwischen den Überalls – global denkenden Metropolenbewohnern, die denken, das Konzept des Fortschritts gehöre ihnen – und den Irgendwos, die sich an ihrer Scholle festklammern. Die Überalls haben einige der Reibungsverluste einer EU-Mitgliedschaft zwar erkannt, waren aber mit dem Status quo weitgehend zufrieden. Die Irgendwos sahen dagegen in den regierenden Eliten irgendwann nur noch Handlanger aus Brüssel, die ihnen Regeln aufzwangen. Das Ergebnis des Referendums war 48 Prozent für die Überalls; 52 Prozent für die Irgendwos. Diejenigen, die in der EU bleiben wollen, agieren seitdem wie Widerstandskämpfer und sind überzeugt, dass im Falle einer zweiten Abstimmung das Land wieder auf Linie gebracht würde. Mein Eindruck, nicht nur aus Margate, sondern auch aus Cornwall und dem Nordosten – eigentlich von überall außerhalb der Londoner Blase –, ist der, dass auch bei einem zweiten Votum die EU-Gegner vorne lägen. Denn entweder wird Brüssel versuchen, die Briten in den Brexitverhandlungen zu bestrafen, wodurch sich dessen Befürworter in ihren Vorurteilen bestätigt sähen. Oder es gibt einen vernünftigen Kompromiss und die Briten werden sich dann selbst davon überzeugen, dass eine sonnige Zukunft vor ihnen liegt, die irgendwie zumindest vage an die ruhmreiche Vergangenheit erinnert.
Es wird eine Fallstudie in kognitiver Dissonanz und diesen Moment kann ich kaum erwarten. Ich habe selbst für den Austritt gestimmt. Als ich meinen Kollegen dies mitteilte, erntete ich Blicke, als hätte ich zu viele Drogen genommen oder mich bei der Fremdenlegion gemeldet. Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit und meine gesamte berufliche Karriere in Europa verbracht: Ich hatte meine Klasse und meine Kaste betrogen. Aber für mich gab es immer auch einen anderen Strang von Brexitbefürwortern, leider angeführt von dem Buster-Keaton-artigen Boris Johnson. Die Argumentation dieses Strangs geht so: Großbritannien braucht einen Tritt in den Hintern. Das Land ist in den vergangenen Jahrzehnten faul geworden, es hinkt in der Produktivität hinterher. Es verfügt über Universitäten und Forscher von Weltniveau, aber es mangelt an Innovationen. Funktioniert etwas nicht, ist Brüssel schuld. Die EU-Mitgliedschaft ist zu einer Entschuldigung für alles geworden.
Die Briten waren dabei, ihr Selbstverständnis als Seefahrernation und ihren Sinn für das Unternehmertum zu verlieren
Das wurde mir klar, als ich nach vielen Jahren in Deutschland nach Großbritannien zurückkehrte. Die Briten waren dabei, ihr Selbstverständnis als Seefahrernation und ihren Sinn für das Unternehmertum zu verlieren. Der britische Gesellschaftsvertrag muss neu geschrieben werden, eine neue Übereinstimmung gefunden werden. Großbritannien benötigte den Stromschlag des Brexit. Deswegen habe ich für den Austritt gestimmt und halte es unter diesen Voraussetzungen auch noch immer für die richtige Entscheidung.
Damit Großbritannien sich in der Welt neu positionieren kann, müssen zwei Dinge passieren. Erstens muss anerkannt werden, dass die Masseneinwanderung nach Europa die Bedingungen verändert hat, unter denen hier Politik gemacht wird. Ivan Krastev, der bulgarische Politologe, hat dies in seinem Buch „Europadämmerung“ überzeugend dargelegt: „Was wir in Europa erleben, ist nicht einfach nur ein populistischer Aufstand gegen das Establishment, sondern eine Rebellion der Wähler gegen die leistungsorientierten Eliten, am besten verkörpert von den hart arbeitenden, kompetenten Beamten in Brüssel, die aber trotzdem den Kontakt zu den Bürgern verloren haben, die sie vertreten und denen sie dienen sollen.“
Das Gefühl, dass sich Europas Außengrenzen auflösen, hat das Brexit-Referendum massiv beeinflusst. Diese Gefühl rührt aus einer ehrlich empfundenen Angst, nicht aus einer von Farage und anderen Populisten durch Lügen geschürten Furcht. Trotzdem haben die Populisten bei den Wählern einen wunden Punkt getroffen, weil es tatsächlich eine Konfusion darüber gibt, in welche Richtung Großbritannien unterwegs ist und wie es zu seiner multikulturellen Identität steht.
Großbritannien braucht den Brexit
Man muss nicht zu den illiberalen Anhängern von Viktor Orban gehören und auch keine Fan der AfD sein, um zu sehen, dass uneingeschränkte Zuwanderung soziales Unbehagen verursacht. Es macht ohnehin verunsicherte Menschen nervös, verstärkt ihr Verlangen, sich von der Welt abzukapseln. Dieses Problem konnte die Abstimmung über den Brexit aber ohnehin nie lösen. Im Gegenteil werden die Spannungen eher noch zunehmen. Solange die Wirtschaft wächst, werden ausländische Mitarbeiter als Gleichgestellte am Arbeitsmarkt akzeptiert. Sie werden zu einer Bedrohung, sobald das Wachstum stagniert. Das wird in den Jahren nach dem Brexit aber unvermeidlich der Fall sein.
Die Herausforderung für die politische Klasse besteht darin, die beiden unterschiedlichen Themen Brexit und Einwanderung klar voneinander abzugrenzen. Die Politik muss beim Thema Integration klar formulieren, was sie von den Bürgern erwartet, und neue Ideen entwickeln, wie unterschiedliche Kulturen in einem Nationalstaat gemeinsam funktionieren können. Die Debatte zum Brexit muss befreit werden von jeglichem Verdacht der Fremdenfeindlichkeit. Der Brexit wird nicht die Identitätskrise dieses Landes lösen können. Diese kann nur bewältigt werden durch eine politische Klasse, die Klartext spricht, die in der Lage ist, Prioritäten zu setzen und die Debatte voranzutreiben.
Wenn wir die EU verlassen, muss sich Großbritannien zweitens einer institutionellen Revolution unterziehen, an deren Ende ein System steht, das mehr Menschen in den demokratischen Prozess einbezieht. Die Brexit-Kampagne hat ein Licht geworfen auf die Mittelmäßigkeit der regierenden Eliten, die eigentlich spätestens seit der Finanzkrise 2009 schon für jeden hätte erkennbar sein müssen. Sobald wir endgültig raus sind aus der EU, müssen wir folgende Fragen beantworten: Wo stehen wir in der Welt? Nicht nur: Wie können wir außerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes prosperieren? Wie leben wir die europäischen Werte weiter? Wie definieren wir unsere globalen Aufgaben? Wenn wir mit dieser Debatte nicht schnell beginnen, werden die Populisten in diese Lücken vorstoßen.
Und darin liegt die eigentliche Herausforderung weit über Großbritannien hinaus: Denn all diese dunklen Strömungen, die unterhalb der Oberfläche in Großbritannien brodeln, die fließen auch durch Deutschland und den Rest Europas.
Roger Boyes ist ein britischer Journalist und Buchautor. Von 1993 bis 2010 berichtete er als Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“ aus Deutschland. In dieser Zeit schrieb er auch eine Kolumne für den Tagesspiegel.