Verhandlungen nach dem Brexit: Die EU muss dafür sorgen, dass Großbritannien kein Dumping-Paradies wird
Die EU und Großbritannien brauchen nach dem Brexit einen Neustart und keine Trauerarbeit. Aber im Notfall muss sich Brüssel auch wehren. Ein Kommentar.
Franziska Brantner ist Parlamentarische Geschäftsführerin und Sprecherin für Europapolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Es reicht jetzt mit der Trauer. Großbritannien hat die EU verlassen, bleibt aber in Europa. Unsere Kinder werden weiterhin zunächst von London und nicht von Paris träumen – weil sie zuerst Englisch lernen. Keine italienische oder spanische Fernsehserie ist bei uns derzeit so populär wie „The Crown“ über Königin Elisabeth II. An alldem ändert der Brexit nichts.
Genauso wenig muss er unser gemeinsames politisches Fundament, die liberale Demokratie, erschüttern. Für uns Deutsche gibt es keinen Grund, am demokratischen Vorbild Großbritanniens zu zweifeln. Dafür ist die Demokratiegeschichte des Inselreichs zu alt und zu erfolgreich - im Gegensatz zur unsrigen.
Dem Brexit darf keine Trauerarbeit, sondern muss der Wille zum Neuaufbruch folgen. Unsere Herausforderungen sind die gleichen: Wie können wir eine CO2-freie Wirtschaft aufbauen, die Gräben zwischen Stadt und Land schließen und den sozialen Aufstieg für alle ermöglichen? Die Zweifel daran, dass dies möglich ist, trieben die Briten in den Brexit. Sie nähren heute überall in Europa Populismus und Nationalismus. Diese Zweifel auszuräumen, das ist Europas große Zukunftsaufgabe, die nicht an EU-Grenzen halt machen darf.
Für die EU und Großbritannien gibt es deshalb keine Pause, kein Zurücklehnen: Wir brauchen weiterhin enge Beziehungen: beim Ausbau der Energienetze, bei Innovationen und Forschung fürs Klima, bei der digitalen Souveränität, bei einer europäischen Außen- und Verteidigungspolitik. Der Weg in die Zukunft fordert zum Beispiel den Aufbau gemeinsamer Energienetze für erneuerbare Energien.
Großbritannien und Frankreich bauen heute in Hinkley Point ein neues Atomkraftwerk. Lasst uns stattdessen lieber gemeinsam in nachhaltige Technologie investieren. Wenn der britische Premier Boris Johnson dem chinesischen Technologiekonzern Huawei weiter Zugang zum britischen Telekom-Markt gewährt, zeugt dies nicht von zurückgewonnener Kontrolle, sondern von Abhängigkeit von China.
Für mehr digitale Souveränität in Europa brauchen wir daher gemeinsame Forschungs- und Investitionsprogramme für 5G und 6G. Das gleiche gilt für die europäische Verteidigungspolitik, ohne stärkeres britisches Engagement ist die geplante Vertiefung schwieriger vorstellbar.
Alleingang der EU darf kein Racheakt sein
Damit sollen die künftigen Sollbruchstellen, die der Brexit mit sich bringt, nicht unterschlagen werden. Die Regeln der EU beruhen auf Wechselseitigkeit und Fairness. Das darf sich nach dem Brexit nicht ändern. Wenn Johnson sein Inselreich zum Paradies für chinesische Monopolunternehmen, für Sozial- und Ökodumping machen will, dann muss sich die EU wehren.
Sollte sich Großbritanien als zukünftiges Steuerparadies sehen, wäre dies das Ende gemeinsamer Pläne für ein grünes, klimaverträgliches Wachstum. Dann muss die EU tatsächlich im Alleingang weitermachen. Das wäre dann aber kein Racheakt für den Brexit, sondern ein notwendiger Schritt zur Erreichung des historischen Ziels einer CO2-freien Wirtschaft.
Die Verhandlungen zwischen Brüssel und London über ein neues Handelsabkommen werden also kein leichtes Spiel. Nur wenn beide Seiten nicht auf kurzfristige Ziele setzen - mehr Fischrechte hier, niedrige Umweltstandards dort -, sondern auf das langfristige Ziel klimaverträglichen und sozialen Wirtschaftens, das die liberalen Demokratien stärkt, kann das Abkommen am Jahresende Fort- statt Rückschritte bewirken. Auch beim Datenschutz gibt es keinen Weg zurück hinter die neue europäische Datenschutzverordnung. Hoffen wir, dass der britische Premier dies bei seiner Entscheidung für Huawei nicht vergessen hat.
Der Premier wird nun zeigen müssen, wofür er steht: Für die große, liberale und demokratische Tradition seines Landes oder doch eher für den Opportunismus der historischen Stunde, der ihn an die Macht gespült hat. Aufgabe der nun 27 Mitgliedsstaaten der EU ist es, ihm bei der Antwort darauf keine Wahl zu lassen. Aber es gibt keinen Grund zum Verzweifeln: Leicht war es noch nie mit den Briten, am Ende aber standen sie meistens auf der richtigen Seite.
Franziska Brantner