Brexit beflügelt Schottlands Nationalisten: Wie der EU-Austritt Großbritannien auseinandertreibt
Sie waren die Gründungsländer Großbritanniens: Nun stärkt der Brexit Schottlands Separatisten im Kampf gegen die Union mit England. Ein Ortsbesuch in Edinburgh.
Am frühen Samstagabend der vergangenen Woche sitzt Peter Niemczyk Kassenzettel entgegennehmend im Keller eines Edinburgher Hauses, fünf Meter neben dem Ort, an dem mehr als 300 Jahre zuvor das ganze derzeitige Unglück des Vereinigten Königreichs besiegelt worden sein soll.
Es ist die Woche, an deren Anfang erst das nordirische und in der Dienstagnacht das walisische Parlament dem schottischen gefolgt sind und das letzte und endgültige großbritische Brexitgesetz abgelehnt haben.
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Die Uhr geht auf sechs, es ist Schichtwechsel. Die Kellner kommen mit ihren Brieftaschen runter ins Büro, studieren die an die Wand gepinnten Dienstpläne. Gehen wieder, kommen umgezogen zurück und verabschieden sich.
Peter Niemczyk wird an diesem Abend noch Rechnungen kontrollieren, Gäste an der Tür begrüßen und ihnen einen Platz zuweisen. Er wird am Telefon Tischreservierungen und Außerhausbestellungen annehmen, Banksachen erledigen. Zwischendurch wird Niemczyk sagen, „Schottland ist das offenste Land, das ich kenne.“
Der letzte Samstag, den Großbritannien in der EU verbringt
Er wird kellnern, und kurz nach elf, nach Küchenschluss, zumachen. Und dann zufrieden feststellen, dass sein Team an diesem Tag mehr als 450 Mal die Tische mit Mahlzeiten beladen haben wird, davon allein mit jeweils Hunderten Portionen Pizza Margherita, Spaghetti Gamberoni und Tiramisu. Es ist der letzte Samstag, den Großbritannien in der Europäischen Union verbringen wird. Am nächsten, dem 1. Februar, ist das Geschichte.
Niemczyk führt ein Restaurant der „Bella Italia“-Kette, es ist gelegen im historischen Zentrum der Stadt an der Ecke North Bridge und High Street, an jener Achse, die sie hier die Royal Mile nennen und die vom ganzen Stolz der schottischen Nation auf sich selbst spricht.
Am oberen Ende steht ein Königsschloss, Maria Stuart wohnte hier. Am unteren haben sie den Sitz des neuen, erst seit 1999 wieder tagenden schottischen Parlaments hingebaut. Dazwischen St Giles’ Cathedral, die Hauptkirche der Church of Scotland.
Und es steht hier das Gebäude, in dem Schottlands vorhergehendes Parlament bis 1707 zusammenkam. Bis etliche seiner Abgeordneten im Keller unter der „Bella Italia“-Filiale, neben dem Büro, in dem Niemczyk sitzt, den „Act of Union“ unterschrieben haben sollen. Den Vertrag über die Vereinigung mit England – und sich damit selbst abschafften. Neun von zehn der Gäste Niemczyks sind Touristen.
Glogow, Lübeck, Edinburgh
Er ist vor 37 Jahren im niederschlesischen Glogow zur Welt gekommen und in Lübeck aufgewachsen. Ging zurück nach Polen, dort zur Armee und in eine Mechanikerlehre. Seit 2005 lebt er in Edinburgh, studierte Betriebswirtschaft und Tourismus. Er lebte auch mal zwischendurch in der italienischen Schweiz.
Die über Niemczyks linke Brust gestochene Tinte zeigt die Umrisse Polens, ausgefüllt mit der sardischen Flagge. Da war er auch einmal. Und in Schottland, sagt Niemczyk, wird er bleiben.
Trotzdem begrüßt er, was Freitagmitternacht passieren wird. Niemczyk ist Brexitbefürworter. Er vertritt in Schottland damit eine Minderheitsmeinung. Er sagt, er habe Gefallen am Gedanken der Unabhängigkeit eines Landes von anderen, auch wenn es so ein kleines, Beistand bedürfendes sei wie dieses hier mit seinen fünfeinhalb Millionen Bewohnern.
Den Gedanken an sich wiederum befürwortet in Schottland offenbar eine Mehrheit. Sie meint damit aber die Unabhängigkeit von der anderen Union, dem United Kingdom. Sie meint das Loslösen von England. Bei einem entsprechenden Referendum im Jahr 2014 stimmte diese Mehrheit noch dafür, zusammenzubleiben. Niemczyk, der als Pole und damit EU-Einwanderer in Schottland auf Landesebene Wahlrecht hat, stimmte damals schon dagegen.
Die Europäische Union als Projekt der Schwäche
„Was bedeutet das, eine Union?“, sagt Niemczyk. Man komme zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. „Aber wir sind verschieden. Am Ende des Tages sind wir verschieden.“ Umso mehr, wenn so eine Union aus so vielen Ländern wie die EU, aus einem halben Kontinent bestehe.
Vor zehn Uhr vormittags darf in Schottland kein Alkohol verkauft werden, außerdem hat er einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestpreis. „In Polen bekommst du den den ganzen Tag.“ In Deutschland darfst du auf vielen Autobahnen so schnell fahren wie du kannst und willst. „Hier maximal 112 Stundenkilometer“, 70 Meilen die Stunde. In den Niederlanden darfst du ungestraft Cannabis rauchen, hier nicht. Auf Sardinien machen sie einen Käse aus Maden. Den wiederum die EU verboten hat, was auf Sardinien wiederum niemanden schert.
Das ist die Sicht eines Mannes, der viel von Europa gesehen hat und eine Union für ein Projekt der Schwäche hält. Schwächer als jede einzelne der Nationen, aus denen sie besteht.
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Völlig anders sieht das ein Mann, der am Tag zuvor fünf Kilometer nördlich eine seiner beiden wöchentlichen Bürgersprechstunden abhält. Er sitzt übermüdet und im leuchtend blauen Anzug im „Inchmickery Meeting Room“, einem der allesamt nach Inseln vor Edinburgh benannten, kahlen Sitzungsräume des Royston/Wardieburn Community Centre. Draußen vorm Fenster fängt der Stechginster an zu blühen. Eine Viertelstunde Fußweg weiter ist das Meer.
Er heißt Ben Macpherson, ist Abgeordneter des schottischen Parlaments, und hier ist „Edinburgh Northern and Leith“, sein Wahlkreis. Es ist ein Wahlkreis, in dem 78 Prozent derjenigen, die am Brexitreferendum teilnahmen, für die EU gestimmt haben. Ben Macpherson ist Schottlands Europaminister.
Er weiß, dass Nationen wie seine erst stark werden durch eine Union. Er weiß, dass Peter Niemczyk einer von nahezu einer Million Einwanderern aus Polen in Großbritannien ist und einer der 237 000 aus der EU in Schottland, Macphersons Land und seine Regierung sind angewiesen auf sie. „Die arbeiten hier vor allem im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern“, sagt er.
„Brexitbefürworter denken an einfache Dinge“
Während diensteifrige englische Behörden schon damit angefangen haben, Einwanderern das Leben schwer zu machen, ihnen ihre Aufenthaltstitel nicht mehr verlängern, tun sie dies hier in Schottland nicht. Sie sagen, sie haben es auch nicht vor.
„Brexitbefürworter denken in Waren, in Gütern“, sagt er. „Aber auf altmodische Weise, an einen Anzug beispielsweise.“ Sie denken an einfache Dinge, an Waren, die man herstellen kann, ohne vielleicht einen einzigen Rohstoff dafür importieren zu müssen und die deshalb nicht auf einen möglichst reibungslosen Handel mit dem Ausland angewiesen sind. „Sie denken nicht an so etwas wie ein Telefon.“
Dinge wie Telefone könnten nie entstehen und auch nie ihren Zweck erfüllen, wenn Länder nicht auf die eine oder andere Weise offen füreinander wären. Beim Tauschen von Fachleuten und Bodenschätzen. Von Werkzeugen und Einzelteilen und Wissen. Beim Regeln, wer wie und für wie viel Geld über welche Ländergrenzen hinweg so ein Telefon überhaupt benutzen kann.
Macpherson sagt das alles sehr leise, im Grunde müsste ihn das Thema wütend machen. Das „konstante Ignorieren der schottischen Abgeordneten im Londoner Parlament“. Die „ungleiche Union mit England“. Zwei Tage zuvor stand auf der Titelseite der Zeitung „The National“ – „The newspaper that supports an independent Scotland“ – nahezu nur ein fett gedruckter Satz.
Es war der Tag, nachdem das walisische Parlament das Brexitgesetz abgelehnt und die britische Regierung bereits angekündigt hatte, die Entscheidung auch dieser Volksvertretung zu ignorieren. „So viel zu einer gleichberechtigten Nationenfamilie!“
Hinsetzen und warten
Obwohl er sich mit kaum etwas anderem beschäftigt, gerade war er wieder drei Tage lang in Brüssel, weiß auch Macpherson nicht, wie es nach dem 31. Januar weitergehen wird. Er weiß, dass dann die Verhandlungsphase mit der EU beginnt. Das Ersetzen der alten Selbstverständlichkeiten durch neue Einzelregeln über so viele Dinge wie möglich, die zwischen Nationen geklärt sein sollten. Der Handel, das Reisen, Umweltschutz, Versicherungsfragen. Macpherson sagt, „wir werden sehen, welche Effekte das haben wird.“ Abgeordnetenkollegen, die nicht wie er mit Regierungsdingen befasst sind, werden deutlicher. Einer sagt: „Wir haben keine Ahnung, was nach dem Brexit passieren wird. Wir können uns nur hinsetzen und warten.“
Lebensläufe wie der Niemczyks – der deutsche Pole, der sich in Schottland niederließ –, werden ab Februar nicht mehr so einfach möglich sein. Geschäftsmodelle wie der Betrieb eines Touristenlokals auf einem der teuersten Grundstücke der schottischen Hauptstadt vielleicht auch nicht. Sechs der zehn Länder, aus denen im Jahr 2018 die meisten Besucher nach Schottland kamen, gehören zur EU. Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande und Schweden.
Am Freitag, dem 31. Januar um Mitternacht endet aber auch die quälende Zwischenzeit, die mit dem Brexitreferendum 2016 begann, bei dem 62 Prozent der abstimmenden Schotten sich für ein Verbleiben in der EU entschieden. Und es enden die noch einmal demütigenderen Wochen seit dem 12. Dezember des vergangenen Jahres.
Das war der Tag der von Boris Johnson beantragten Parlamentswahl, die seiner Conservative Party die absolute Mehrheit einbrachte – und der in Schottland regierenden Scottish National Party einen fast noch überwältigenderen Erfolg. 48 der insgesamt 650 Parlamentssitze gingen an sie. 48 der 59, die dem Landesteil im Londoner Unterhaus überhaupt zustehen.
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Das Ergebnis wirkt, als sei ein Wahlvolk, getrieben durch den Brexit, noch einmal entschiedener in seinem Bestreben nach nationaler Unabhängigkeit geworden. Als sei das über Jahrzehnte gewachsene Unbehagen, in dieser Union nicht Gleicher unter Gleichen zu sein, nun unerträglich geworden.
Die Nationalisten wollen raus aus der Union mit England, sie wollen ein unabhängiges Schottland und drinbleiben in der EU. Noch vor Freitag, so hat sie es in der vergangenen Woche angekündigt, will die Regierungschefin Nicola Sturgeon bekannt geben, wie sie sich den Weg dorthin vorstellt. Es soll und muss dafür zwingend eine zweite Volksbefragung geben. Die entsprechende Forderung aus Edinburgh danach, dem schottischen Parlament die dafür nötigen Befugnisse zu übertragen, hat Boris Johnson aber Mitte Januar schon verweigert.
Im Lübecker Stadtarchiv liegt ein Brief von Braveheart
Schottlands Regierung weiß auch bis heute nicht, so sagt es der damit befasste Minister für Verfassungsfragen, wie sie an den elfmonatigen Verhandlungen mit der EU beteiligt sein wird, die nach dem Brexit anstehen und bei denen alle nötigen Vereinbarungen einer künftigen Zusammenarbeit geklärt werden sollen. Die schottische Regierung wisse nicht einmal, ob die britische sie überhaupt dabei sein lassen wird. Früher sind Schotten wegen eines solchen Umgangs mit ihnen gefährlich geworden.
Peter Niemczyk erzählt eine Geschichte. Auf seinem Handy hat er das Foto eines Briefes gespeichert, einer auf Latein geschriebenen Einladung, sie stammt aus dem Jahr 1297. Verwahrt wird sie im Lübecker Stadtarchiv, abgeschickt hat sie William Wallace, der sich darin vorstellt als „Führer der Armee des Königreichs Schottland und des Gemeinwesens dieses Königreichs“.
Er grüßt die Bürgermeister Lübecks und Hamburgs, dankt ihnen, dass dem Land von dort so viel Vertrauen bei Geschäftsbeziehungen entgegengebracht wurde, obwohl es das gar nicht verdiene. Er bittet sie, den Handeltreibenden beider Städte mitzuteilen, dass sie wieder sicheren Zugang zu allen schottischen Häfen haben werden.
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William Wallace war ein Krieger. „Braveheart“ wurde er genannt. Einen Monat, bevor er den Brief nach Lübeck schickte, warf er die im Jahr zuvor eingefallenen Engländer im Ersten Schottischen Unabhängigkeitskrieg aus dem Land.
Niemczyk, der irgendwann in seiner Jugend von der Existenz des Briefes erfahren haben muss, hat sich dann Folgendes gedacht, sagt er: Lübeck war einmal eine Handelsstadt, das nahe gelegene Hamburg ist immer noch eine, welche Städte mag es wohl in Schottland geben? Da gibt es Edinburgh. Edinburgh, Hamburg. Burg, Burg. „Es hat sich genau gleich angefühlt“, sagt er. Das sei der Moment gewesen, in dem sein Entschluss zum Auswandern gefasst war. Ohne je hier gewesen zu sein.
„Große nationale Tragödie“
Niemczyk geht rauf ins Lokal. Aber vorher muss er an der Tür zur Damentoilette vorbei.
Hier soll sich im Jahr 1707 das letzte Kapitel der Vereinigung Englands mit Großbritannien abgespielt haben. Die in einem rasch und diskret angemieteten Keller im Schutz der Dunkelheit geleisteten Unterschriften unter dem „Act of Union“. Oder zumindest einige davon.
Nichts daran ist bewiesen, Dokumente, die das belegen, existieren nicht. Die Geschichte geht vor allem zurück auf die Schriften zweier Edinburgher Chronisten, die sie beide aber auch nicht bezeugen können. Sie sind erst im Jahrhundert danach geboren worden.
Einer beschrieb den Vorgang als „große nationale Tragödie“. Eine Tragödie, die kaum jemand habe herbeiführen wollen, und wenn, dann aus den niedersten Gründen. Einige der Unterzeichnenden sollen englisches Geld dafür bekommen haben. Und so kam es, steht in der Chronik, dass die „gemeinsame Geschichte, dass die Union von Schottland und England getragen wurde von übelster Bestechung und Korruption“. Oben auf der High Street randalierte das Volk.