Legendärer Forschungsreisender: Prinz zu Wied: Vorbild für Old Shatterhand?
Vom Rhein an den Missouri: Mit Hofjäger und Zeichner zog Maximilian zu Wied durch den Wilden Westen. Wie viel von seinen Erlebnissen steckt in Karl Mays Geschichten?
Karl May wäre aufgeschmissen gewesen ohne ihn. Der Schriftsteller, der bekanntlich nie im Wilden Westen war, vertiefte sich in der Königlichen Bibliothek Dresden in das Werk von Maximilian zu Wied-Neuwied. In den Expeditionsberichten und detaillierten Bildern fand er den ganzen Schatz Amerikas: Pflanzen, Tiere, die Ureinwohner und deren Gepflogenheiten. May, der Generationen von Lesern mit seinen Indianergeschichten fesseln sollte, ließ sich davon inspirieren. Zu Wieds Erlebnisse dienten ihm als Vorlage – bis hin zu einzelnen Figuren und Szenen.
Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied ist heute weitgehend vergessen. Dabei gehört er zu den bedeutendsten Forschungsreisenden und zu den Begründern der Völkerkunde. Als einer der Ersten hat er Brasilien und den damals tatsächlich noch wilden Westen Nordamerikas bereist. Seine Berichte prägten das Bild, das man sich in Europa von den Ureinwohnern machte. Besonders große Wirkung hatten die Illustrationen in seinen Büchern – dabei stammen diese Zeichnungen gar nicht von zu Wied.
Schon der junge Maximilian bewundert Alexander von Humboldt
1782 als Spross des rheinischen Hochadels in Neuwied bei Koblenz geboren, bewundert schon der junge Maximilian den naturforschenden Reisenden Alexander von Humboldt. Mit seinem Vorbild hat er gemein, finanziell unabhängig zu sein. Nachdem zu Wied in Göttingen Naturkunde studiert und als preußischer Kavallerist in den Schlachten gegen Napoleon gedient hat, fasst er den Plan für ein Abenteuer.
Auf eigene Kosten will er die riesige, bislang so gut wie unbekannte portugiesische Kolonie Brasilien erkunden. 1815 schifft sich zu Wied, der unter dem Pseudonym Baron von Braunsberg unterwegs ist, mit seinem Hofjäger David Dreidoppel und dem Gärtner Christian Simonis an Bord eines Segelschiffs ein. In den folgenden zwei Jahren bereisen die drei auf Saumpfaden – Wege und Straßen gibt es nicht – die brasilianische Ostküste. Von Rio geht es gen Norden durch die damals geschlossenen Regenwälder bis nach Salvador da Bahia. Mit dabei: zwei Europäer, die sich angeschlossen haben, und 16 lastenbepackte Pferde, Maultiere und Ochsenkarren. Tagsüber sammelt man Tiere und Pflanzen, bei der Rast am Nachmittag und abends präpariert man die Jagdausbeute.
Seine eigenen Bilder lässt er daheim umzeichnen
Als der Prinz vor genau 200 Jahren, im August 1817, von dieser ersten großen Reise zurückkehrt, ist er glücklich – und gleichzeitig ein wenig frustriert. Sein Traum war es, zum „künstlerischen Chronisten“ zu werden. Doch zu Wieds Zeichentalent ist begrenzt. Dessen ist er sich selbst schmerzlich bewusst.
Überwältigt vom tropischen Tieflandregenwald am Atlantik, beklagt er, dass selbst der talentierteste Maler daran gescheitert wäre, „die mannigfaltig abwechselnde Farbenmischung der Riesenkronen dieser Urwälder darzustellen“. Seine Zeichnungen von Faultieren und Fröschen, seine Aquarelle von Fledermäusen und Vögeln, seine Skizzen der Ureinwohner sprechen zwar für eine gute Beobachtungsgabe, erinnern aber eher an naive Malerei. Zu Hause lässt zu Wied sie von Profis umzeichnen. Auch die präparierten Tiere, die er von der Expedition mitgebracht hat – Schlangen, Schildkröten, Affen und andere Säuger –, werden von einem ausgebildeten Maler abgezeichnet. Als ein Jahrzehnt später zu Wieds zweibändige „Reise nach Brasilien“ und dann seine reich illustrierten „Beiträge zur Naturgeschichte“ erscheinen, lobt Johann Wolfgang von Goethe ausgerechnet „die Zeichnungen zu des Prinzen von Neuwied Durchlaucht brasilianischer Reise“.
Bei der nächsten großen Expedition soll alles anders werden. Bevor der inzwischen 50-Jährige im Mai 1832 in den Norden Amerikas aufbricht, sucht er jemanden, der Tiere, Pflanzen und mehr noch Menschen mit größtmöglicher Genauigkeit wirklichkeitsgetreu darzustellen vermag. Einen Künstler, der ihn begleitet, egal wie strapaziös und gefährlich es auch werden wird. Er findet den Schweizer Maler Karl Bodmer – zum Glück für die Nachwelt. Der erst 23-Jährige stammt aus Zürich, er hat sich bereits durch Stiche von Rheinlandschaften hervorgetan. Mit ihm regelt zu Wied in einem Vertrag Reisekosten und bescheidenen Lohn, und vor allem sichert er sich sämtliche Rechte an den während der Reise gefertigten Bildwerken.
Pünktlich zum amerikanischen Unabhängigkeitstag kommt die Reisegesellschaft am 4. Juli in Boston an, der treue Jäger Dreidoppel ist auch wieder dabei. Die Abenteurer verbringen neun Monate entlang der Ostküste, wo sie indes keinem einzigen Ureinwohner mehr begegnen. Die zeichnet Karl Bodmer erst, als sie im Frühjahr 1833 das am Mississippi gelegene St. Louis und damit das „Tor zum Westen“ erreichen. Vor ihnen liegt nun „freies Indianerland“, das sie auf einem Dampfschiff der American Fur Company durchqueren, den Missouri aufwärts bis zum Fort Union an der Mündung des Yellowstone River im heutigen Montana. Streng genommen kein Vorstoß in Neuland, ist es alles andere als eine Vergnügungstour; tatsächlich handelt es sich, wie zu Wied schreibt, um „eine äußerst beschwerliche Schifffahrt, bedroht von Treibstämmen und Sandbänken“.
Den Hochsommer 1833 verbringen sie in der Prärie, durchstreifen das Grasland, begegnen verschiedenen Stämmen, an deren Festen sie teilnehmen. Zu Wied notiert, was er über ihre Sitten, Jagdgewohnheiten und Lebensweise in Erfahrung bringen kann, erkundet auch das Wissen der Medizinmänner. Einmal schreibt er: „Wir sahen nun unmittelbar vor uns den zahlreichen, bunt gemischten, bunt bemalten und mannigfaltig verzierten Haufen der elegantesten Indianer des ganzen Missouri-Landes! Die schönsten kräftigsten Menschen von allen Altern und Geschlechtern, in höchst originellen, zierlichen und characteristischen Trachten“.
Beim äußerten Posten der Pelzhändler kommt es zum Krieg
Währenddessen zeichnet und malt Bodmer. Die Ureinwohner sind neugierig, stehen ihm nicht nur Modell, sondern werfen sich dafür sogar extra in Schale. „Du kannst sehr richtig schreiben“, loben sie; es ist ihre Umschreibung für das besondere Talent des Weißen, denn sie haben in ihrer Sprache kein passendes Wort für seine mit Bleistift und Wasserfarben angefertigten Porträts.
Beim äußersten Posten der Pelzhändler am Fort McKenzie und damit der Grenze zum Gebiet der gefürchteten Blackfoot-Indianer kommt es zum Krieg. Mehr als 600 Assiniboine- und Krih-Indianer überfallen die vor dem Fort in Zelten lagernden Schwarzfuß-Indianer, Frauen und Kinder werden in den Zelten niedergestochen, viele der Männer in erbitterten Zweikämpfen getötet. Die Auseinandersetzungen lassen den weiteren Vorstoß zu Wieds bis zu den Rocky Mountains aussichtslos werden. Schließlich zwingen eine schwere Erkrankung des Prinzen (vermutlich an Skorbut) und der hereinbrechende, ungewöhnlich harte Winter ihn dazu, im Fort Clark auszuharren. Das verschafft ihm eine einmalige Gelegenheit.
In Brasilien wie in Nordamerika: Seine Sympathie gehört den Ureinwohnern
Dank der Behandlung seiner Gastgeber genesen, baut zu Wied freundschaftliche Beziehungen zu den in der Nachbarschaft lebenden Mandan und Hidatsa auf. Mit dem einflussreichen Mandan-Häuptling Mató-Topé („Vier Bären“) schließen der Prinz und der Maler bald Freundschaft. Bei den täglichen Besuchen in der kuppelförmiger Erdhütte, die dessen Familie mit Pferden und Hunden bewohnt, berichtet Mató-Topé am wärmenden Feuer von seinen Erlebnissen als Krieger, von den Überfällen der Cayenne, den Kämpfen und den Versuchen, Frieden zu stiften mit den benachbarten Assiniboine; er erzählt von ihrem Glauben und den Legenden seines Volkes.
Als die auftauenden Flüsse schließlich den Weg freigeben, geht es Mitte Juli 1834 zurück Richtung New York. Nach einer Fahrt über den Atlantik treffen sie einen Monat später in Neuwied ein. Dass ausgerechnet ein großer Teil seiner zoologischen und botanischen Sammlungen dem Brand auf einem Flussdampfer zum Opfer fällt, schmerzt den Naturkundler.
Die Originalausgabe bleibt Fürsten und Forschern vorbehalten
Umso wichtiger wird für zu Wied das reiche völkerkundliche Material, das er zurückbringt. Doch zum bleibenden Vermächtnis der Ureinwohner Nordamerikas werden vor allem die mehr als 400 Skizzen und Aquarelle, die Karl Bodmer anfertigte. Für sein mehrbändiges Werk „Reise in das innere Nord-Amerika“ wählt zu Wied 81 Zeichnungen aus, die er als großformatige, handkolorierte Bildtafeln und als kleinere Vignetten drucken lässt. Die aufwendig gestaltete Originalauflage bleibt indes einem kleinen, exklusiven Kreis von Fürsten, Forschern und Millionären vorbehalten. Man kann sie zwar in Bibliotheken anschauen, doch wird sie nie wieder nachgedruckt.
Dennoch erregen zu Wieds authentische Berichte und Bodmers Bilder großes Aufsehen. Die beiden schaffen ein Bildwerk, das hinsichtlich Spannung und völkerkundlicher Bedeutung alle anderen Schilderungen weit übertrifft; es macht zu Wied zum bedeutendsten deutschen „Indianerforscher“ und Bodmer zum führenden „Indianermaler“. Tatsächlich wird der Reiseband als das wichtigste Werk deutscher Sprache über die Ureinwohner Nordamerikas gelobt, und wegen Bodmers Illustrationen zudem als ein Meilenstein in der Geschichte des Buchdrucks. Der Forscher und der Maler werden zu Chronisten und zur Quelle über die damals unwiederbringlich verloren gehende Welt der „Rothäute“. Denn kurz nach zu Wieds Reise, im Jahr 1837, bringt eine verheerende Epidemie durch eingeschleppte Pocken unzähligen indigenen Völkern entlang des Missouri den Tod und verändert ihre Welt tiefgreifend.
Schon in Brasilien hatte zu Wieds Sympathie den Indiostämmen gehört, die vielfach mit den Siedlern im Kriegszustand lebten, weil ihnen die Europäer ihr Land und ihre Wälder raubten. Drei Monate verbrachte er damals bei dem als besonders martialisch geltenden Volk der Botokuden, die sich mit auffällig großen Holzpflöcken, „botoque“ genannt, in Lippe und Ohrläppchen schmückten. Zu Wieds Darstellungen dieser Menschen, die auf seine Zeitgenossen so abschreckend wirkten, gelten als seine brillantesten Arbeiten.
Heute liegt zu Wieds mehr als 1300 Seiten langer Originalbericht nur noch in rabiat gerafften Auszügen vor, als Buch für jugendliche Leser.
Natürlich, es gibt die Romane Karl Mays. Was der Mann aus Radebeul schrieb, war erfunden; doch die Figuren in seiner 1892 erstmals erschienenen Winnetou-Erzählung haben ihre Vorbilder in jenen Ureinwohnern, die zu Wied schildert. Mató-Topé ist unverkennbar das Modell für den unsterblichen Winnetou, zu Wied selbst demnach der wahre Old Shatterhand.
Karl May hat ihn unsterblich gemacht
So verführerisch diese These ist, so wenig wurde sie bislang von der Literaturwissenschaft aufgegriffen. Dabei drängt sich der Vergleich von Mays Texten mit der Schilderung des Prinzen mehr als einmal auf. Etwa wenn dieser schreibt: „Zu meiner Freude sah ich auch den berühmten Mandan-Häuptling Mato-Tope wieder, der offenbar zu mir eine große Zuneigung gefaßt hatte und während unserer Dampferreise zu Pferde hierher geritten war, um mich noch einmal zu sehen. Auf meine Bitte hin verkaufte er mir seine bemalte Bison-Robe. Das war eine sehr großzügige Geste, denn diese Robe galt ihm als Andenken an seinen vom Feinde erschossenen Bruder. Sie hatte für ihn großen symbolischen Wert – sie war für ihn ‚Medizin‘ gewesen.“
Zwar ist zu Wieds Reisenachlass über die Museen der ganzen Welt verstreut, zwar wurden seine Sammlungen an Tieren und Pflanzen auch aus Brasilien von der Forschung sträflich vernachlässigt, zwar sagt sein Name nur noch Experten etwas. Doch hat ihn Karl May in seinen Erzählungen gleichsam unsterblich gemacht.
Der Autor ist Direktor des Centrums für Naturkunde an der Universität Hamburg.
Matthias Glaubrecht
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