Das glücklichste Volk der Welt: Pirahã-Indianer: "Schlaf nicht, hier gibt es Schlangen!"
Gesungen, gepfiffen, gesummt: Die Sprache der Pirahã-Indianer am Amazonas stellt Forscher vor ein Rätsel.
Kein Zweifel, der Dschungel ist voller Gefahren, vor allem nachts. Und wer weniger schläft, der härtet sich ab, so glauben die Pirahã (gesprochen: Pidahan). Als eines der letzten Jäger- und Sammler-Völker leben sie an einem Nebenfluss des Amazonas in Brasilien, in einem Reservat von 240 Kilometern Länge, zwei Tagesreisen mit dem Boot von den Außenrändern unserer Zivilisation entfernt. Es sind kaum mehr als 350 Menschen, die noch heute weitgehend ohne zivilisatorische Errungenschaften auskommen, mit einfachen Hütten ohne Wände und festen Boden, ohne Strom, Telefon und auch ohne Arzt.
Daniel Everett kam erstmals 1977 als Missionar zu ihnen, im Auftrag eines amerikanischen Missionsunternehmens und bezahlt von den evangelikalen Kirchen in den Vereinigten Staaten. Er kam, die Pirahã zum Christentum zu bekehren, „um ihre Herzen zu verändern“, und sie dazu zu bringen, einen ihnen fremden Gott anzubeten, an den ihnen fremde Menschen glaubten, deren Kultur und Moral sie annehmen sollten. „Obwohl ich die Pirahã noch nicht einmal kannte, war ich überzeugt, dass ich sie verändern kann und verändern sollte.“
Das sei der Hintergrund nahezu jeder Missionstätigkeit, schreibt Everett heute, nachdem er die Pirahã über drei Jahrzehnte immer wieder besucht und mit Frau und drei Kindern über Jahre immer wieder bei ihnen im brasilianischen Regenwald gelebt hat. Doch am Ende ist er es, der dank dieses Lebens bei den Pirahã „entkehrt“ wird. Als Everett seinen Glauben verliert, verliert er auch seine Familie.
Zusammengenommen sieben Jahre hat Everett, der heute Professor für Linguistik an der Universität von Illinois ist, seit seinem ersten Besuch bei den Pirahã im Urwald verbracht. In seinem Reise- und Lebensreport „Das glücklichste Volk“ schildert er nicht nur den Alltag eines Feldforschers am Amazonas. Sein Buch ist zugleich die Geschichte eines physischen wie auch intellektuellen Abenteuers. Die Lektüre ist dabei geradezu eine Wohltat, denn Everetts Bericht kommt nicht daher als massentaugliche Hochdruckbelehrung über die vermeintlich sinnstiftenden Reiseabenteuer eines fernseherprobten Laien-Wanderpredigers, wie der Buchmarkt sie ansonsten bereithält. Hier berichtet einer unaufgeregt, aber hautnah und authentisch von seiner tatsächlich ungewöhnlichen Reise zu einem – wie er meint – wahrhaft glücklichen Volk in einem bis heute verborgenen Winkel der Welt; zu Menschen, die sich beim Gutenacht-Sagen mit den Worten verabschieden: „Schlaf nicht, hier gibt es Schlangen“.
Fesselnd erzählt Everett von einer uns völlig fremden Welt, eröffnet einen faszinierenden Einblick in eine fremde Lebensweise, eine andere Sicht auf die Welt und vor allem eine ganz andere Art zu denken. Sein Buch mäandriert dabei auf gelungene Weise zwischen Abenteuer- und anthropologischem Forschungsbericht, der zudem beinahe beiläufig Einblicke in die Erkenntnisse der Linguisten erlaubt. Denn um Menschen zu bekehren, mussten Missionare überall auf der Erde zunächst die Sprache der Einheimischen lernen. Die Pirahãs machten es Everett wie schon seinen Vorgängern nicht leicht. Das Naturvolk blieb monolingual, weil es in seiner Abgeschiedenheit des Amazonas keinen Grund hatte, etwas anderes zu lernen als „Apaitsiiso“ – jene Sprache, „die aus dem Kopf geboren ist“.
Tatsächlich unterscheidet sich Pirahã als ureigene Sprache von allen anderen, auch der anderer Amazonas-Indianer. Nicht nur, dass sie die gesungen, gepfiffen und gesummt wird, sie weicht auch strukturell von anderen Sprachen ab. Ihr fehlen viele Elemente, die wir für natürlich halten. Dass sie nur drei Vokale und acht Konsonanten besitzt, mag man noch hinnehmen, auch dass es kein Wort für „danke“ oder „Entschuldigung“ gibt.
Vor allem aber kennen die Pirahã keine Wörter für Zahlen, keine für Farben, keine für gestern und heute. Sie bilden keine Nebensätze und verbinden daher niemals zwei einzelne Aussagen zu einer. Aus „der Mann hat ein Kanu“ und „der Mann fällt einen Baum“ wird bei den Pirahã niemals „der Mann, der ein Kanu hat, fällt einen Baum“, erklärt Everett. Weil ihnen genuine Farbbezeichnungen wie „rot“, „schwarz“ oder „grün“ fehlen, machen sie Farben durch charakteristisch gefärbte Dinge „wie Blut“, „wie Kohle“ oder „das ist noch nicht reif“ anschaulich. Fremden geben sie den Namen des ihnen am ähnlichsten Sippenmitglieds, und sie wechseln diese Namen mehrmals im Leben. Daniel Everett, den sie anfangs „Xoogiái“ nannten, hatte im Laufe seiner Karriere bei den Pirahã immerhin vier Namen, bis er als „Paóxaisi“ nach einem sehr alten Mann der Sippe benannt wurde.
Vergeblich versuchte Everett, den Pirahã, die nicht zählen können, das Rechnen beizubringen. Sie waren auch nach Monaten fruchtlosen Lernens nicht in der Lage, auch nur die Thematik zu fassen: Nicht einem von ihnen gelang es, bis zehn zu zählen oder eins und eins zu addieren. In ihrer Sprache gibt es lediglich zwei Zahlwörter, meinte Everett anfangs. „Hói“ heißt eins und „hoí“ zwei (man beachte die feinen tonalen Unterschiede). Heute glaubt er indes, dass eine bessere Entsprechung „wenige“ und „viele“ wäre und den Pirahã somit Zahlwörter gänzlich fehlten. Immerhin: Offenbar spielt es für diese Menschen durchaus eine Rolle, ob entweder wenige oder viele Fische gefangen werden.
Dank ihrer Besonderheiten – und wohl auch aufgrund der inzwischen bekannten Thesen Everetts – gehört Pirahã neuerdings zu den Sprachen, für die sich Linguisten auf der ganzen Welt interessieren. Unter ihnen haben Everetts Forschungen eine Debatte ausgelöst, denn seine Analyse ist umstritten. So glaubt Everett, dass die Sprache der Pirahã eng mit ihrer Lebensweise und dem Lebensraum verknüpft ist. Schließlich lehnen sie alles Abstrakte ab und kümmern sich nur um das Erfahren des Augenblicks. Dagegen sind viele Linguisten von einer universalen sprachlichen Grundstruktur und Grammatik des Menschen überzeugt, gleichsam dem kleinsten gemeinsamen Nenner der etwa 6500 lebenden Sprachen. Sie gehen davon aus, dass die Fähigkeit, komplexe Satzstrukturen zu bilden, in unseren Hirnen genetisch angelegt ist. Everett hält stattdessen die Sprache für flexibler und von der jeweiligen Kultur bestimmt, mithin unterscheiden sich Sprachen für ihn je nach Lebensraum und den Wertmaßstäben einer Gemeinschaft.
Vermutlich deshalb blieben seine Bekehrungsversuche bei dem Volk letztlich erfolglos. Die fantasievolle Geschichte eines Jesus von Nazareth blieb ihnen gänzlich unbegreiflich. Erst spät erkennt Everett warum. Die Pirahã sprechen nur über Dinge, die sie selbst erlebt haben. Sie reden nicht über die ferne Vergangenheit oder die Zukunft, schon gar nicht über Fantasie-Ereignisse. „Hey, Dan“, fragen sie ihn, „wie kannst Du Jesus Worte haben, wenn Du ihn nie gesehen hast?“ Die Pirahã glauben nur, was sie sehen. Punkt. Manchmal glauben sie auch Dinge, die ein anderer ihnen erzählt hat – vorausgesetzt, dieser war tatsächlich Zeuge der geschilderten Ereignisse.
Der Missionar erkennt, dass Schöpfungsmythen nicht zur Forderung der Pirahã nach unmittelbaren Belegen passen. Als Everett später als Linguist arbeitet, werden solche Belege auch für ihn als Wissenschaftler entscheidend. Für das, was er den Pirahã über seinen Glauben sagte, konnte er nur subjektive Begründungen anführen: seine eigenen Gefühle. Am Ende des Buches bekennt Everett, wie er durch die Beschäftigung mit den Pirahãs, die er anfangs bekehren sollte, das Wesen seiner eigenen Religion, den Akt des Glaubens an etwas, das man nicht sehen kann, ernsthaft infrage zu stellen begann. „Religiöse Bücher wie Bibel und Koran verherrlichen diese Art des Glaubens an Dinge, die nicht objektiv sind und der Intuition widersprechen. Das Leben nach dem Tod, die jungfräuliche Geburt, Engel, Wunder und anderes mehr.“
Ein für primitiv gehaltenes Volk im Regenwald lehrt ihn, den christlichen Missionar und Sprachwissenschaftler, die Unmittelbarkeit des Erlebens und die Forderung nach Belegen.
Daniel Everett: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas. DVA Sachbuch, München 2010, 416 Seiten, 24,95 Euro.
Matthias Glaubrecht
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