Mississippi Freedom Summer 1964: Der tödliche Sommer der Freiheit
Hunderte weiße Studenten ziehen 1964 aus vielen Teilen der USA nach Mississippi, kämpfen gemeinsam mit der schwarzen Bevölkerung für deren Rechte und singen: „We shall not be moved“. Im Juni verschwinden drei junge Männer spurlos.
Es war ein Schock. Aufgeregt waren sie in die Semesterferien gefahren, auf den ersten Blick hätte man meinen können: ins Sommercamp. Gitarren hatten sie sich umgehängt und leichte Kleidchen angelegt, als sie aus Harvard, Stanford und Princeton nach Oxford, Ohio kamen, viele New Yorker unter ihnen. 1000 junge Amerikaner, fast alle weiß, etliche jüdisch, entschlossen, ihr Land besser, gerechter zu machen. Jetzt wurden die Studenten mit dessen brachialer Wirklichkeit konfrontiert. Erst in der Theorie, dann in der Praxis.
In einem Einführungskurs wurden sie eingestimmt auf das, was sie erwartete, bekamen Verhaltensregeln eingebläut. Beim Autofahren immer Fenster und Türen zuschließen, unbedingt unter der Höchstgeschwindigkeit bleiben – die Polizisten warteten nur auf einen Vorwand, sie festzunehmen. Debattiert wurde auch Grundsätzliches: Ihr seid nicht hier, als Gutmenschen die Schwarzen zu retten. Sie übten, sich zusammenzurollen, wenn Polizisten auf sie einprügelten, lernten, den Mund zu halten, wenn sie angebrüllt wurden, und sich ins Gefängnis führen zu lassen, ohne etwas getan zu haben. Bloß nicht diskutieren! Viel zu riskant.
Mit der Orientierungswoche begann am 14. Juni 1964 der legendäre Mississippi Freedom Summer. Von Ohio aus wurden die Freiwilligen an die Front in Mississippi geschickt: zu Ku Klux Klanern, die Schwarze lynchten und Kirchen anzündeten, zu „anständigen Bürgern“, die hasserfüllt ihre Pfründe verteidigten, zu Gesetzeshütern, die das Gesetz am laufenden Bande brachen. Dass Weiße bei Schwarzen übernachteten, mit ihnen gemeinsam demonstrieren gingen, war für sie eine ungeheure Provokation. Die Bürgerrechtler verstanden sich als Patrioten, marschierten mit der Fahne in der Hand. Als „Invasion von kommunistischen Nigger-Freunden“ betrachteten ihre Gegner den Freedom Summer. Keine Frage, die jungen Bürgerrechtler zogen in den Krieg. Unbewaffnet. Sie praktizierten gewaltlosen Widerstand.
Bürgerrechtskampagnen hatte es schon etliche gegeben, aber noch nie eine so konzertierte Aktion. Rassismus bestimmte in allen Südstaaten den Alltag, aber nirgends erreichte er ein so brutales Ausmaß wie in Mississippi. (Wobei Alabama gleich dahinter kam. Dessen Gouverneur Wallace versprach „segregation now, segregation tomorrow, segregation forever“ – Rassentrennung auf immer und ewig.) Schwarze machten in Mississippi zum Teil die Hälfte der Bevölkerung aus, aber alle offiziellen Ämter waren mit Weißen besetzt. Als der junge James Meredith sich im Jahr zuvor als erster Schwarzer an der University of Mississippi einzuschreiben versucht hatte, versperrte ihm der Gouverneur persönlich den Weg. Präsident Kennedy musste National Guards zu Merediths Schutz runterschicken, bei den Auseinandersetzungen gab es zwei Tote.
Nur wenige Schwarze trauten sich, hier zu wählen. In den USA kommt der Wahlschein nicht mit der Post, man muss sich dafür erst registrieren zu lassen. In Mississippi anno 1964 war das eine äußerst schwierige und riskante Sache. Wären alle Schwarzen zur Urne gegangen, hätte dies das Ende der weißen Vorherrschaft bedeutet. Also wurden ihnen Felsbrocken in den Weg gelegt: Bewerber mussten sechs Jahre zur Schule gegangen sein, nachweisen, dass sie lesen und schreiben konnten, einen Test mit aberwitzigen Fragen bestehen, Verfassungsklauseln erklären. Oft wurde den Anwärtern der Weg mit Gewalt versperrt.
Zu den wichtigsten Aufgaben der Freiwilligen in diesem dampfend heißen Sommer gehörte es, von Hütte zu Hütte ziehen – die meisten Schwarzen lebten unter erbärmlichen Umständen auf dem Land –, das Wahl-Prozedere zu erklären, zu ermutigen.
Schon im Jahr zuvor hatten sich unterschiedlichste Bürgerrechtsorganisationen in Mississippi zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Die wichtigsten Gruppen des Freedom Summers waren CORE, Congress of Racial Equality, und vor allem SNCC, das Student Nonviolent Coordinating Committee. SNCC („Ssnick“ gesprochen), 1961 gegründet als junge Alternative zu Martin Luther Kings Southern Christian Leadership Conference, war die radikalste unter den Organisationen.
Geld hatten diese so gut wie keins. Selbst wenn Harry Belafonte, ein wichtiger Förderer von SNCC, immer wieder Benefizkonzerte mit Freunden wie Frank Sinatra organisierte, die Spenden deckten nur das Nötigste ab. Feste Mitarbeiter bekamen weniger als Mindestlöhne, die Freiwilligen mussten ihren Unterhalt selbst finanzieren, zudem einige hundert Dollar mitbringen, um bei einer Festnahme selber die Kaution zahlen zu können.
Kinder aus wohlhabenden Familien zu rekrutieren war aber nicht nur eine praktische, sondern eine strategische Entscheidung: Die Organisatoren wussten, dass erst diese Studenten aus dem Norden ihnen die Aufmerksamkeit der überregionalen Medien sichern würden, die sich um Unrecht und Gewalt gegen „Neger“, wie sie damals genannt wurden, nicht scherten. Wie recht sie damit hatten, wurde ihnen bald brutal vor Augen geführt.
Der Schwarze Bob Moses, der in Harvard Philosophie studiert hatte, war der besonnene Direktor dieses Sommers, Mrs. Fanny Lou Hamer, wie sie sich stets vorstellte, so etwas wie die Mutter der Kompanie. Die 46-Jährige, die nicht mehr als drei Schulklassen besucht hatte, und auch die nur sporadisch, zeigte den Studenten, was man machte gegen die Angst. Nicht schreien, nicht weglaufen und schon gar nicht schießen, nein: singen. „Oh Freedom!“, „We Shall Not be Moved“, „Go Tell It on the Mountain!“, „We Shall Overcome“. Wenn die kleine runde schwarze Frau den Mund aufmachte, riss sie alle mit. Die Spirituals schweißten die Studenten zusammen.
Fanny Lou Hamer war das jüngste von 20 Kindern, als kleines Mädchen hatte sie angefangen, auf einer Plantage Baumwolle zu pflücken. 1962 animierte die Predigt eines Pfarrers von SNCC sie, sich zur Wahl registrieren zu lassen. Der Plantagenbesitzer setzte sie daraufhin unter Druck: Entweder sie zog die Registrierung zurück oder war ihren Job los. Aber zurück wollte Hamer nicht mehr.
Bob Moses ahnte, welche Kraft in „der Dame, die die Kirchenlieder singt“, steckte, und gewann sie als Aktivistin. Auf dem Heimweg von einem Workshop wurde sie mit ihren Mitstreitern festgenommen und im Gefängnis fast invalide geprügelt. Aber stoppen ließ Fanny Lou Hamer sich nicht. Wählen zu können war für sie, wie für viele, der fundamentale Weg zur Gleichberechtigung.
Die Wählerregistrierung war das zentrale, doch nicht das einzige Unterfangen dieses Sommers. Die Bürgerrechtler gründeten Freedom Schools, Freedom Libraries, Freedom Clinics, richteten Gemeindezentren ein, spielten Theater, Anwälte hielten Sprechstunden ab. Zum ersten Mal bekamen viele Schwarze einen Eindruck, wie das Leben in Freiheit aussehen könnte. An den Schulen, dem vielleicht fröhlichsten, freiesten Ort dieses Sommers, lernten Junge und Alte nicht nur lesen und schreiben, sondern die eigene Geschichte, die an den normalen Schulen nicht stattfand.
Mitten in die Orientierungsphase in Ohio platzte die Nachricht, die das ganze Projekt überschattete; der Film „Mississippi Burning“ mit Gene Hackman und Willem Dafoe erzählt davon: Zwei Freunde, James Chaney, ein Schwarzer aus Mississippi, und Michael Schwerner, jüdischer Sozialarbeiter aus New York, beide Mitarbeiter von CORE, sowie der Freiwillige Andrew Goodman waren verschwunden. Sie hatten sich auf den Weg zu einer abgefackelten Kirche gemacht, in der eine Bürgerrechtsversammlung stattgefunden hatte. Wie sich später herausstellte, nahm der Sheriff die drei unter dem Vorwand der Geschwindigkeitsüberschreitung fest, hielt sie so lange im Gefängnis, bis es dunkel war, und trieb sie dann in die Arme des Ku Klux Klans, der in der Zwischenzeit den Mord des Trios vorbereitet hatte. Der Bagger stand schon parat, um die Leichen zu verscharren.
Schwerners junge Frau Rita, ebenfalls CORE-Mitarbeiterin, war eine der Tutorinnen im Einführungsworkshop in Ohio. Dass der Fall solche Schlagzeilen machte und den Präsidenten der Vereinigten Staaten veranlasste, FBI und Matrosen loszuschicken, um nach den Leichen zu suchen, weil zwei Weiße dabei waren: Diese Form des Rassismus empört Rita Bender, wie sie heute heißt, immer noch. 44 Tage lang wurde gesucht, in den Sümpfen gestochert. Für die schwarzen Lynchjustizopfer, die dabei zufällig entdeckt wurden, interessierte sich kaum jemand.
Es war ein aufreibender, aufregender, kein romantischer Sommer. Obwohl, ja, auch weil es einige Liebschaften zwischen Schwarzen und Weißen gab, die von beiden Seiten als äußerst ambivalent betrachtet wurden. Attacken kamen nicht nur von außen, Spannungen gab es auch innerhalb der Bewegung. Schwarze Bürgerrechtler fühlten sich von einigen weißen Freiwilligen bevormundet, hatten Sorge, verdrängt zu werden. Den jungen Studenten wiederum fiel es schwer, mit der Unterwürfigkeit der eingeschüchterten Landbevölkerung umzugehen. In ihrem klugen Buch „Freedom Summer“ erzählt Sally Belfrage von solch befremdenden Erlebnissen: dass der Hausherr sich erst zu ihr an den Tisch setzte, als sie ihn ein paar Mal ausdrücklich darum gebeten hatte. Dass der 16-jährige Sohn, wenn er überhaupt mit ihr redete, immer auf den Boden guckte, so hartnäckig war er darauf eingeschworen, bloß keine weiße Frauen anzusehen. Das konnte in Mississippi lebensgefährlich sein.
Während noch nach den Verschollenen gesucht wurde, unterzeichnete Präsident Johnson am 2. Juli in Washington den Civil Rights Act, der mit der Diskriminierung an öffentlichen Orten Schluss machte. Zumindest in der Theorie des Gesetzes. Die Praxis sah anders aus. Sally Belfrage erzählt, dass in der Stadt, in der sie in der Freedom Library arbeitete, sofort das Wasser aus den Schwimmbädern gelassen wurde, damit Weiße jetzt bloß nicht mit Schwarzen zusammen schwimmen mussten. Auch viele Parks und Zoos wurden geschlossen.
Am 4. August wurden die Leichen von Schwerner, Chaney und Goodman gefunden. Die Familien wollten ihre Kinder nebeneinander bestatten, aber das war nicht erlaubt: Selbst auf Friedhöfen herrschte Apartheid.
Wenige Tage später fand der Höhepunkt des Freedom Summers statt, allerdings nicht im Süden, sondern in Atlantic City. Die Aktivisten hatten 60 000 Mitglieder für ihre neu gegründete Mississippi Freedom Democratic Party gewonnen. Damit zogen sie zum Parteitag der Demokraten, auf dem Lyndon B. Johnson zum Präsidentschaftskandidaten ernannt werden sollte. Die Bürgerrechtler wollten die offizielle, rein weiße Delegation aus Mississippi herausfordern, die Schwarze nicht zuließ. Johnson kriegte es mit der Angst zu tun: Was, wenn ihn die Vertreter aller Südstaaten im Stich ließen?
Er arrangierte einen Kompromiss: Die MFDP sollte zwei außerordentliche Sitze bekommen. Unter denen, die vor dem Ausschuss zur Prüfung des Mandats aussagten, war auch Rita Schwerner, die junge Witwe. Sie saß neben Fanny Lou Hamer, die an diesem 22. August als stellvertretende Parteivorsitzende ihren großen Auftritt hatte. Vor den Fernsehkameras erzählte sie ihre Geschichte, machte ihrer Wut über Unrecht und Unmenschlichkeit Luft.
Präsident Johnson rief eine Eil-Pressekonferenz ein, um die Fernsehteams wegzulocken, aber da war es schon zu spät. Die ganze Nation hatte gehört, wie die Baumwollpflückerin ihrem Land mit ihrer kraftvollen Rede die Leviten las, auf die Diskrepanz stieß zwischen dem, was Amerika sein wollte und sollte, und dem, was es war. „Is this America, the land of the free, the home of the brave?!“ schmetterte sie ihren Landsleuten entgegen.
Für die Bürgerrechtler war der Parteitag das bittere Ende eines hoffnungsvoll begonnenen Sommers. Es machte ihnen endgültig klar, dass sie von der offiziellen Politik im Zweifelsfalle nicht mehr als Almosen zu erwarten hätten. Im Jahr darauf wurde Malcolm X erschossen, brachen in Watts Rassenkrawalle aus mit 34 Toten. SNCC verabschiedete sich bald von der Idee des Miteinanders und des gewaltlosen Widerstands, schloss Weiße aus und sich selbst den militanten Black Panthern an.
Aber das Rad ließ sich nicht zurückdrehen. Im Jahr darauf unterzeichnete Präsident Johnson den „Voting Rights Act“, der allen Bürgern den Weg zur Urne ebnete. Beim nächsten Parteitag zur Nominierung des Präsidentschaftskandidaten waren rein weiße Delegationen nicht mehr erlaubt. Und viele Veteranen des Sommers setzten das, was sie in Mississippi gelernt hatten, anderswo fort: in der Frauenbewegung oder in der Studentenrevolution, die ein paar Monate später in Berkeley begann.
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