Das Goethe-Wörterbuch: Goethe schrieb 2500 Mal von der Liebe
Der Wortschatz von Johann Wolfgang von Goethe war riesig. Sein Sprachkosmos wird in einem Wörterbuch gesammelt: Nach 70 Jahren ist es beim „T“ angelangt.
Der Plan war tollkühn – und auch ein bisschen theatralisch. Als am 12. Dezember 1946 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin der Grundstein für ein Mammutprojekt der Lexikografie gelegt wird, liegt Deutschland noch in Schutt und Asche. Doch Altphilologe Wolfgang Schadewaldt, der das Vorhaben „Goethe-Wörterbuch“ (GWb) anstößt, will gerade deshalb den Blick zurück auf den verehrten Dichter und Denker richten. Endlich sollen systematisch alle Wörter untersucht werden, die Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verwendet hat. Ja, richtig verstanden: alle Wörter.
Warum deutsche Sprachwissenschaftler unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg ihr Augenmerk auf Goethe richten, kann Ernst Osterkamp, Professor für Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität und Vorsitzender der Akademien-Kommission zum GWb, erklären: „Man muss das Wörterbuch im Zusammenhang mit dem Wunsch zur geistig-moralischen Erneuerung sehen. Und woran wollte und konnte man anschließen, wenn nicht an die Tradition der deutschen Klassik?“
Die Idee, Goethes Wortschatz in Form eines Lexikons zu erfassen, existierte schon länger. Doch erst jetzt geht die Wissenschaft das Projekt systematisch an. Zunächst sollen alle Wörter exzerpiert, dann zu Übersichtsartikeln zusammengefasst werden. 1946 ist die Situation politisch einigermaßen günstig. Deutschland ist noch nicht geteilt. Die rund 20 Wissenschaftler, die in Berlin, Hamburg, Leipzig und Heidelberg in den kommenden Jahren die Arbeit aufnehmen, teilen Goethes umfassendes Werk untereinander auf. Die einen durchsuchen die poetischen Texte, andere die Briefe oder die naturwissenschaftlichen Schriften.
Bis in die 1960er hinein dauerte allein das Exzerpieren
Schnell wird deutlich, dass es sich um eine schier endlose Aufgabe handelt. Bis in die 1960er Jahre dauert allein das Exzerpieren. Denn die Wissenschaftler lassen nichts aus. Jedes Verb, jedes Nomen, jedes Adjektiv wird gesammelt. Sogar Präpositionen und Artikel. Es geht aber nicht nur um die quantitative Erfassung. Die Sprachwissenschaftler wollen die verschiedenen Bedeutungsnuancen herausarbeiten, die die Wörter in den jeweiligen Kontexten haben.
„Schadewaldt hatte die Vorstellung, den gesamten Sprachbestand des Goetheschen Werkes systematisch in allen seinen Bedeutungsschichten zu erfassen“, erklärt Osterkamp. Beim Stichwort „Liebe“ liest sich der Eintrag im GWb so: „Gut 2500 Belege; knapp zwei Drittel in (dichterischen) Werken, knapp ein Drittel in Briefen (besonders an ChStein). Häufig ohne Artikel (vorwiegend im Vers) u apokopiert“ (also ohne Endungs-e). Es folgen Dutzende beispielhafte Zitate, sortiert nach Unterkategorien wie „Tugend und Medium der Welterschließung“, „Liebe Gottes/zu Gott“, „Zuneigung zwischen Mann u Frau“, „körperliche Liebe“, „Anhänglichkeit, Verehrung, Gefolgschaft“.
93.000 Wörter sind zusammengekommen
In den ersten Jahren der lexikalischen Arbeit ahnt niemand, wie umfangreich der Sprachbestand Goethes eigentlich ist. Als die Wissenschaftler endlich mit ihren Listen fertig sind, sind unfassbare 93 000 Wörter zusammengekommen, die Goethe nachweislich benutzt hat. Zum Vergleich: Von Luther sind 23.000 Einzelwörter überliefert, Schiller und Shakespeare bringen es auf rund 30.000 Wörter. Osterkamp erklärt das mit den breitgefächerten Interessen des Dichters. „Ein Wortschatz entsteht durch Gebrauch.“ Goethe versteht sich zeitlebens nicht nur als Literat, sondern publiziert auch im Bereich Philosophie, Politik, Naturwissenschaft, Bildende Kunst. Schon damals hat jedes dieser Fachgebiete einen Spezialwortschatz. Außerdem bedient sich Goethe großzügig in anderen Sprachen. Oder kreiert, wo er keinen passenden Ausdruck findet, einfach neue Wörter.
Um Goethes Sprachkosmos zu bändigen, legen die Mitarbeiter des GWb jahrzehntelang gigantische Zettelkästen an. Auf Karteikarten wird handschriftlich zusammengetragen, was die Sprachforscher im poetischen Werk, in den Tagebüchern, Briefen, den naturwissenschaftlichen und politischen Schriften finden.
Von A wie Aalraupe bis M wie Maiensonne
Die mühsame Methode ist einer der Gründe, warum die Arbeit so langsam voran geht. Der andere Grund ist die deutsche Teilung. Vor allem in den 1960ern und ’70ern ist der Austausch zwischen den Arbeitsstellen im Osten und Westen Deutschlands extrem schwierig.
Dass das Projekt dennoch fortgesetzt wird, sei eine „kleine Heldentat“, meint Osterkamp rückblickend. Irgendwie gelingt es, die Arbeitsprozesse durch den Kalten Krieg hindurch aufrechtzuerhalten. Ab 1966 erscheinen die ersten Bände des Wörterbuchs, mit Wörtern von A wie Aalraupe bis M wie Maiensonne. Im Jahr des 70-jährigen Jubiläums ist die interne Bearbeitung beim Buchstabenbereich „S/T“ angekommen. Veröffentlicht wird demnächst aber erst einmal der monumentale Band 6. Er reicht von O bis P.
Kritik hat sich die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die das Wörterbuch Anfang der 1990er unter ihre Fittiche nahm, immer wieder anhören müssen. Ist das Unterfangen nicht viel zu langwierig und zu teuer? Und zudem eine Form von Goethekult, die nur für eine sehr kleine Nutzergruppe überhaupt von Interesse ist?
Viele Wörter machten einen Bedeutungswandel durch
Osterkamp kennt sämtliche Bedenken und verteidigt das Goethe-Wörterbuch leidenschaftlich: Die Jahre von 1760 bis 1830 seien eine entscheidende Epoche „innerhalb der deutschen Literatur und des Denkens“. Da es kein vergleichbares Wörterbuch für andere Schriftsteller gibt, können auch Schiller-, Hegel- oder Fichte-Forscher hier fündig werden. „Das GWb ist das größte Unternehmen in der historischen Lexikografie. Man kann sich damit den Sprachbestand der Zeit um 1800 systematisch zu eigen machen.“
Denn viele Wörter machen damals einen Bedeutungswandel durch, der sich anhand des Goethe-Wörterbuchs überhaupt erst nachvollziehen lässt. Beispiel „Gewalt“: Bei Goethe ist das zunächst ein vielgenutzter und positiv konnotierter Begriff, der für Kraft und Energie steht. Erst nach 1800 scheint die Bedeutung ins Negative zu kippen. Hat das möglicherweise mit der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen zu tun?
Bis 2025 soll das Wörterbuch endgültig fertig werden
Die Anwendungsmöglichkeiten des GWb sind vielfältig, betont Osterkamp. Vor allem, seit das Wörterbuch seinen Weg ins Internet gefunden hat. Die Digitalisierung hat dem Projekt in vieler Hinsicht genützt. Die Wissenschaftler konnten ihre Arbeit durch computergestützte Methoden massiv beschleunigen; bis 2025 soll das Wörterbuch nun endgültig fertig werden. „Mit Zettelkästen und Schreibmaschinen wäre das nicht möglich gewesen.“
Mit der Übernahme ins Akademienprogramm ging außerdem die Verpflichtung einher, die Forschungsergebnisse einer möglichst breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Alle bisher veröffentlichten Bände des GWb wurden daher retro-digitalisiert. Bis einschließlich M steht das Wörterbuch jetzt im Netz. Ernst Osterkamp kann die Lektüre wärmstens empfehlen: Wer Anregungen suche oder neue Wörter entdecken wolle, der sei hier richtig. „Mit dem GWb kann man sich regelrecht betrinken an Sprache.“
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