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Wenn Denken, Erleben und Wollen auseinanderdriften. Von den meisten Schizophrenen geht keine Gefahr aus.
© picture alliance / dpa

Der Fall Breivik: Schizophrenie - die unheimliche Bedrohung

Nicht die fanatische Idee trieb Breivik zu seiner Tat, sondern seine Krankheit. Der Massenmord von Norwegen darf nicht zu einer Diskriminierung psychisch kranker Menschen führen.

Es passte nichts zusammen, und eben das passte am Ende für die Gutachter zusammen. Sie attestierten dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik nun, an paranoider Schizophrenie erkrankt zu sein. Mit einem Bombenanschlag und einem darauf folgenden einstündigen Amoklauf hatte Breivik am 22. Juli 77 Menschen getötet und 151 verletzt. Im Internet hatte er kurz vor der sorgfältig geplanten Tat ein 1500-seitiges „Manifest“ veröffentlicht, unter dem Titel „2083: Eine europäische Unabhängigkeitserklärung“.

Breiviks „Manifest“ wurde schon vielfach ausgedeutet. Es ist eine bizarre Mischung unterschiedlichster Ideen, von Nationalismus, Antifeminismus und Islamophobie bis hin zu Zionismus und verschrobenen Anklängen an Zahlenmagie und ans Christentum. Anders Breivik sieht sich als zukünftiger Herrscher Norwegens, als Mitglied eines (nicht existierenden) Tempelritterordens. Ein Foto zeigt ihn in einer ordensgeschmückten Fantasieuniform. Er plant, Norweger in Reservaten zu züchten.

Aus dem Gedankengebräu kann man eigentlich nur eines herauslesen: einen tiefsitzenden Verfolgungswahn. Das Manifest ist das Produkt eines sich bedroht wähnenden Geistes, der den Hass auf seine Verfolger als Ausweg sieht. Die Gutachter glauben, dass Breivik in seinem eigenen wahnhaften Universum lebt, in dem „all seine Gedanken und Handlungen durch seine Wahnideen bestimmt werden“.

Manche Kommentatoren entrüsten sich über das Gutachten, weil es die Terroristen und Massenmörder der Geschichte entlaste, die auch im Namen vermeintlich höherer Ideen töteten. Das Gutachten banalisiere das offenkundig Böse von Breiviks Tat. Aber zwischen Breiviks Wahn und den „überwertigen“ Ideen von Fanatikern bestehe ein großer Unterschied, sagt Norbert Leygraf, Experte für forensische Psychiatrie an der Universität Duisburg-Essen.

Selbst ein Fanatiker sei dazu imstande, zu seiner Idee kritischen Abstand zu gewinnen. Wer im Wahn gefangen ist, kann das nicht. Breivik glaubt vermutlich wirklich, Tempelritter und der Erlöser Norwegens zu sein. Seine abstrusen Ideen sind nicht, wie bei Fanatikern, die treibende Kraft ihrer Taten, sondern ebenso wie diese ein Symptom der Krankheit. Die roboterhafte Kaltblütigkeit seines Mordens und sein merkwürdig ungerührter, fast entrückter Gesichtsausdruck nach der Tat fügen sich in dieses Bild.

Die Tat als Ausdruck der Psychose.

Für viele ist unverständlich, wie Breivik seine Tat über Jahre sorgfältig planen konnte, wenn er doch verrückt war. Es stimmt zwar, dass die meisten Schizophrenen geistig so wirr (und natürlich völlig harmlos) sind, dass sie zu einer solchen Planung weder gewillt noch in der Lage wären. Aber: Die Schizophrenie bringt zwar die Gedanken durcheinander, sie schwächt jedoch fürs Erste nicht die Intelligenz – der schizophrene Mathematiker John Nash hat es bis zum Nobelpreis gebracht.

Die roboterhafte Kaltblütigkeit seines Mordens und sein merkwürdig ungerührter, fast entrückter Gesichtsausdruck nach der Tat fügen sich in das Bild eines Schizophrenen ein,
Die roboterhafte Kaltblütigkeit seines Mordens und sein merkwürdig ungerührter, fast entrückter Gesichtsausdruck nach der Tat fügen sich in das Bild eines Schizophrenen ein,
© dpa

Der Psychiater Leygraf weist zudem darauf hin, dass Breivik zu einer brisanten Untergruppe von Schizophrenen gehört. Das sind jene Kranken, die über die Jahre ein systematisches Wahngebäude in ihrem Kopf errichtet haben und die zugleich eher wenig mit formalen Denkstörungen zu kämpfen haben, wie sie bei der Schizophrenie eigentlich typisch sind, etwa zerfahrenem und unzusammenhängendem Denken. Diese Menschen können nach außen einen weitgehend vernünftigen Eindruck machen.

Eine schizophrene Psychose bedeutet nicht automatisch, dass der Täter schuldunfähig ist. „Das muss im Einzelfall geprüft werden“, sagt der Psychiater Jürgen Müller von der Asklepios-Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen. „Die Tat muss Ausdruck der Psychose sein.“

Ist es denkbar, dass Breivik seine Gutachter getäuscht, ihnen eine Psychose vorgespielt hat? Der Berliner Psychiater Claus Haring hält das für praktisch ausgeschlossen. „Eine Schizophrenie kann keiner imitieren“, sagt er.

Eine schizophrene Psychose ist keine momentane seelische Unpässlichkeit, sondern eine tiefgreifende Störung der Persönlichkeit. Drei Merkmale finden sich besonders häufig. Die Kranken hören Stimmen, die ihr Verhalten kommentieren und ihnen Anweisungen erteilen. Alltägliches Erleben bekommt eine tiefere Bedeutung, das Nummernschild eines vorbeifahrenden Autos etwa steht in Verbindung mit dem Schicksal der Welt, ein Zeitungsartikel enthält eine verschlüsselte Botschaft an den Kranken, die ihn förmlich anspringt. Und schließlich haben viele das Gefühl, nicht selbst zu denken oder zu handeln, sondern „gemacht“ zu werden. Sie glauben, gelenkt und gesteuert zu werden.

Schizophrenie - die dunkle, unheimliche Bedrohung.

Man kann daraus folgern, dass die Krankheit im seelischen Erleben als dunkle, unheimliche Bedrohung wahrgenommen wird – eine Bedrohung, die der Verfolgungswahn nach außen projiziert.

Breivik verkörpert das Schreckensbild des „gefährlichen Irren“ in extremer, bislang so nicht gekannter Form. Umso wichtiger ist es, vor einer pauschalen Verteufelung und Diskriminierung psychisch Kranker zu warnen. Von den allermeisten Menschen mit einer schizophrenen Psychose geht keine Gefahr aus, sie leiden schwer an ihrer Krankheit. Zehn Prozent von ihnen bringen sich um.

Es ist nur eine kleine Minderheit der Kranken, die aggressive Straftaten verübt. Drogen- oder Alkoholkonsum, eine antisoziale Persönlichkeit und eine nicht ausreichende Behandlung mit Medikamenten können das Risiko von Gewalttaten erhöhen. Weil die Schizophrenie keine ganz seltene Erkrankung ist, schlägt das in der Kriminalstatistik durchaus zu Buche. In Europa gehen acht bis zehn Prozent der Tötungsdelikte auf psychisch kranke Männer zurück.

Den Psychiater Haring treibt noch etwas anderes um. Er hält es für gut denkbar, dass auch die Amokläufer von Erfurt und Winnenden nicht etwa, wie oft vermutet, aus verletzter Eigenliebe handelten, sondern an einer schizophrenen Psychose erkrankt waren. Er rät dazu, auffälliges Verhalten bei jungen Menschen ernst zu nehmen und rechtzeitig einzugreifen, um Schlimmeres zu verhüten.

Anders Breivik wird aller Wahrscheinlichkeit nach in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen werden und hier auch nicht mehr herauskommen. Dass eine Behandlung mit Medikamenten seinen Wahn erschüttern kann, bezweifelt der Psychiater Leygraf. Falls doch, könnte das Breivik erstmals klar vor Augen führen, welch monströse Taten er begangen hat. In Deutschland müsste er sich einem solchen Moment der Wahrheit nicht unterziehen. Das Bundesverfassungsgericht entschied im März, dass eine Zwangsbehandlung mit Medikamenten im psychiatrischen Maßregelvollzug gegen die Verfassung verstößt.

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