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Fatales Flüstern. Schizophrene rutschen meist in einen Verfolgungswahn.
© ddp

Psychiatrie: Stimmen im Kopf

Schizophrenie-Patienten sind Vorurteilen ausgesetzt – sie gelten als aggressiv und schwer kontrollierbar Mithilfe von Medikamenten können viele von ihnen aber ein fast normales Leben führen

Er glaubte plötzlich, er sei transparent. Als könnten sie durch ihn hindurchsehen, in seine Vergangenheit, in sein Herz. Als könnten sie all die Sünden sehen, die er dort verbarg. Als könnten sie sehen, dass er Satan war. Er merkte es daran, wie die Leute ihn anschauten. Er merkte es an jeder Geste, jedem Wort. Er wusste, wenn er aus dem Raum ging, sprachen sie über ihn. Er wusste, wenn sie freundlich waren, dass sie logen. Er ging nicht mehr ans Telefon. Er verkroch sich im Bett, aber schlafen konnte er nicht. Er wusste, die Hölle wartete auf ihn.

„Was ich nicht wusste, war, dass ich längst dort angekommen war“, sagt Peter Rabeck (Name geändert). Der 53-Jährige kann wieder lächeln, wenn er von damals erzählt. Er ist ein gemütlicher Mann mit bedächtiger Sprache, ein Mensch, der seine Hölle hinter sich gelassen hat. Heute hat er nur Probleme, wenn er lange stehen muss. Seine Welt ist wieder im Gleichgewicht, die Beine sind es nicht. Motorische Störungen – eine Nebenwirkung der Medikamente.

Rabeck leidet unter Schizophrenie, seit 26 Jahren. Mal mehr, mal weniger. Geschätzt ein Prozent aller Menschen weltweit sind einmal im Leben von der Krankheit betroffen. Sie ist nach Depressionen die zweithäufigste psychische Störung, wird aber noch immer oft mit einer gespaltenen Persönlichkeit verwechselt. Schizophrene, so die gängige Vorstellung, spalten sich in mehrere konkurrierende Ichs auf: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?

Aber: „Mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung hat die Krankheit gar nichts zu tun“, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Campus Mitte, zu der auch ein Forschungsbereich Schizophrenie gehört. So vielfältig sind die Erscheinungsformen, dass Experten heute lieber im Plural sprechen: von schizophrenen Psychosen. „Das Grundkonzept ist, dass sich die Wahrnehmung des Alltags verändert“, erklärt Heinz. Den Erkrankten erscheint die Welt plötzlich fremd und voller mysteriöser Zeichen – Autos einer bestimmten Farbe, die ständig ihren Weg kreuzen, Zahlenkombinationen, die versteckte Hinweise enthalten, Blicke, die sich in ihre Richtung bohren. Meist rutschen sie in einen Verfolgungswahn.

Grund für die fremden Wahrnehmungen ist eine Stoffwechselstörung im Gehirn. Die genauen Vorgänge sind nur bruchstückhaft bekannt, eine große Rolle spielt jedoch der Botenstoff Dopamin. Er hebt eintreffende Reize als bedeutsam hervor und wird bei gesunden Menschen vor allem in bestimmten Situationen ausgeschüttet, etwa unter Drogen, bei Stress oder Gefahr. „Das ist, als laufe man nachts allein durch den Wald“, erklärt Heinz. „Da hört man plötzlich jedes Knacken, das einem tagsüber nie aufgefallen wäre. Und obwohl es wahrscheinlich harmlos war, wirkt es in dieser Situation konkret gefährlich.“

Bei Menschen in der Psychose ist der Dopamin-Pegel konstant um etwa 20 Prozent erhöht. Die Folge: Zu viele Reize werden als wichtig eingestuft. Für Millisekunden drängen sich zufällige Wahrnehmungen ins Bewusstsein, über die gesunde Menschen einfach hinwegsehen: Blicke, Zahlen, Gesten, Worte – alltägliche Beobachtungen, die in ihrer neuen Intensität bedeutsam und bedrohlich erscheinen. Die Betroffenen reagieren oft mit einem Wahn. Sie suchen unwillkürlich Erklärungen wie Weltuntergang oder Verschwörungen, die von außen betrachtet wirr klingen, an die sie aber mit unbedingter Festigkeit glauben. Manche hören Stimmen in ihrem Kopf, die ihr Handeln kommentieren. Für die Erkrankten sind ihre Wahrnehmungen meist völlig real.

Nicht jeder Mensch ist gleich gefährdet. Experten gehen davon aus, dass in etwa 30 bis 70 Prozent der Fälle die Gene der Eltern verantwortlich sind, aber auch frühe Krankheiten wie etwa Infektionen im Mutterleib, die neuronale Reifungsprozesse stören. Auslöser sind dann meist Drogen oder Stress wie Probleme im Beruf oder in in der Familie. Gesunde Menschen bauen das ausgeschüttete Dopamin wieder ab, psychotisch Veranlagten gelingt das irgendwann nicht mehr, sie schütten offenbar zu viel aus. Letztlich, sagt Heinz, spielen sowohl körperliche als auch psychische Faktoren eine Rolle.

Als die Krankheit bei Peter Rabeck erstmals ausbrach war er 27 und stand am Ende seines Studiums. Er fürchtete, seinen Abschluss nicht zu schaffen. Dann ging seine Freundin fremd. „Das war ein bisschen viel“, sagt er. Seit damals nimmt er Medikamente: Neuroleptika, die die Dopamin-Andockstellen (Rezeptoren) blockieren und dafür sorgen, dass weniger Reize übermittelt werden. Bevor diese Medikamente in den 50er Jahren entwickelt wurden, sperrte man Schizophreniepatienten oft weg. Auch heute noch haben sie unter Stigmatisierung zu leiden. Viele verschweigen daher ihre Krankheit. Schizophrene gelten als unkontrollierbar und aggressiv. Doch wenn, dann tun sie vor allem sich selbst etwas an: 10 bis 15 Prozent begehen Selbstmord. Das ist viel, aber die Mehrzahl kann trotzdem dank der Medikamente und psychologischer Hilfe ein fast normales Leben führen. Bundesweit klären mehrere Antistigma-Organisationen über die Krankheit auf. Manuela Richter-Werling von der Organisation „Irrsinnig Menschlich“ hört immer wieder die gleichen Klischees: „Unberechenbar, selbst schuld, dumm, gefährlich.“ Solche Vorurteile wollen die Vereine abbauen.

„Von Schizophrenie sprechen wir erst, wenn die Symptome länger als einen Monat dauern“, so Charité-Klinikchef Heinz. Ein Drittel der Erkrankten hat nur ein oder zwei solcher Episoden im Leben. Ein weiteres Drittel hat regelmäßig Probleme, kommt aber ganz gut im Alltag zurecht. Nur beim letzten Drittel gibt es einen chronischen Verlauf. Besonders gefährdet sind Jugendliche, deren Gehirn sich noch in der Umstrukturierung befindet. An der Charité gibt es ein Früherkennungszentrum, an das sich Betroffene mit ersten Anzeichen wenden können – etwa, wenn sie kurzzeitig Stimmen hören, oder dass sich ihre Gedanken fremd anfühlen.

Rabeck gehört zu den eher chronischen Patienten. Fast 15 Jahre lang hat er jedes Jahr ein paar Monate in der Psychiatrie verbracht. Oft gehen schizophrene Psychosen mit Depressionen einher oder mit Manien. Mal glaubte er, Gesandter Gottes zu sein, mal der Teufel. Jetzt geht es ihm besser. Schizophrene können besonders kreativ sein, weil sie die Welt mit anderen Augen sehen. Rabeck hat Kinderbücher im Selbstverlag herausgegeben. Die Medikamente stabilisieren ihn, aber irgendwann, hofft er, kann er sie absetzen. Sein letzter schwerer Schub ist 13 Jahre her. Er hat beschlossen, Optimist zu sein – wie sein Vater. Der sagte jedes Jahr, wenn der Sohn aus der Klinik kam: „Das kommt nicht wieder.“ Heute sagt Rabeck das auch.

- Früherkennungs- und Therapiezentrum für beginnende Psychosen Berlin-Brandenburg, www.charite.de/fetz, E-Mail: fetz@charite.de, Tel.: 030/450 517 078

Carina Braun

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