Nach Breivik-Gutachten: Norwegen zwischen Liberalität und Unverständnis
Nach dem Gutachten ist das Land hin- und hergerissen. Da ist die Liberalität, zu der der Grundsatz gehört, dass geistig Kranke nicht bestraft werden. Und da ist die natürliche Erwartung, dass dieser Massenmörder zur Rechenschaft gezogen wird.
Sein ganzes Land sei derzeit dabei, seine Perspektive auf das schlimmste historische Ereignis seit der NS-Besatzung im Zweiten Weltkrieg neu zu justieren, schrieb ein norwegischer Kommentator nach dem amtlichen Gutachten, das den 77-fachen Mörder Anders Behring Breivik für psychisch krank und somit schuldunfähig hält. „Ich war sehr überrascht über die Beurteilung und alle anderen Überlebenden auch. Einige waren sehr wütend. Aber die Wütenden sind es eigentlich ohne sachliche Grundlage. Das Gutachten wurde schließlich nicht veröffentlicht. Wir kennen nur das Ergebnis. Und ich vertraue den Psychiatern. Die haben es sich sicher nicht einfach gemacht“, sagte die 20-jährige Jorid Nordmelan dem Tagesspiegel. Am 22. Juli entkam sie im Sommerlager der sozialdemokratischen Nachwuchspolitiker auf der Insel Utoya nur knapp dem Massenmord.
Nach dem Gutachten, dessen Ergebnis die Staatsanwälte Inga Bejer Engh und Svein Holden am Vortag mitgeteilt hatten, ist das Land hin- und hergerissen. Da ist die Liberalität, auf die das Land stolz ist und wozu der Grundsatz gehört, dass geistig Kranke nicht bestraft werden. Und da ist die natürliche Erwartung, dass dieser Massenmörder zur Rechenschaft gezogen wird. So provoziert Breiviks Tat einen schmerzlichen Widerspruch zwischen liberalen Werten und der Notwendigkeit einer Gesellschaft, sich zu schützen.
Dennoch blieben die Reaktionen in Norwegen deutlich zurückhaltender, als sie es vermutlich in einem weniger konsensorientierten Land gewesen wären.
Überlebende aus dem sozialdemokratischen Jugendlager drückten ihre Verwunderung, wenn überhaupt, sehr vorsichtig aus: „Ich kann nichts anderes als annehmen, dass die Psychiater ihr Handwerk beherrschen. Ich habe damit gerechnet, dass Breivik irgendwie gestört sein muss, aber nicht straffähig? Ich finde es sonderbar, dass jemand einen Massenmord so detailliert plant und durchführt, und dann nicht straffähig ist“, sagt der Überlebende Tim Viskjer der Zeitung „VG“.
Per Sandberg von der mächtigen rechtspopulistischen Fortschrittspartei, deren aktives Mitglied Breivik einst war, forderte eine neue Gutachterrunde, entschuldigte sich aber sofort, nachdem die Konservative Partei ihm vorgeworfen hatte, er habe nicht gelernt, was alle Schulkinder über die Gewaltenteilung lernen würden: Die Politik dürfe sich nicht in die Belange der Justiz einmischen.
Brynjar Meling gehörte zu den wenigen Angehörigenanwälten, die Ähnliches forderten und es nicht zurücknahmen. Die psychiatrische Expertise müsse um weitere Experten ausgeweitet werden, um Fehler auszuschließen, forderte er.
Die meisten anderen Anwälte von Überlebenden und Angehörigen gaben sich versöhnlicher. „Die Leute suchen die ganze Zeit nach Sündenböcken. Nun wird es vielleicht etwas leichter für unsere Gesellschaft, weiterzukommen, nachdem wir endlich wissen, dass die Ursache für alles ganz einfach ein psychisch Kranker war“, sagte der Hinterbliebenenanwalt Carl Bore. „Ich finde, das zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert“, sagte auch Vegard Wennesland, Vorsitzender der von den Anschlägen betroffenen Jungen Sozialdemokraten in Oslo. Für ihn wie auch Jorid Nordmelan ist das Wichtigste, dass Breivik nicht wieder freigelassen wird. „Ich bin der Überzeugung, dass er deutlich länger – vielleicht für immer- in der Psychiatrie sitzen wird, als er es in einem Gefängnis getan hätte. Da hätte er nach 21 Jahren oder noch früher wieder entlassen werden müssen“, sagt sie und fügt hinzu: „Ich bin deshalb eigentlich froh über seine Einstufung als geisteskrank. Wer sonst könnte so etwas tun, was er getan hat?“
In der Tat meinen auch die psychiatrischen Gutachter, dass die Gefahr neuer Gewalttaten Breiviks so groß sei, dass seine Freilassung bei den obligatorisch, all drei Jahre vorzunehmenden Prüfungen von Zwangseingewiesenen nicht realistisch sei. Das zitiert die Zeitung „VG“ aus dem unveröffentlichten Gutachten.
Nach Angaben des norwegischen Psychiatrieprofessors Börn Rishovd Rund, der seit 20 Jahren das Krankheitsbild erforscht, ist „paranoide Schizophrenie“ etwas, das nie wirklich geheilt werden kann. „Niemand wird davon durch eine Behandlung wieder völlig gesund.“
Andre Anwar
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