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Wo jeweils die Linie zwischen psychischer Erkrankung und Straffähigkeit zu ziehen ist, wird, vor allem bei Einzeltätern, von Fall zu Fall umstritten bleiben.
© reuters

Attentäter schuldunfähig erklärt: Nach Breivik-Gutachten: Die Logik des Wahns

Anders Breivik soll laut eines Gutachtens psychisch krank und damit schuldunfähig sein. Wie klar verläuft die Grenze zwischen krank und kriminell?

„Nicht zurechnungsfähig“ sei der Mann. Das befinden Psychiater und Psychologen, die den Attentäter von Oslo und Utoya monatelang befragt und getestet haben. Nicht „das Böse“, bedeutet diese Einschätzung, war am Werk, als Anders Breivik diesen Sommer 77 Menschen ermordete, nicht ein kaltblütiger politischer Krimineller, sondern ein Kranker, ein psychotischer Mensch. Aufgeklärte Rechtstradition, wie sie auch nach bundesdeutschem Strafrecht Gültigkeit hat, betrachtet solche Täter als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig.

Nicht zurechnungsfähig heißt ja im Wortsinn: So einen kann man nicht dazurechnen, den kann man nicht zur Rechenschaft ziehen. Daher kommt es im Fall Breivik wohl statt zu einem Urteil zu einer Diagnose. Für diejenigen, die Überlebenden und Angehörigen der Opfer, die auf der Ferieninsel des sozialdemokratischen Nachwuchses starben, ist die Konsequenz daraus eine Zumutung.

Und das nicht nur, weil ein in die Psychiatrie weggesperrter Täter nicht als bestraft gilt. Alle drei Jahre steht er neu zur Begutachtung an, bei erfolgreicher Behandlung seiner paranoiden Schizophrenie, wie die Fachleute Breiviks Zustand kategorisieren, käme er unter Umständen sogar eines Tages frei. Selbst in der toleranten, nach Breiviks Tat beispielhaft gefassten skandinavischen Demokratie, macht dieses Maß an Aufgeklärtheit vielen zu schaffen. Fast die Hälfte der Norweger, 48 Prozent, gaben jetzt bei einer Umfrage an, mit dem Befund unzufrieden zu sein, 36 Prozent halten ihn für korrekt. Besonders unzufrieden ist der Täter selbst, der sich durch die Diagnose beleidigt sieht. Was soll ein politischer Märtyrer in der Psychiatrie? Wahn statt Ruhm würde das bedeuten, nicht einmal Reden vor Gericht wird er halten können. Wofür hat er dann jahrelang sein menschenfeindliches Manifest „2083. Eine europäische Unabhängigkeitserklärung“ verfasst? Darin hatte der heute 32 Jahre alte Mann bereits die Befürchtung geäußert, man werde ihn für unzurechnungsfähig erklären.

Breivik, sagen seine Gutachter, habe ein geschlossenes, eigenes Weltbild entwickelt, ein verrücktes. Er sah sich als „Retter Norwegens“, als messianischer Ritter eines geheimen Ordens, und lebte in einer innerpsychischen Parallelwelt, die er nach außen abschottete und verborgen hielt. Dass sich der Täter jedoch mit perfider Raffinesse getarnt hat, wenden nun andere Psychiater ein, weise darauf hin, dass er sich durchaus bewusst war, wie weit seine Ideen und Pläne von der Norm abweichen, dass er präzise dachte und mit krimineller Intelligenz handlungsfähig war. Faktoren wie diese lassen allerdings nicht unbedingt den Umkehrschluss zu, dass ein Täter psychisch gesund ist. „Geheime Verrücktheit“ nennt der Psychiater André Green ähnliche Phänomene.

Wo Schuldfähigkeit beginnt und wo sie endet, darüber debattieren Fachleute seit langem. Züge kollektiver Psychose wies das gesamte „Dritte Reich“ auf, das pathologische Fantasien von „jüdischer Überfremdung“ und der „Herrenrasse der Arier“ zur mörderischen und martialischen Staatsdoktrin erhob. Wenn Adolf Eichmann, der im kleinen Kreis exilierter NS-Genossen in Argentinien bedauerte, nicht alle 10,3 Millionen Juden umgebracht zu haben, und bekannte, „mit schuld daran“ zu sein, dass es zur „umfassenden Eliminierung“ der Juden, die „durch vielvieltausendjährige Schulung uns geistig überlegen sind“, nicht kam. Erst kürzlich hat die Historikerin Bettina Stangneth für ihr Buch „Eichmann vor Jerusalem“ (Arche Verlag, 2011) unter anderem die verblüffenden Tonbandprotokolle dieser Treffen im Exil ausgewertet. Da spricht ein Massenmörder auf radikal rationale Weise vom Irrationalen. Politisch motivierte Massenmörder und Attentäter sind nahezu sämtlich mit einem Weltbild ausgerüstet, das die Taten vor ihrem eigenen Bewusstsein legitimiert und rationalisiert. Der Logik ihres Wahns zufolge müssen bestimmte Individuen oder Gruppen „eliminiert“ werden, die für Schande, Unheil oder Bedrohung stehen. In einer tieferen Schicht finden sich meist uneingestandene Affekte wie Neid, Missgunst, Ängste vor Unterlegenheit, Gefühle von Minderwertigkeit oder Wertlosigkeit. Die jetzt aus dem Untergrund ans Licht gekommene Gruppe der postmodernen Neonazis empfand sich von einem Umfeld klammheimlicher Claqueure ermuntert, gezielt ausländische Geschäftsleute zu ermorden, kaltblütig geplante Lynchjustiz im Namen des Wahns einer „rassischen“ Idee auszuüben. Würden sie alle in die Psychiatrie gehören? Wohl kaum.

Wo jeweils die Linie zwischen psychischer Erkrankung und Straffähigkeit zu ziehen ist, wird, vor allem bei Einzeltätern, von Fall zu Fall umstritten bleiben, solange keine klassischen Symptome wie Halluzinationen oder neuronale Ausfallerscheinungen beobachtet werden. Die liberale Allianz aus Strafrecht und Psychiatrie liegt Lichtjahre entfernt von der unaufgeklärten Strafverfolgung vergangener Jahrhunderte, als man das mythische Böse verfolgen und bestrafen wollte. Aufgeklärtes Strafrecht, das ist der Gegenpol zur wahnhaften Logik solcher Täter. Es bietet die denkbar beste Distanz zu ihnen. Auch wenn das manchmal bedeutet: Diagnose statt Urteil.

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