Aus seinen Abgründen: Psychogramm eines Massenmörders
Zu wenig Strenge in der Erziehung, zu viele Trennungen in der Familie, zu viel Sex in der Gesellschaft. Das „Manifest“ des Täters von Oslo ist das Dokument einer extremen narzisstischen Störung.
Selten hinterlässt ein Täter ein so ausführliches, selbst verfasstes Psychogramm. Im Manifest des Massenmörders von Oslo, das er ins weltweite Netz stellte, bevor er loszog, um zu töten, findet sich mehr als nur ein Fingerabdruck, es findet sich der Abdruck der ganzen Hand: Anders Behring Breivik, 32, hat seine Ängste und Fantasien ausbuchstabiert.
In seinem 1518 Seiten langen Manuskript mit dem Titel „2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung“ liefert er eine Fülle von Material zur Deutung seiner ins real Mörderische mündenden Träume. Und vorerst muss man sich an dieses Schriftliche halten. Dem Wunsch Breiviks, sich am Montag vor dem Haftrichter öffentlich und in Uniform zu äußern, wurde nicht stattgegeben. Breivik hatte dort offenbar aller Welt seine Taten – einen Bombenanschlag auf ein Regierungsgebäude und danach das Massaker unter jugendlichen Besuchern eines Sommercamps der Arbeiterpartei – erklären wollen. Nun hörte ihm nur das Gericht zu, und dem Rest der Welt bleibt, sich über das Manifest zu beugen.
Breivik nennt sich darin selbst einen „Kreuzritter“ eines „ethnisch-christlichen“ Europa. Er zeichnet sein Traktat gegen „Kulturmarxismus“, Islam und Feminismus mit dem Namen „Andrew Berwick“, die Erfindung einer englischen Version des Nachnamens Breivik, den er vom leiblichen Vater hat, dem ersten Mann seiner Mutter. Der Vater verließ die Mutter und den Sohn Anders, als der ein Jahr alt war.
Breiviks Endlostext gegen ein von Marx, Freud, Muslimen und Frauen kontaminiertes Abendland gibt sich intellektuell. Kühl will er wirken, abgeklärt, belesen bis überlegen. Offenkundig wird dabei dennoch eine lauernde, von Kälte camouflierte Wut über „zu viel Freiheit“, die Breivik schon in seiner Kinderzeit, vor allem aber in der Gesamtgesellschaft des Westens am Werk sieht. Gemeint ist damit vor allem sexuelle Freiheit, die mit all den anderen „kulturmarxistischen“ Übeln konnotiert ist.
Vom Vater, der Mutter, dem Stiefvater, den vier älteren Halbgeschwistern und der Familie überhaupt, die als affektiver Hintergrund des geständigen Täters so relevant wird, erfährt man erst nach mehr als 1300 Seiten Theoriekonstrukten, die teils aus dem Internet zusammengestellt sind. Wo das Persönliche auftaucht, als fingiertes Interview im Stil eines Popstar-Interviews, ist Hellhörigkeit nötig; denn der Autor presst seine Aussagen in diszipliniert, distanziert, teils wissenschaftlich wirkende Form. Dabei verwendet er erhebliche Mühe darauf, seine Familiengeschichte zu politisieren und nirgends seine Wut und seinen Hass direkt aufscheinen zu lassen. Jeder Erwachsene wird politisch klassifiziert: Stiefvater Tore sei ein „moderater Rechter“, die zweite Frau des Vaters eine „moderate Kulturmarxistin und Feministin“.
Wie ein Biograf erklärt er seine Familie: Der Vater, der Ökonom Jens Breivik, brachte in die Ehe mit der Krankenschwester Wencke Behring drei Kinder aus einer früheren Ehe mit, die Mutter eine Tochter. Nach der Scheidung der Eltern lebte Anders bei der Mutter, die in London und Paris an der norwegischen Botschaft arbeitete. Vater Jens heiratete wieder, seine Frau, Tove, war ebenfalls an einer Botschaft tätig. Die leiblichen Eltern seien norwegische Sozialdemokraten: Sie repräsentierten in seinem System anscheinend den Staat.
Sein leiblicher Vater und dessen zweite Frau hätten um das Sorgerecht für ihn gekämpft, erklärt Breivik, jedoch vor Gericht in Oslo verloren. Regelmäßig habe er den Vater in Paris und in seinem Landhaus in der Normandie besucht, bis der sich erneut scheiden ließ, als Anders zwölf war. Zu Vater Jens habe er später noch Kontakt gesucht, aber seit dem 15. Lebensjahr nicht mehr mit ihm gesprochen: „Er war nicht froh über meine Graffiti-Phase von 13 bis 16.“ Zu allen Kindern habe Vater Jens die Verbindung abgebrochen: „Es ist also klar, wessen Verschulden das ist.“ Reifer als seine Halbgeschwister hege er jedoch „keinen Groll“ gegen den Vater. Ab dem 15. Lebensjahr, dem Jahr, als der leibliche Vater die Verbindung zum Sohn endgültig abbricht, schildert sich der Täter als Opfer von „Attacken durch Ausländer“, die er Jahr für Jahr auflistet (Seite 1393). Dann, mit 16 Jahren habe er sich entschieden, mehr für die Schule zu tun und den Kontakt zu kriminellen Ausländern abzubrechen.
Der Text ist weit davon entfernt, nur Karikatur eines klassisch konservativen oder rechtsradikalen Pamphlets zu sein. Mit nahezu höhnischer Überlegenheit und gespielter Gelassenheit demonstriert der Autodidakt, dass er seine Hausaufgaben gemacht hat. Er rekapituliert Karl Marx, Friedrich Engels, die Frankfurter Schule mit Adorno, Marcuse, Erich Fromm, Derridas zersetzende Dekonstruktion, die sexualisierte Weltsicht der Feministinnen. All diese Schreckgespenster bedrohen das Gefüge tradierter Ordnungssysteme und propagieren die Aufhebung der Unterschiede zwischen Geschlechtern und Ethnien.
Vordergründig geht es dem Autor um das Widerlegen der ihm verhassten „political correctness“ und der multikulturellen Irrwege der Gegenwart. Westeuropäer und Amerikaner sähen sich zu Unrecht als Produkte „repressiven Christentums“, eines konservativ patriarchalen Kapitalismus’ und, besonders empörend, „sexueller Unterdrückung in der Jugend“. Von Adornos analytischen Studien zur autoritären Persönlichkeit, deren Erträge sich inzwischen im „Erziehungskartell“ ausgebreitet hätten, fühlt sich Behring Breivik merklich narzisstisch gekränkt, angegriffen, beleidigt und bedroht. Auf „servile“, beflissene Weise würden wegen solcher Thesen „Sensibilisierungstraining“ und „Sprachcodes“ in der Erziehung verwendet, die auf „Massenpsychologie“ basieren. Kinder würden daher nicht mehr „gemäß ihrer Geschlechterrollen und biologischen Unterschiede“ erzogen. Ja, ganz Europa sei auf dem Weg der „Feminisierung“. Zu der gehört für den Verfasser die Zuwanderung von Muslimen – die rückgängig gemacht gehört. Das liest sich ähnlich wie die nationalsozialistische Pathologie, nach der „Verweichlichung“ und „Verjudung“ eine Bedrohung militärisch orientierter Männlichkeit darstellen. Zugleich schildert der ehemalige Hip-Hop-Fan Teenagerfreundschaften mit Muslimen, die seien besonders solidarisch gewesen, was bei ihm auch Neid und Identitätskrisen auslöste.
Solche Randbemerkungen sind es, die von Beginn an aufschlussreich sind.
Obsessiv befasst sich Breivik auf den hinteren Seiten mit Sexualität, ausführlich im Kontext mit Geschlechtskrankheiten. Er erwähnt Mädchen in Oslo, die „schon mit elf, zwölf Jahren Oralsex praktizieren“, er beklagt den schmutzigen Einfluss von Popmusikerinnen wie Madonna und Lady Gaga, und die Unzahl „weiblicher Schlampen“ mit Geschlechtskrankheiten. Am „Sex and the City-Lebensstil“ habe er, bekennt Anders Behring Breivik, bis zu seinem Gesinnungswandel selber teilgehabt. Inzwischen empfinde er dafür „nur noch Scham“.
Es ist also wenig verwunderlich, dass die Vorschläge für Umbau, Umkehr und Reform, die Anders Behring Breivik sich für Kirche und Gesellschaft ausgedacht hat, vor allem auf strikte Sexualmoral zielen. Breivik gibt an, noch nie eine feste Beziehung zu einem weiblichen Wesen gehabt zu haben. Der Gedanke der Gleichheit von Mann und Frau, heißt es auf Seite 1135, habe die Essenz der Kirche verwässert, besonders die liberale, protestantische Glaubensgemeinschaft verliert dadurch in seinen Augen ihren Auftrag. Hier wird „der Christ“ vatikanischer als der Vatikan und will Luther rückwirkend abschaffen: „Wir müssen zu unseren katholischen Wurzeln zurückfinden“. Weder die Ordinierung von Frauen oder Homosexuellen noch Scheidung, die Pille, Abtreibung oder Pfarrerinnen in Jeans seien tolerierbar. Ebenso wenig kirchliche Solidarität mit Muslimen und deren „israelfeindlichem Jihad“.
Wie in den hunderte Seiten langen Passagen über islamische Untaten gegen Christen, Juden und Hindus versucht er, anders als etwa deutsche Neonazis, alle Nicht-Muslime, auch Juden, für seine Sache zu rekrutieren. Er sei extrem stolz auf seine ethnische Gruppe, verkündet Breivik, auf die Norweger, die ein „nordgermanischer Stamm“ seien. Aber er wolle norwegischen und europäischen Interessen dienen. Er würde ohne zu zögern sein Leben opfern im Kampf für die englischen, slawischen, jüdischen, indianischen, romanischen oder französischen Stämme gegen eine – wie er es nennt – „EUSSR-US-multikulturelle Hegemonie“.
Auch wenn der Autor eine Theokratie ablehnt und den säkularen Staat beibehalten will, gehe es für Europa im Kern um eine „Erneuerung des Christentums“, das Schulen und Regierung propagieren sollen, auch um wieder ein „Patriarchat ins Recht zu setzen“, das „Bastarde und alleinerziehende Mütter“ nicht duldet. Ein christlicher „Baby-Boom“ wäre die Konsequenz. Die körperliche Züchtigung von Kindern – in allen skandinavischen Ländern gesetzlich verboten – müsse wieder rechtens werden, damit die „traditionelle Familie“ sich neu etabliert.
In seinem Stiefvater Tore und einigen seiner eigenen, besten Freunde sieht der Verfasser „lebende Manifestationen des kompletten Zusammenbruchs der Sexualmoral“. Jeder von diesen Männern habe mehr als 300, ja bis zu 700 Sexualpartner gehabt. Seine Mutter aber habe vom Stiefvater, der bis zum Ruhestand als Major in Norwegens Armee diente, eine Geschlechtskrankheit bekommen, aus der eine fatale Gehirnentzündung wurde, die den Verstand der Mutter – der Frau, mit der er bis zur Tat zusammenlebte – auf das Niveau „einer Zehnjährigen“ reduzierte. Auch eine seiner Halbschwestern habe sich mit einer solchen Krankheit angesteckt. „Meine Schwester und meine Mutter haben nicht nur mich beschämt, sondern sich selber und unsere Familie. Eine Familie, die als Sekundäreffekt der feministischen / sexuellen Revolution ohnehin schon zerbrochen war“, gibt er bekannt, als lebte er unter Figuren von Michel Houellebecq. Der zum Zerreißen ambivalent besetzte Stiefvater Tore wurde offenbar nach dem Abschied des leiblichen Vaters wichtigstes männliches Vorbild.
Obwohl dieser Stiefvater „die meiste Zeit mit Prostituierten in Thailand“ verbringe, und „eine primitive, sexuelle Bestie“ sei, sei er doch „sehr mögenswert und ein guter Kerl“. In einer Militäruniform, wie er sie vom Stiefvater kannte, ließ sich der Hobbyschütze Anders Breivik fotografieren und stellte die Bilder ins Netz. So wollte er gesehen werden, als der saubere, männlich abgegrenzte Teil des Stiefvaters. Dafür musste der Junge den Anteil des Mannes, den er als primitiv und sexuell bestialisch bezeichnet, mit aller Gewalt abspalten, ins Unbewusste drängen, was kaum gelingen kann, wenn er über diesen Teil Bescheid weiß. Emotion, besonders Empathie wird so für ihn zu einem existentiell bedrohlichen Terrain.
Das Heranwachsen in einem Klima mit „zu viel Freiheit“ und ohne Disziplin habe ihn, reflektiert er, „bis zu einem gewissen Grad feminisiert“. Mit seiner Tat, dem rücksichtslosen Feuern aus phallisch konnotierten Waffen, scheint er sich in seiner Fantasie wieder zum Mann gemacht, das, was er für echte Männlichkeit hält, behauptet zu haben.
Er beschuldige, betont Breivik, um Distanz bemüht, für die Laster seiner Familie und Freunde keineswegs die Individuen, sondern die vom Kulturmarxismus infiltrierte Gesellschaft.
Alles in allem, resümiert Behring Breivik, habe er eine privilegierte Kindheit gehabt, umgeben von „verantwortlichen und intelligenten Leuten“. Er habe „keine negativen Erfahrungen in der Kindheit“ gehabt. In der forcierten Bagatellisierung, mit der Behring Breivik die Familie zur Marginalie, seine Kindheit zur unauffälligen Mittelklassegeschichte machen will und Fehlverhalten wie das der „sexuellen Bestie“ als gesellschaftlich bedingt einordnet, liegt eventuell bewusste Vorbeugung.
Pathologisierung und Psychologisierung seiner Person nach der Tat schien Anders Behring Breivik um jeden Preis vermeiden zu wollen, um seiner als politisch deklarierten Botschaft Dignität und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Wer mit einer schweren Straftat um Anhänger und Aufmerksamkeit wirbt, muss damit rechnen, psychiatrisch klassifiziert zu werden. Sein Familienroman darf nur mit dem Fazit enden: Bei mir war eigentlich alles in Ordnung. Dass es alles andere als das war, tritt umso eindrücklicher ans Licht.
Seinen Wunsch nach dem Ende der Freiheit hat sich der Täter jetzt selber erfüllt. In den kommenden Jahrzehnten wird er nicht in Freiheit leben. „Niemand ist eine Insel“, schrieb John Donne Anfang des 17. Jahrhunderts, jeder Mensch sei Teil des Kontinents der Menschheit. Und jeder Täter ist Teil und Symptom einer Gesellschaft, auch der junge Mann, der auf einer Insel in Norwegen ein Massaker an Kindern und Jugendlichen angerichtet hat, als wollte er die Wahrheit leugnen, dass niemand allein auf einer Insel lebt. Es geht jetzt auch darum, herauszufinden, warum eine Psyche wie seine von den Zeilen, die in Donnes Gedicht folgen, keinen Begriff hat: „Die Freude eines jeden Menschen ist mir Freude, der Kummer eines jeden mein eigener.“
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