Schwester des Heineken-Entführers: Mein Bruder, der Mörder
Amsterdams Unterwelt-König steht vor Gericht, weil seine Schwester gegen ihn ausgesagt hat. Seitdem lebt Astrid Holleeder in Angst. Keiner soll erfahren, wie sie heute aussieht – wir treffen sie an einem geheimen Ort.
Frau Holleeder, gestern haben Sie im Hochsicherheitssaal in Amsterdam gegen Ihren eigenen Bruder vor Gericht ausgesagt. Er hat aus dem Gefängnis heraus Ihren Mord befohlen. Warum leben Sie noch?
Nur, weil ich das Haus nicht verlasse. Seitdem ich vor fünf Jahren angefangen habe, geheime Zeugenaussagen gegen ihn zu machen, bin ich in Gefahr.
Im Gerichtssaal saßen Sie in einer abgeschirmten Kabine, so dass weder Ihr Bruder noch seine Rechtsanwälte Sie sehen konnten. Wie bereitet man sich auf so etwas vor?
Ich saß in dieser Kabine schon neun Mal zuvor, insgesamt habe ich bereits 40 Zeugenaussagen gemacht. Ich wusste also, wie es sich anfühlen würde. Aber dieses Mal war es das erste Mal mit ihm in der Öffentlichkeit.
Ab sechs Uhr morgens haben die Leute in Amsterdam angestanden, um einen Platz im Gerichtssaal zu bekommen. Ihr Bruder, Willem Holleeder, ist der bekannteste Kriminelle der Niederlande, seitdem er 1983 den Brauereibesitzer Freddy Heineken entführte. Danach beherrschte er 30 Jahre die Amsterdamer Unterwelt. Nun ist er wegen fünf Morden, Mordversuchen und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation angeklagt. Auch dank Ihrer Unterstützung.
Ich nehme selbst nichts von dem Rummel wahr, ich werde ja in das Gebäude gebracht und kriege von der Umgebung kaum etwas mit. In meiner Kabine sehe ich nichts und habe keine Ahnung, was draußen vor sich geht. Unsere Familie lebte bislang in einer absurden Welt, in der wir einander aber perfekt verstehen. Man spricht nie aus, was man weiß. Aber es ist schwer, das nun jemand anderem zu erklären.
Sie galten jahrelang als Willems Vertraute. Während Sie längst als Anwältin für Strafrecht arbeiteten, hat Ihr Bruder Sie beinahe täglich mit seinen Anliegen behelligt. Seit 2013 haben Sie die Gespräche mit ihm heimlich aufgenommen, um Beweismaterial zu schaffen. Damals haben Sie entschieden, gegen ihn auszusagen. Jetzt müssen Sie die Sprachcodes Ihrer Familie für die Richter übersetzen.
Wenn mein Bruder sich an mich wandte, haben wir nie am Telefon geredet oder in Innenräumen, meistens im Gehen. Ankündigungen eines Mordes wurden nie direkt ausgesprochen. Er sagte dann zum Beispiel: „Er ist dran.“
Sie machen dazu jetzt mit der Hand eine Pistolen-Geste!
Die kommt automatisch, so hat er das auch immer getan. Eine andere verklausulierte Formulierung ist „ein Schlag aus dem Dunkel“. Das heißt, wenn du es nicht erwartest, werden sie kommen, um dich zu töten. Die Opfer haben den Konflikt vergessen oder gedacht, alles ist wieder gut. Gerade das ist der gefährlichste Punkt. Er sagte immer: „Wenn ich nett tue, bedeutet es Gefahr.“ Und er sagte: „Du weißt, was ich tue.“ Ich wusste auch Bescheid, wenn er über jemanden sagte: „Er wird einer von den anderen sein.“
Den anderen Toten?
Ja, für mich ist es natürlich, dass man das Wort niemals ausspricht. Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich habe im Gericht bemerkt, dass es mir immer noch schwer fällt, das zu benennen. Genauso merke ich, dass ich mich immer noch automatisch zurückhalte, wenn ich über meinen Bruder rede. Ich versuche weiter, ihn auf eine Art zu schützen. Denn er ist extrem gefährlich, aber zugleich mitleiderregend. Ich kann ihn lesen, kenne jede Reaktion von ihm. Als ich gestern im Gerichtssaal seine Stimme hörte, habe ich Angst bekommen.
„Namen“, hat er gerufen. „Welche Namen?“
Ich weiß, dass er will, dass ich Namen nenne, dann ist mein Risiko noch höher, getötet zu werden. Eben nicht nur von ihm, sondern auch von den anderen Beteiligten. In einem Prozess Namen zu nennen, ist in unserer Welt ein Todesurteil. Aber ich verstehe zugleich, warum er sich so verhält. Ich kenne seine Defekte. Deshalb ist es für mich jetzt so schwierig, gegen ihn auszusagen. Ich weiß, warum er so wurde, wie er ist.
Wegen Ihres gewalttätigen Vaters.
Ja, und allem, was damit einherging.
Astrid Holleeder spricht, wie es Ärzte und Extremsportler manchmal tun, mit der Klarheit jener, deren Handlungen irreversible Konsequenzen haben. Sie wurde vor 52 Jahren als jüngstes von vier Kindern in Amsterdam geboren. Der Vater arbeitete in der Heineken-Brauerei, trank und terrorisierte die Familie mit Gewaltausbrüchen. Die Mutter und die Geschwister Willem, Sonja, Gerard und Astrid lebten deshalb in ständiger Wachsamkeit. Astrid bewunderte ihren großen Bruder Willem für seine Unabhängigkeit. 1983, Astrid war 17, entführte er mit seinem Freund und Komplizen Cor van Hout Freddy Heineken und erpresste 35 Millionen Gulden, heute etwa 16 Millionen Euro. Seitdem ist die gesamte Familie Holleeder berüchtigt, als handle es sich um einen verschworenen Clan. Tatsächlich hatte Willem längst die Rolle des Vaters eingenommen und schüchterte seine Familie ständig ein. Astrid ist die einzige, die Abitur gemacht und studiert hat. Sie hat lange leidenschaftlich Basketball gespielt und wurde Anwältin für Strafrecht. Im November 2016, da hatte sie wegen Lebensgefahr ihren Beruf schon aufgeben müssen, kam in Holland ihr Buch „Judas“ heraus – auf Deutsch erscheint es am 12. April. Soghaft beschreibt sie darin die alternative Normalität, in der die Familie lebte. Die zu kennen, ist notwendig, glaubt Astrid Holleeder, um die psychologischen Mechanismen ihres Bruders zu verstehen.
"Auch ich habe Dinge gemacht, die ich bereue"
Wie sind diese Muster entstanden?
Er hat durch unsere Kindheit einen echten Schaden erlitten. Neben den Kriminellen habe ich als Anwältin auch Psychiatriepatienten betreut. Da habe ich gesehen, was das Gehirn mit einem machen kann. Es ist ja nicht alles eine Entscheidung, was wie eine aussieht. Oft ist gar kein Wille beteiligt. Im Gehirn passiert etwas Chemisches.
Sie sagen immer „er“, wenn Sie Ihren Bruder meinen.
Ich will seinen Namen nicht zu oft aussprechen, das kommt mir zu nahe. Im Gericht sage ich „Wim“, die Kurzform von „Willem“.
Glauben Sie, dass Ihr Bruder ein Opfer seiner Hirnfunktionen ist?
Seiner Biologie. Seiner Natur und deren Nahrung. Unsere Nahrung ...
… Sie meinen den emotionalen Umgang der vier Geschwister in der Familie, die Erziehung …
Die hat bei uns vier Kindern ja nicht dieselben Folgen gehabt. Also muss es eine biologische Komponente geben. Weil wir in der Welt der Kriminellen lebten, war es für uns natürlich schwer, zu unterscheiden, was gut und was schlecht ist. Auch ich habe Dinge gemacht, von denen ich später wünschte, ich hätte sie nicht getan.
Was zum Beispiel?
Ich habe, da war ich schon über 20, in einer Spielhalle meines Bruders gearbeitet. Tatsächlich wusste ich ja, dass die mit Herrn Heinekens Geld gekauft worden war, das stammte aus dem Lösegeld der Entführung. Aber ich habe das nicht verbunden. Ich habe erst durch das Strafrecht, das ich später studiert habe, gelernt, dass ich auf diese Weise Teil hatte am kriminellen Reich meines Bruders. Ich hatte damals keine Vorstellung davon, dass ich etwas Falsches tat. Ich musste mir über Jahre aneignen, was normal ist. Das Jurastudium hat mir geholfen, moralisch zu wachsen. Es hat mir geholfen, klarer zu sehen und vielleicht sogar ein besserer Mensch zu werden.
Warum haben Sie ausgerechnet Jura studiert?
Weil ich an Philosophie gescheitert bin. Ich bin zu dumm dafür.
Sie kokettieren.
Nein, wirklich. Ich habe einfach nichts verstanden. Dasselbe gilt für Psychologie.
Aber Ihr Buch liest sich wie ein präzises Psychogramm Ihres Bruders, es zeichnet ein ausdifferenziertes Bild der Mechanismen und Rollen, in denen sich die verschiedenen Familienmitglieder bewegen.
Ich bin seit 30 Jahren in Therapie! Mich interessieren Psyche und Geist, und wie ich mit meiner speziellen Vergangenheit umgehe. Ich habe damit angefangen, als meine Tochter geboren wurde. Missbrauchte Personen wiederholen, was ihnen geschehen ist, das war das Letzte, was ich wollte. Die ersten beiden Therapeuten winkten ab: hoffnungslos. Es würde 15 Jahre dauern, bis man einen Erfolg sehen würde. Dann habe ich die Frau gefunden, zu der ich heute noch gehe. Die erste Frage, die ich an sie hatte, war: Was ist normal? Denn ich wollte wissen: Wie muss ich mich benehmen? Wie benehmen sich andere Leute?
Wie haben Sie sich denn benommen?
Ich war damals ziemlich aggressiv und hielt das für normal. Keiner hat gewagt, mich anzufassen, hey, nicht mit mir! Sie fragte mich, warum ich lache, wenn ich über Gewalt rede. Ich hielt das für eine gute Art zu reagieren. Ich war auch der Meinung, dass Unglück Menschen zusammenhält, nicht Spaß oder Freude. Unglück.
Das Gefängnis schützt ihn und andere
Was hat sie Ihnen in Bezug auf Ihren Bruder und das Buch geraten?
Es nicht zu veröffentlichen. Sie sagte, ich würde mit den Folgen nicht leben können. Ich würde mit meinem Verrat nicht leben können.
Sie reden doch jetzt ganz offen über den Verrat an Ihrem Bruder.
Anders ginge es gar nicht. Aber nachdem das Buch erschienen war, gab ich ihr recht. Denn wie kann ich damit leben? Daraufhin sagte sie: Das Gefängnis ist vielleicht der beste Ort für Ihren Bruder. Wenn er draußen ist, fängt er wieder an, die falschen Dinge zu tun.
Indem Sie ihn verraten, beschützen Sie ihn?
Ja. Ich schütze andere, aber auch ihn vor sich selbst. In diesem Sinne, sagt sie, ist er jetzt am richtigen Ort. Ich solle mir nicht zu viele Sorgen um ihn machen. Das Problem ist jedoch, dass ich ihn die ganze Zeit vor Augen habe. Ich sehe ihn, wie er in seiner Zelle auf dem Bett liegt, ich sehe ihn, wie er nicht das essen kann, was er mag. Sie sagt mir, ich solle es mir nicht auf diese Art ausmalen. Denn er weiß ja, wie er in diesem System funktioniert. Er war erst neun Jahre und später nochmal sechs im Gefängnis.
Reden Sie über so etwas mit Ihrer Schwester Sonja, die im Gegensatz zu Ihnen das kriminelle Milieu nie verlassen hat?
Nein, wir reden nie. Wir sitzen einfach nebeneinander und sprechen nicht. Wir haben nicht dieselben Interessen, sie hat nicht einmal mein Buch gelesen. Wo wir herkommen, ist es normal, nicht zu lesen.
Als Astrid Holleeder sich ausmalt, wie es ihrem Bruder im Gefängnis geht, fängt sie unvermittelt an zu weinen. Man könnte nun meinen, ihr Buch heiße deshalb „Judas“, weil sie ihren Bruder verraten hat. Tatsächlich heißt es so, weil Willem Holleeder ständig Leute gegeneinander ausgespielt hat. Sein größter Verrat ist der an seinem besten Kumpanen Cor van Hout: Der langjährige Komplize und Freund, mit dem er die Heineken-Entführung geplant hatte, ist zwischenzeitlich sein Schwager geworden, weil er Sonja, Astrids Schwester, geheiratet hatte. Mit ihr hat Cor die beiden Kinder Francis und Richie. 2003 wird er auf offener Straße erschossen. Es ist einer der fünf Auftragsmorde, für die Willem Holleeder nun angeklagt wurde. In den Verhandlungstagen seit Februar hat das Gericht vor allem seine bemerkenswerte Gefühllosigkeit herausgearbeitet.
Eine der verstörendsten Szenen, die Sie beschreiben, ist, als Ihr Bruder, nachdem Cor ermordet worden war, von Ihrer Schwester Geld für die Auftragsmörder will. Die Frau soll für den Mord an ihrem Mann auch noch selbst bezahlen!
Er hat ihr das so erklärt: Die Killer müssen bezahlt werden. Er brauche das Geld. Ich war dabei. Jedes Mal, wenn ich darüber spreche, habe ich es wieder vor mir. Ich hatte so Angst, dass wir aus dieser Situation nicht mehr lebend herauskommen würden. Er ist mit uns in einen Wald gefahren und hat ihr gesagt, sie müsse ihr Haus in Spanien verkaufen. Ich glaube, mein Bruder war sauer darauf, dass er nicht auch noch Cors Vermögen haben konnte. Nach dem ersten, gescheiterten, Mordversuch sagte er zu mir: Erst dies, dann das.
Sie machen jetzt schon wieder die Pistolen-Geste. Und was heißt diese kreisende Geste, als würden Sie etwas wegwischen?
Zuerst töte ich ihn, anschließend nehme ich alles.
Warum glaubte er, dass das Geld dann ihm gehören würde? Es gab ja noch Sonja, Cors Frau.
Sonja zählt nicht. Sonja hat keinen Willen und nichts zu sagen, sie ist nur eine Frau. Sie macht natürlich alles, was er sagt. Aber als Cor tot war, wollte mein Bruder sein Geld haben, und Sonja hat einfach Nein gesagt. Sie hätte es nicht. Damit hatte er nicht gerechnet. Für Sonja ging es nicht ums Geld, sondern ums Prinzip: Ich gebe dir nicht das, wofür du meinen Mann umgebracht hast. Wenn er alles genommen hätte, hätte er sich erfolgreich durchgesetzt. Das war wirklich mutig.
"Wer will schon sterben"
Ihr Bruder ist oft morgens ganz früh unangekündigt bei Ihnen aufgetaucht, wenn er einen Rat wollte oder, dass Sie für ihn mit jemandem sprechen. Haben Sie sich ihm jemals widersetzt?
Das hat mich das Gericht auch gefragt: Warum ich nicht einfach „Nein“ sagte zu seinen Forderungen. Warum ich immer noch nett zu ihm war. Ich habe ihnen erklärt: Wenn Pablo Escobar Sie besucht, sagen Sie ihm nicht, dass er ein Arschloch ist. Sie sagen ihm, wie gut seine Frisur sitzt. Wer will schon sterben?
Sonja steht nun auch auf der Todesliste Ihres Bruders, nach Ihnen auf Platz zwei.
Ja, sie ist in jedem Fall eine Heldin, besonders, wenn man ihre Möglichkeiten betrachtet. Unser Austausch ist sehr einfach, wir verstehen uns auf dem Level von Instinkten, nicht intellektuell. Sie kümmert sich gern um ihre Nägel, ihre Haare, sie möchte hübsch sein. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen. Und doch kenne ich viel von ihrer Welt, auch ihre Freunde. Sie war ständig krank und hatte immer Angst, ohnmächtig zu werden, konnte nicht allein Auto fahren, deshalb habe ich mich viel um sie gekümmert. Wenn ich mit ihr zusammen bin, fühle ich mich noch immer zu Hause.
"Er tötet die Menschen, die er liebt"
Ihre Schwester ist, nachdem Cor ermordet worden war, über eine lange Zeit von Ihrem Bruder unter Druck gesetzt worden, auch ihre Kinder wurden bedroht. Erst durch Ihre Zeugenaussage sind Sie selbst in seinen Fokus geraten.
Das stimmt. Es war das erste Mal, dass ich Wut spürte gegenüber meinem Bruder. Aber nach zwei Wochen war die Wut wieder verschwunden, und er tat mir leid. Es ist nicht so, dass ich ihn hasse. Ich will auch keine Rache nehmen. Ich denke nur, dass das getan werden muss, damit er aufhört, zu morden. Er wird das wieder und wieder machen, weil es seine natürliche Reaktion ist. Es ist, als würde er seinen Vater immer und immer und immer wieder töten.
Wie meinen Sie das?
Ich glaube, da liegt der Grund für alles. Er vernichtet die, die ihm nahestehen. Das haben wir zu Hause beigebracht bekommen.
Aber für sich selbst haben Sie im Gericht gestern das Gegenteil gesagt: Sie hätten Ihr ganzes Leben damit zugebracht, Leute zu lieben, die Sie nicht leiden können.
Ich liebe die Leute, die mir das alles antun – und er tötet sie. Und jetzt will er mich töten, und ich will ihn einfach lieben.
Vermutlich lieben Sie sogar Ihren Vater.
Natürlich. Aber als mir die ersten Dinge bewusst wurden, als Kind, da habe ich ihn gehasst. Ich war nicht einmal religiös erzogen, aber ich betete täglich für seinen Tod. Ich dachte, Gott würde mir helfen, weil mein Vater so ein schlechter Mensch war. So einer kann ja nicht weiter am Leben bleiben! Er lebte noch lange genug, um uns Kinder zu seelischen Krüppeln zu machen.
Es sieht aus, als hätte er bei Ihnen nicht vollständig Erfolg gehabt.
Ja und nein. Viel hat sich nicht verändert.
Könnten Sie jemanden lieben, der nett zu Ihnen ist?
Das ist schwierig. Ich hatte zwei sehr schöne Beziehungen, aber ich bin nicht gut darin. Ich mache sie immer wieder kaputt. Ich genieße sie nicht, sie geben mir keine Ruhe. Es ist, als würde irgendetwas nicht stimmen. Ich bin viel entspannter, wenn ich nur meine Freunde um mich habe. Mit denen kann ich auch schöne Sachen machen. Im Moment geht es nur ums Überleben.
Wie sieht das Überleben aus – im Untergrund?
Ach, was das allein für meine Enkel bedeutet! Sie sind acht und fünf Jahre alt und dürfen nicht über ihre Oma reden. Wenn sie fragen: „Können wir zu dir nach Hause gehen?“, muss ich immer Nein sagen. Nicht einmal meine Tochter weiß, wo ich wohne. Der Achtjährige nennt mich „Oma H.“, weil er verstanden hat, dass er meinen Namen nicht sagen darf. Er spielt damit. Er fragt: „Warum bist du immer so traurig – wegen deinem B.?“ Er meint meinen Bruder. Er spricht das Wort nicht aus. Und ich denke, oh mein Gott, dies ist die nächste Generation, die in verschlüsselter Sprache spricht! Genau das, wovor ich ihn beschützen wollte. Im Moment redet ganz Holland von dem Prozess, die Medien sind voll davon. Das Mädchen ist fünf und raunt Sachen wie: „Meine Oma ist eine Spionin. Sie arbeitet für die Regierung.“ Und dann fahre ich diese gepanzerten Wagen, und sie wollen wissen, warum die Türen so schwer sind!
Gepanzerte Wagen? Im Plural?
Ich habe zwei normale und mittlerweile drei gepanzerte Autos.
Gleich drei?
In Amsterdam und anderswo. Aber ich kaufe keine teuren Autos.
Kugelsichere Autos sind doch teurer als normale.
Ja, da müssen Sie clever sein. Wer so ein Auto kauft, der braucht es unbedingt. Aber es sind nicht viele Leute, die eines brauchen. Secondhand sind sie deshalb ganz günstig. Sie finden sie meist in Deutschland, auf mobile.de. Es gibt alle möglichen Modelle in gepanzerter Version, sogar einen Smart. Ich kenne mich aus mit schusssicherer Kleidung und Autos. Wenn Sie geschickt suchen und Kontakte haben, gibt es diese Fahrzeuge ab 5000 Euro. Trotzdem ist es natürlich teuer, fünf Autos zu unterhalten.
Wie oft haben Sie bislang die Wohnung gewechselt?
Oh, häufig. Gerade suche ich wieder. Ich unterschreibe meist nur befristete Mietverträge, die laufen dann aus. Ich habe in dem Sinne keine eigene Wohnung, sondern ziehe immer in möblierte Apartments, aber ich habe eine eigene schmale Matratze, weil ich nicht immer in jemandes anderen Bett liegen möchte. Ich trage auch immer dieselben Sachen.
Gehen Sie noch ins Kino?
Das würde ich nie machen, da weiß ich nicht, was hinter mir ist. Dann kommt der „Schlag aus dem Dunkel“, nein danke.
Sie können vermutlich nicht einmal bei einem Friseur sitzen.
Nein. Der Friseur kommt nach Hause. Nicht in meine Wohnung natürlich, sondern in die von jemand anderem. Es gibt so viele praktische Dinge zu bedenken, bevor ich das Haus verlasse und irgendwohin gehe: eine schusssichere Weste. Ein Helm.
Und Sie treffen Verabredungen immer nur mit ganz kurzfristigen Ortsangaben. Lassen Sie sich Einkäufe liefern?
Nein. Eine Shoppingmall, die eine Tiefgarage hat, ist relativ sicher. Das Auto sollte nicht auf der Straße oder auf einem offenen Parkplatz stehen. Weil es unter der Erde oft nur einen Ausgang gibt, würden die Täter schnell gefasst. Natürlich werden auch in den Niederlanden Morde begangen, wo die Mörder direkt an dieser Ausfahrt gewartet haben. Aber in einem schusssicheren Wagen würde ich das überleben, das ist ok.
Warum haben Sie irgendwann angefangen, sich Notizen über Ihr Leben zu machen?
Ich habe das zunächst für meine Tochter getan. Ich hatte ihr nie etwas aus meiner Kindheit erzählt. Sie wusste, dass mein Vater Alkoholiker war, aber nicht, was passiert ist. Ich wollte nicht, dass sie mich als Opfer sieht. Das Bild von einer Mutter als verprügeltes Kind ist nicht gesund. Von meinem Bruder wusste sie nur, dass sie nichts über ihn wissen durfte. Nachdem bekannt wurde, dass ich gegen ihn aussagen würde, erschienen auch alle möglichen Geschichten über mich.
Mit dem Buch wollten Sie die Herrschaft über Ihre Biografie wiedererlangen?
Das war einer der Gründe. Als Autor behalten Sie die Kontrolle. Man kann in eigener Sprache seine Sichtweise beschreiben. Ich musste auch deshalb etwas veröffentlichen, weil ich gar kein Geld mehr hatte. Ich hatte ja meinen Beruf aufgeben müssen und kein Einkommen. Ich kann nicht mehr in die Öffentlichkeit gehen, keine Mandanten empfangen. Ich hatte keine Wahl. Tja, und dann ist es so durch die Decke gegangen, und ich kann davon leben, bis ich alt bin.
500 000 Exemplare wurden in Holland und die Rechte in viele Länder verkauft. Eine Adaption als Theaterstück ist angekündigt.
Ich habe das nie erwartet. Noch als ich beim Verleger auf der Matte stand, dachte ich: Wer will das lesen?
Sie unterschreibt ihr Todesurteil
Haben Sie das nicht ahnen können? Ihr Bruder war nach seiner ersten Gefängnisstrafe für die Heineken-Entführung ein Medienstar. Er hat Interviews gegeben und eine so genannte „College Tour“ vor Studenten gemacht. In Holland kannte jeder sein Gesicht.
Deshalb dachte ich, jeder kennt die Geschichte schon. Es war bislang auch immer seine Geschichte, und die Leute mögen sie, weil sie sich mit dem „naughty boy“, dem bösen Jungen, identifizieren wollen. Er hat keine Furcht, kein Gewissen, ist charismatisch und sieht ja sehr, sehr gut aus.
Mögen ihn die Leute jetzt noch?
Sogar viele Kriminelle gehen inzwischen auf Abstand. Es gibt einen Ehrenkodex, wonach man seine eigene Familie beschützt und nicht terrorisiert. Man macht das ja alles für die eigene Familie!
Sie wollten ihm mit dem Buch die Unterstützung aus dem kriminellen Milieu entziehen?
Auch. Viele, die vorher noch bereit gewesen wären, für ihn zu töten, ziehen sich jetzt zurück. Für so jemanden wollen sie nichts riskieren.
Sie haben gesagt, Ihr Buch sei Ihr Testament. Glauben Sie tatsächlich, dass Sie am Ende durch Ihren Bruder sterben werden?
Ja. Es ist nur eine Frage der Zeit. Bei meiner ersten Zeugenaussage vor Jahren habe ich gesagt: Wenn ich jetzt unterschreibe, unterschreibe ich damit mein Todesurteil.
Von denjenigen, die je gegen Ihren Bruder ausgesagt haben, lebt niemand mehr.
Alle, von denen er wusste, dass sie reden, hat er liquidieren lassen.
Warum sprechen Sie immer von Liquidationen, nie von Mord?
Wenn Sie jemanden ermorden, könnten Emotionen beteiligt sein. Es könnte im Affekt geschehen. Liquidationen kann man kühl in Auftrag geben, sie beinhalten kein Gefühl. Aber natürlich ist es Mord. Jetzt, im laufenden Gerichtsverfahren, hat er immer noch Hoffnung. Deshalb habe ich gestern im Gericht auch nicht 100 Prozent von dem gesagt, was ich hätte sagen können. Ich weiß, wenn ich ihm alle Hoffnung nehme, wird es noch gefährlicher für mich.
Sie sind trotz allem die am nächsten stehende Person, die er hat. Sie beschreiben im Buch, wie sehr Sie beide sich ähneln.
Ja. Das sagt er auf den Aufnahmen: Wir sind gleich, wir sind ähnlich. Und es stimmt. Aber er ist schwarz, und ich bin weiß. Ich bin auch sehr aggressiv, wenn ich mich schutzlos fühle. Er ist aggressiv, um Macht über Leute auszuüben. Er sagt zu mir: Du schreist auch. Und es stimmt. Wenn er meiner Schwester und deren Kindern etwas antut, werde ich automatisch aggressiv und will ihn töten – doch er tötet aus Spaß! Und wir haben beide keine Furcht.
Angenommen, Ihr Bruder bekommt lebenslänglich. Dann könnte die Bedrohung doch irgendwann nachlassen.
Nein, es wird im Gegenteil noch schlimmer werden. Eines Tages wird er aus dem Hochsicherheitsgefängnis in ein normales verlegt. Dann ist es leicht, aus dem Gefängnis heraus unsere Ermordung zu organisieren.
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