Ferien der Kindheit: Punkrock auf Texel
Auf einer Düne wurde ich erwachsen: erste Zigarette, erstes Dosenbier, erster Streit über Nirvana. Lässt sich die Freiheit von damals wiederholen?
Das erste Mal war 1996. Als Siebenjähriger. Die Bank selbst war damals noch egal, das Gestrüpp dahinter wesentlich spannender. Klasse, um sich Verstecke und Hütten zu bauen. Dieser Ort war perfekt gelegen. Im Rücken eine Düne, die vor dem Wind der Nordsee schützt. Die mannshohen Sträucher links und rechts hielten Neugierige – vorzugsweise Eltern – von unerwünschten Blicken ab. Der Campingplatz, auf dem alle wohnten, nicht weit entfernt. Nur ein paar Schritte bis zur Spitze der Düne. Die wurde später der Treffpunkt, nach der Hütten-Bauen-Phase. Den Campingplatz zu Füßen, dahinter die Nordsee, deren salziges Aroma einem mit voller Wucht entgegenschlägt. Die tosenden Wellen sind bis hier zu hören, das Licht färbt sich langsam rot, weil die Sonne am Horizont zu ertrinken scheint. Wie es wohl sein würde, heute dorthin zurückzukehren?
Das Gefühl, wenn die Fähre in Den Helder ablegt, hat sich so wenig verändert wie die Kulisse am Hafen. Die Bundesstraße N250 führt direkt in den Schlund des Schiffes, vorbei an den blau-weißen Hausbooten mit den vergilbten Gardinen und den Dutzenden Angelruten, die an Deck lagern, vorbei am alles überragenden, knallroten Segelschiff, in den Ohren das lauter werdende Kreischen der Möwen. Vom Rücksitz im elterlichen Auto aus betrachtet war das der ultimative Vorspann für den bevorstehenden Urlaub. Eine Mischung aus Abenteuer und Nach-Hause-kommen. Selbst heute, hinterm Steuer, stellt sich dieses Gefühl noch ein. Die Gardinen sind noch immer vergilbt, die Möwen kreischen und das rote Schiff überragt noch immer alle anderen. Die Überfahrt dauerte schon immer 20 Minuten, die Zeit vergeht heute schneller. Die längst fällige Steuererklärung, Ärger im Büro, offene Rechnungen und Werkstatttermine – nach kaum fünf Minuten auf der Insel ist das alles vergessen. Als wäre nichts davon je von Bedeutung.
Auf dem zentralen Platz wird ständig jemand von Fußbällen getroffen
Die Sommer auf Texel, der schönsten aller Nordseeinseln, ließen sich über unterschiedliche Details erzählen.
Über die Texelschafe, die stoisch in der Landschaft rumstehen und Gras fressen und rumstehen und Gras fressen, deren Wolle weder brennende Sonne noch Starkregen noch Orkan durchlässt, die zum Markenzeichen der Insel wurden und heute sogar in Neuseeland vorkommen, und die heute Radfahrer vom Deich im Osten der Insel beobachten.
Oder man berichtet über den Fischladen in Oudschild, in dem der Kibbeling mit Knoblauchdip immer noch herrlich nach Frittierfett und Belohnung schmeckt für all die Radtouren über die Insel, vorbei an den endlosen Feldern und einsamen, reetgedeckten Häusern, durch die Tannenwälder und Sandpisten. Nichts in dem Laden hat sich verändert, außer dass die Bedienung den Kunden heute ein Gerät in die Hand drückt, das blinkt und brummt, wenn die Bestellung fertig ist.
Man könnte erzählen von den kläglichen Versuchen, den Fisch am Strand selbst zu fangen, vom panischen Einholen der Angelschnur, die sich bewegt. Am Ende war es doch immer nur der Wind und nicht Barsch oder Scholle, der die Rute bog. Onkel Helmut, der stets wusste, wo sich im Wattenmeer die dicksten Würmer verstecken, die dann vorzügliche Angelköder abgaben, blieb grenzenlos geduldig.
Der Sommer auf Texel ließe sich beschreiben anhand der kleinen Ortschaft De Koog im Westen, in der sich auf wenigen hundert Metern und in nur einer Fußgängerzone nahezu das gesamte touristische Leben abspielt, auf deren zentralem Platz ständig Menschen Fußball spielen, und andauernd jemand Unbeteiligtes vom Ball getroffen wird.
Oder anhand der einzigen Diskothek im Ort, wo sich junge Holländer mit Touristen mischen, wo die Animateure und Barkeeper junge Touristinnen anbaggern und Halbstarke sich vor der Tür darin messen, wer mehr Rückwärtssalti schafft. Nachts wirkt die kleine Fläche vor dem Club wie der schlimmste Ballermann. Vermutlich war das damals auch so.
Oder man beschreibt die Insel anhand der Bowlingbar „De Koogel", in der sich früher alle versammelt haben, wenn ein Regentag die Badepläne und Fahrradtouren vermiest hat, und sich stattdessen mit Billard oder Bowling den Tag vertrieben haben. Vermutlich haben sie – wie in der Disco – die CD nicht mehr gewechselt, seit Whigfield mit „Saturday Night“ in den Charts standen. Und weil Texel eine Insel in der Nordsee ist, regnet es irgendwann sowieso, weshalb auch diesmal die Billardtische ein dankenswerter Zeitvertreib sind.
Ein Ort der Freiheit, des Erwachsenwerdens, der Rebellion
Aber man muss diese Sommer anhand der Holzbank erzählen, ein paar Gehminuten von all dem bunten Treiben entfernt, gerade nah genug dran, um bei Bedarf alles zu erreichen, aber weit genug weg, um unter sich zu sein. Als Kind realisiert man nicht, was diese paar Quadratmeter rund um die Bank so besonders macht. Sie waren es einfach. Ein Ort der Freiheit, des Erwachsenwerdens, der Rebellion. Einer Rebellion im Kleinen, die damit begann, hier und da ein paar Minuten zu spät nach Hause zu kommen und die vor neun Jahren, nur konsequent, mit einer feuchtfröhlichen Campingtour mit Freunden endete, um das gerade überstandene Abi zu feiern.
Völlig egal, wann man ankam, am frühen Abend trafen sich alle an der Bank. Manchmal fünf, manchmal fünfzehn Jugendliche. Nach dem Baden, wenn noch niemand Lust hatte, mit den Eltern im Vorzelt zu hocken. Oder wenn es am Strand zu windig war und einem der Sand zu sehr in die Augen peitschte. Texel lebt von seinen Stammgästen. Viele Familien kehren jedes Jahr zurück, manche bleiben mit ihrem Wohnwagen die kompletten Sommerferien, andere nur ein paar Tage. Mit der Zeit wurden aus den Urlaubsbekanntschaften Urlaubsfreunde. Das Zelt war kaum aufgebaut, da gab es nichts Wichtigeres, als sie alle endlich wiederzusehen.
Wenn Vanille-Swirl auf Mietverträge prallt
Auf Texel waren die größten Sorgen noch die, ob das Wetter morgen strandtauglich werden würde und das Taschengeld noch reicht für ein Vanille-Swirl-Eis oder eine Dose Limo. Oder für ein Heineken und ein Päckchen Caballero, das kam ein wenig später. Die erste Zigarette – natürlich auf der Düne. Caballero, eine niederländische Marke, die anderswo kaum jemand kennt. Hätten der flaue Magen und das schlechte Gewissen doch nur nachhaltiger gewirkt. Das erste Heineken-Dosenbier – auf der Düne. Stundenlange Diskussionen über Punkrock, Grunge und Nirvana, ohne irgendetwas verstanden zu haben – auf der Düne. Smells like teen spirit. Das erste Mal vor der Polizei weglaufen (illegales Grillen, keine große Sache) – auf der Düne. Eine dünne Narbe am Schienbein zeugt noch immer vom wenig erfolgreichen Hechtsprung über den Stacheldrahtzaun. Das erste Mal im Vollrausch nach Hause kommen (natürlich zu spät) – nach einem Abend, der auf der Düne seinen Anfang nahm. Das angemessen wütende „Darüber werden wir morgen noch zu reden haben“ der Eltern macht ruhigen Schlaf undenkbar. Feiner Schachzug, Mama.
Jahr für Jahr wurden die Urlaube weniger unschuldig. Fehler machen, sich freischwimmen aus der Obhut der Eltern, rote Linien suchen, überschreiten, mit ihnen Seil springen und maximal Hausarrest befürchten, den campende Eltern aus Großmut und Eigennutz gleichermaßen niemals durchsetzen würden. Das alles lässt sich auf 50 Quadratmeter runterbrechen.
Ob sich die Freiheit von damals noch einmal wiederholen lässt?
Wenn schon Steuer-, Job- und Alltagssorgen auf der Fähre über Bord gegangen sind, müsste sich diese Freiheit doch noch einmal erleben lassen? Nur nicht voreilig sein, nicht diese eine Chance zerstören. Vorbereitung ist alles. Die Verkäuferin in Texaco-Tankstelle, in der früher verlässlich auch Minderjährige Zigaretten kaufen konnten, durchkreuzt den Plan zuerst: „Caballero? Nur ohne Filter. Mit gibt es schon seit Jahren nicht mehr.“ Ohne ist einfach zu hart. Jede andere Marke tut es auch. Fehlen noch zwei Dosen Heineken. Warm. Egal, hat damals auch niemanden gestört.
Der Fußweg über den Campingplatz ist verwirrend, weil er sich wie von selbst läuft, so vertraut ist alles. Der rote Backstein kurz vor Platz Nummer F7 ist immer noch lose. Ob das sonst nie jemandem aufgefallen ist? Jede Bodenwelle, jedes Schild, jede Biegung ist so vertraut, als wären die vergangenen neun Jahre nie gewesen, es wieder 1996 und der kürzeste Weg immer noch der beste. Ist er nicht, die Dornensträucher lassen gerade für Kinderbeine genug Platz, Erwachsene kommen da nicht kratzerfrei durch. Eine Kurve noch, ein paar Meter über den mit Muscheln bedeckten Weg, dort muss sie sein. Müsste sie. Ist sie nicht. Wo zum Teufel ist die Bank? Irgendwer, offenbar jemand, der das sentimentale Potenzial von Ruheplätzen nicht nachvollziehen kann, muss sie abgebaut haben. Die Sträucher erobern wohl bereits seit einer ganzen Weile ihr Territorium zurück, nur Eingeweihte können noch erahnen, wo einst müde Beine von alten Menschen – das hieß damals 40 Plus – zur Ruhe kamen.
Das halbwarme Bier schmeckt blechern - macht nichts
Jetzt nicht nervös werden. Kein Lebensgefühl ist auf bloß zwei verwitterten Brettern gebaut. Der Ort schafft seine Aura selbst. Früher saßen wir auch auf dem Boden, einen Versuch ist es wert. Es ist nass. Und kalt. Das Gras steht kniehoch. Gibt es hier Zecken? Punkrock muss heute ausfallen. Zum Glück kam niemand auf die Idee, die Düne abzutragen. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Die kleine, sandige Mulde schützt vor dem Wind, der kräftiger bläst und salziger schmeckt als in der Erinnerung. Die Wolken haben entschieden, die Sonne heute nicht im Meer ertrinken zu lassen, nur vereinzelt entwischt ihnen ein Strahl, der dem Horizont eine warme Farbe gibt. Von weitem ist das Meer zu hören, das Rauschen wird nur ab und zu durchbrochen von lärmenden Kindern auf dem Weg zu den Toilettenhäusern, die sich vor dem Zähneputzen noch einmal austoben. Das halbwarme Bier schmeckt blechern. Macht nichts. Kein Cocktail auf den Bahamas, kein Rotwein in Italien, keine eisgekühlte Limo nach einem Marathon war je besser.
Von den alten Freunden ist natürlich niemand hier. Das ist lange vorbei. Ob sie wissen, dass die Bank hier nicht mehr steht? Ob ihnen dieser Ort etwas Ähnliches bedeutet? Manche von ihnen sind im Internet leicht zu finden. Ob sie sich überhaupt erinnern würden? Zu fragen wäre leicht. Aber was passiert, wenn die Zeit zwischen Vanille-Swirl und erster Zigarette auf die Zeit von Überstunden und Mietverträgen prallt? Da kann einiges kaputtgehen. Muss es aber nicht, wie sich zwei Onlinestalking-Minuten später herausstellt. Zwei der früheren Freunde, die sich hier kennengelernt hatten, sind heute verheiratet.
Tipps für Texel
HINKOMMEN Mit dem Auto von Berlin aus über die A7, von Westen über die niederländische A9 nach Den Helder. Von dort gibt es im 20-Minuten-Takt eine Fährverbindung. Fahrplan und Preise auf www.teso.nl
UNTERKOMMEN Die meisten Touristen wohnen in De Koog im Westen der Insel. Vom Ferienhaus bis zum Hotel ist in so ziemlich allen Preisklassen etwas zu haben. Der Campingplatz Kogerstrand liegt zentral zwischen Ortseingang und Strand. Stellplätze ab 26 Euro pro Nacht.
ANGUCKEN Bei schlechtem Wetter lohnt sich ein Ausflug ins Ecomare. Di - Fr 14 - 17 Uhr, Sa 14 - 18 Uhr, So 11 - 18 Uhr. Das Aquarium und Naturkundemuseum informiert über die Lebenswelt der Nordsee. Mehr unter www.holland.com
Christian Vooren
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