Serrahn in Mecklenburg: Ein Dorf für Alkoholiker
In der DDR wurde viel getrunken. Doch Alkoholiker galten als asozial. In einem Mecklenburger Dorf finden Suchtkranke bis heute Hilfe.
Als hätte der Autor eines kitschigen Heimatromans voll aufgedreht: Vögel zwitschern, die Maisfelder liegen still da, und die Dorfstraße ist übersät mit Pferdeäpfeln. Serrahn ist ein 199-Seelen-Nest in Mecklenburg, 50 Kilometer südlich von Rostock. Im Sommer ziehen hier Großstädter auf ihren Mountainbikes durch. Endlich abschalten.
Oder endlich aufhören. Denn die meisten Besucher kommen nicht nach Serrahn, weil das Flüsschen Nebel so malerisch in den Krakower See fließt. Sie kommen, weil sie nicht mehr weiter wissen. Der Alkohol hat sie kaputt gemacht. Serrahn ist ihre letzte Hoffnung.
Wer in das Dorf fährt, lässt die gotische Kirche rechts liegen, kommt vorbei an einem historischen Traktor und landet schließlich in einer Sackgasse. Vor dem ehemaligen Pfarrhof, einem Backsteingebäude, sitzt Silvio Neu – weiße Stoppelfrisur, Brille, Zigarillo in der Hand – auf einem Plastikstuhl. Der 54-Jährige raucht Kette. Seine Vormittags- ist nahtlos in die Mittagsruhe übergangen. Neu ist Patient in der sogenannten SOS-Station. „Ich war schon mal in Serrahn, damals nebenan in der Reha-Klinik“, erzählt er. Elf Jahre blieb er trocken, jetzt kam der Rückfall. Da entschied Neu, dass er nie wieder zurück in seine bisherige Wohnung will. Er braucht Sicherheit vor sich selbst – und glaubt, sie hier zu finden.
Arznei oder Geschenk - Alkohol ging immer und überall
Das kleine Serrahn ist einzigartig. Nicht nur wegen der SOS-Station, die Alkoholkranken in akuter Not ohne große Voranmeldung hilft, eine bundesweite Besonderheit. Sondern auch wegen seiner Geschichte. 1971 begann man hier, Suchtkranken zu helfen. In der DDR damals ein Novum.
Dabei wurde reichlich getrunken im Arbeiter- und Bauernstaat. Der SED-Führung galt Alkoholismus als Überbleibsel eines eigentlich überwundenen, dekadenten Systems. Trotzdem hatte die DDR 1989 mit monatlich zwei 0,7-Liter-Flaschen Schnaps den weltweit höchsten Pro-Kopf-Verbrauch von Spirituosen. Heute kommt der Durchschnittsdeutsche nicht mal auf einen halben Liter.
Die Alltagsdroge passte gut zum Kollektiv als gesellig-sorgenfreiem Raum ohne Konkurrenzdenken, zu einem Leben „in einer räumlich begrenzten, dafür an Zeit umso reicheren Welt“, schreibt der Berliner Ethnologe und Schnapshändler Thomas Kochan in seinem Buch „Blauer Würger“. „Die Spirituosen-VEB waren in einer größtenteils vor sich hin krebsenden Wirtschaft eine sichere Bank.“ Ob als Tauschmittel, Arznei oder Geschenk – Alkohol ging immer und überall, beim Arbeiter wie beim Stasi-Offizier.
Serrahn wird gebraucht
Diese Prägung wirkt nach. Die Zahl jener, die sich buchstäblich zu Tode trinken, ist in Ostdeutschland bis heute höher als im Westen. Im Jahr 2012 kamen in Mecklenburg-Vorpommern 37 Tote auf 100 000 Einwohner. Ein trauriger erster Platz. Auch die anderen Ost-Länder rangieren in der Statistik weit oben. Der Bundesdurchschnitt lag 2012 bei 18 Toten, Berlin knapp darunter. Süchtig nach Alkohol sind im vereinten Deutschland geschätzt 1,3 Millionen Menschen.
Serrahn wird gebraucht. Die SOS-Station mit ihren 15 Plätzen nimmt jedes Jahr mehr als 100 Leute auf, manche für ein paar Wochen, manche für Monate. Daneben gibt es heute eine Reha-Klinik, ein Haus für betreutes Wohnen und eine Übergangseinrichtung zur „Wiedereingliederung in die Gesellschaft“. 40 Angestellte haben die Einrichtungen insgesamt, manche von ihnen sind ehemalige Patienten. Selbst das Ehepaar, das den Bio-Hofladen des Örtchens führt, kennt die Suchthilfe von innen, beide waren früher Patienten.
Heinz Nitzsche ist der Gründervater dieser Kolonie. Und ein Praktiker, das sieht man gleich. Zum grauen Bürstenhaarschnitt trägt er ein kurzärmliges kariertes Hemd. Nitzsche wirkt jünger, als er ist. Vielleicht, weil er mit seinen 72 Jahren noch immer nicht in den Ruhestand gegegangen ist. Er ist jetzt oft im ostukrainischen Mariupol, wo er sich um eine Einrichtung der Diakonie kümmert. „Schon mit 15 hat’s mich zum Elend hingezogen, ich bin Obdachlosen nachgelaufen und habe sie in Gespräche verwickelt“, sagt er. „Das hat etwas in mir bewegt.“
"Kein Wunder, dass der nie besoffen ist"
Später, als gelernter Autoschlosser auf Montage, war Nitzsche fast der einzige Kollege, der sich auch nach Feierabend mit dem Alkohol zurückhielt. Trank er doch mal ein Bier, faltete er vorher die Hände zum Gebet. „Kein Wunder, dass der nie besoffen ist!, sagten meine Kollegen.“ Alkohol, das hat nie zu ihm, zu seinem Glauben gepasst. Statt in der Kneipe zu hocken, verteilte er lieber Bibeln an sowjetische Soldaten. Zehn Stunden wurde er deshalb mal von der Stasi verhört.
Seine 30 Jahre in Serrahn waren für Nitzsche eine Berufung. Evangelische Missionsarbeit an Suchtkranken quasi. „Nach Afrika konnte ich ja nicht.“
Säufer waren in der DDR zunächst Täter, weil sie dem Sozialismus schadeten. Nicht Opfer, denen geholfen werden muss. Wer ständig betrunken den Schichtbeginn verschlief, dem wurde keine Therapie angeboten, sondern ein längerer Aufenthalt im Arbeitslager. Ein System aus Unterstützung und medizinischer oder psychologischer Hilfe gab es, zumindest offiziell, bis zum Schluss nicht. Erst im August 1989 trat eine „Richtlinie über Aufgaben des Gesundheits- und Sozialwesens zur Verhütung und Bekämpfung der Alkoholkrankheit“ in Kraft. Vorher waren es einzelne engagierte Ärzte und Krankenhäuser, die sich auf den realen Bedarf einstellten. Hinzu kamen kirchliche Initiativen.
Hier hast du ein Pfarrhaus, nu’ mach ma’
Als Nitzsche vor fast 50 Jahren seine Arbeit aufnahm, gab es im Norden der DDR nur eine weitere Anlaufstelle für Alkoholsüchtige außerhalb einer Klinik. Im ganzen Land waren es gerade mal eine Handvoll Einrichtungen. Unter den christlichen Organisationen war vor allem die „Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr von Suchtkrankheiten“ aktiv. Dort wurde man auf den abstinenten, gläubigen Handwerker Nitzsche aufmerksam und heuerte ihn an.
1971 kam Nitzsche aus seiner Heimat Sachsen nach Serrahn. Hier hast du ein Pfarrhaus, nu’ mach ma’. Der damals 27-Jährige legte los. Entmüllte die alten Gebäude, reparierte die Dächer, die Schornsteine. Er fuhr rum, gabelte Alkoholkranke auf und nahm sie mit zum Pfarrhof, ließ sich in der LPG blicken. Zuerst haben sie über ihn, den „Wasserpastor“, gelästert. „Da konnte sich niemand vorstellen, nicht mehr zu trinken. Das gehörte einfach zum Leben dazu.“
Nitzsche war unbeirrbar. 1973 heiratete er. Seine Frau zog auf den Pfarrhof, das Paar bekam fünf Kinder. „Wir haben mit den Männern wie in einer Familiengemeinschaft zusammengelebt.“ In der Hosentasche hatte er immer einen Gummikeil. Wenn einer auf Entzug einen Anfall bekam, schob Nitzsche ihm das Stück in den Mund, damit sich der Mann nicht die Zunge ausbiss. Seine Kinder erlebten das ganz selbstverständlich mit – von klein auf. Mit den „Lieblingsonkeln“ fuhr die Familie gemeinsam in Urlaub. Abends traf man sich bei Nitzsches, sang ein paar Lieder, unterhielt sich. An anderen Tagen wurde zum Kaffee eingeladen, „da wussten sie, sie müssen sich duschen und zurechtmachen“.
Die Familien der Kranken waren oft zerrüttet, viele hatten kaum soziale Beziehungen. In Serrahn fanden sie zumindest einen Ersatz. Wahrscheinlich ist das ein Grund, warum so viele nach der Therapie im Dorf blieben. Auch die beiden Küchenfrauen heirateten Patienten. Und Nitzsches Kinder arbeiten heute selbst alle im sozialen Bereich, ein Sohn ist Therapeut in Serrahn.
Wie hat er sie alle trocken gekriegt?
Auf dem Hof wurde es schon nach wenigen Jahren voll. Nitzsches Haus war ein Geheimtipp, in Haftanstalten handelte man seine Adresse.
Auch im Dorf mischte er sich ein. Da war zum Beispiel Familie Haas, der Vater über Jahrzehnte Alkoholiker. Manchmal ging er auf die Kinder los. Wenn das Geschrei zum Pfarrhof herüberschallte, kam Nitzsche und ging dazwischen. Irgendwann bekam er den Mann vom Alkohol weg, wenigstens für die letzten Jahre vor dessen Tod. Auch Hansi, dessen Gesicht vom Alkohol ganz verquollen war. Oder den LPG-Vorsitzenden. „Die hab’ ich alle trocken gekriegt.“ Seine Bilanz: rund 2000 Patienten während der DDR-Zeit.
Nitzsche ist kein Psychologe, und Suchttherapeut wurde er erst in den 90er Jahren. Wie hat er das also geschafft? Er rückt seine Brille zurecht, schiebt den Kopf vor. „Alkoholiker brauchen keine großen therapeutischen Vorträge, die brauchen Liebe, Vertrauen, Werte.“
Und Beschäftigung. Weil Nitzsche seinen Pfarrhof irgendwie über Wasser halten musste, besorgte er Schweine und Kühe, legte einen Garten an, alle mussten anpacken. Irgendwann konnte er den Leiter einer LPG überzeugen, einige der Männer aushelfen zu lassen. Die Arbeit beschäftigte sie und brachte der Hofgemeinschaft Getreide als Bezahlung ein.
Mit der Wende kam die Professionalisierung
Dann kam die Wende, auch in Serrahn. Die Einrichtungen mussten sich an das bundesdeutsche System anpassen. Das sah keine einfache familiäre Kommune mit improvisierter Arbeitstherapie vor, sondern Ergotherapien und psychologische Betreuung. Heinz Nitzsche stellte immer mehr Leute ein. Aus seiner kleinen Mission wurde ein Unternehmen mit 50 Mitarbeitern. Das war nicht Nitzsches Stil. 2001 ging er. „In der Ukraine konnte ich noch etwas Neues aufbauen.“
Heute ist Frank Lehmann vor Ort, seit 2009 stellvertretender Geschäftsführer der Serrahner Diakoniewerke. Mit seiner Frau wohnt er nicht auf dem Hof, sondern ein ganzes Stück weit weg. Meistens erledigt er Papierkram in seinem gelbgestrichenen Büro unterm Dach der 1995 neu gebauten Reha-Klinik hinter der alten Pfarrscheune.
Lehmann spricht in einem ruhigen und zugleich eindringlichen Tonfall, wie ihn viele haben, die berufsmäßig Menschen helfen. Menschen, die müde schauen und nuscheln, weil ihnen Zähne fehlen, Menschen mit kaputten Körpern. Doch Lehmanns Job ist eher der eines Verwalters, es geht nicht anders, so ist das System. Ganz glücklich ist er damit nicht immer, dann beschwert er sich. Etwa über die vorgeschriebenen Einzelzimmer mit Fernseher. „Die helfen nicht gerade dabei, dass die Bewohner miteinander ins Gespräch kommen.“
Man muss sich ablenken, um von der Flasche wegzukommen
Silvio Neu unterhält sich gern mit anderen, von seiner Sucht erzählt er offen und abgeklärt. Es fing früh an mit dem Alkohol. Schon Vater und Großvater waren oft zu betrunken, um ihre Arbeit im LPG-Kuhstall zu erledigen. „Ich wusste, in welchen Gummistiefeln sie ihre Flaschen versteckten, da bin ich als 14-Jähriger auch mal ran.“ Bei der NVA trank Neu weiter, zwischenzeitlich war Schluss. Doch dann verließ ihn Mitte der 90er Jahre seine Frau, „das war der Knackpunkt“. Auf der Arbeit, im Werksicherheitsdienst bei Daimler in Stuttgart, bekam niemand etwas von Neus Sucht mit. Vor Dienstbeginn stand er extra früh auf. Es brauchte viel Überwindung und zwei Doppelte, bis er sich die Zähne putzen konnte, ohne zu würgen und zu schwitzen. Kaffee, warten, ab zur Arbeit.
Selbst nach einem Suizidversuch mit 4,5 Promille im Blut dauerte es noch zwei Jahre, bis Neu sich eingestand, dass er eine Therapie brauchte. 2003 also Serrahn, ein erster Erfolg. „Aber mein Job hat mich fertig gemacht, 2014 konnte ich nicht mehr.“ Es folgten Klinik, Psychiatrie, Reha. Schließlich brachte ihn seine Tochter zur Entgiftung ins Krankenhaus, von dort ging es wieder nach Serrahn.
„Während zu DDR-Zeiten so gut wie alle Alkoholiker an Arbeit gewöhnt waren, kommen heute immer häufiger Patienten unter 35 Jahren, die noch nie in ihrem Leben einen Job hatten“, erzählt Frank Lehmann. Kinder von Wendeverlierern, Kinder alkoholkranker Eltern. Menschen also, die in Serrahn nicht nur von der Flasche loskommen, sondern Grundlegendes lernen müssen. „Das fängt bei der Esskultur an“, sagt Lehmann. „Hände waschen, sich gemeinsam hinsetzen und erst aufstehen, wenn alle fertig sind.“ Die schwierigste Aufgabe ist es, mit Freizeit umgehen zu können.
Wenn Silvio Neu nicht raucht, paddelt er und hilft bei den Reparaturarbeiten unten am Steg. Das Ziel: in Bewegung bleiben. „Man muss sich ablenken, die Gedanken dürfen nicht in Richtung Alkohol.“ Er will es schaffen. Dieses Mal länger als elf Jahre.
Alkoholismus in der DDR
VERBOTE UND KONTROLLEN
In der Bundesrepublik wurde Alkoholismus 1968 als Suchtkrankheit anerkannt, fortan flossen Gelder in Behandlungsmethoden und Forschung. Die DDR reagierte vor allem mit Verboten: Seit 1952 war das Trinken am Arbeitsplatz tabu, gegen Ende der 60er Jahre trieb der Staat Kontrollen in Kneipen voran, Alkohol durfte nicht beworben werden, am Steuer galt die Null-Promille-Regel.
ENDSTATION LANDWIRTSCHAFT
So strikt Gesetze und Richtlinien waren, so eifrig wurden sie auch umgangen. Ausfälle alkoholkranker Kollegen wurden von Betriebskollektiven lange mitgetragen. Wenn gar nichts mehr ging, versetzte man die Betroffenen oft in landwirtschaftliche Betriebe. Daher gab es in der Provinz besonders viele Alkoholkranke.