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Geschmacksfrage. Die Bierwerbung im Schaufenster eines Kreuzberger Getränkemarkts soll lustig sein.
© Mike Wolff

Sexismus in Berlin: „Jetzt geht es doch wieder nur um euch, Männer“

Ein abstoßendes Plakat, eine zu erotische Stimme und ein irritierter Türsteher: Szenen aus einem Berlin nach #MeToo.

Alte Welt

Samstagmorgen in Kreuzberg, bei Getränke Lehmann an der Hasenheide hängt ein Plakat im Fenster, das einen nur mit Hotpants bekleideten Frauenhintern zeigt. Bierwerbung. Schlagzeile: „Neu: Der Astra Tatsch-Screen.“ Eine Kundin wendet sich an den Verkäufer. Nach den Übergriffen in der Neujahrsnacht am Kölner Hauptbahnhof vor zwei Jahren sei so ein Plakat doch voll daneben, sagt sie. Im Sommer habe sie schon mal darum gebeten, es abzuhängen. Wenn es nicht bald wegkomme, mache sie ihre Einkäufe künftig woanders. Der Verkäufer antwortet, dann wünsche er ihr einen schönen Einkauf woanders.

Ein zweiter Angestellter mischt sich ein. Das Plakat komme ganz bestimmt nicht weg. Sie sei erst die Zweite, die sich beschwere. Der Rest fänd’s lustig. Die Kundin will eine Frau in der Kassenschlange nach deren Meinung fragen, da stellt sich einer der Verkäufer dazwischen. „Wir woll’n hier doch keine Rebellion anzetteln!“, sagt er.

Das Plakat hängt noch immer da. Ausgerechnet in Kreuzberg, dem Bezirk, der eigens eine Arbeitsgruppe gegen sexistische und frauenfeindliche Werbung unterhält. Es bewirbt Astra-Bier, Sponsor des Fußball-Clubs St. Pauli, der sich in seinen Stadionstatuten ausdrücklich gegen Homophobie und Sexismus ausspricht.

Schon verstanden: Die Werbekampagne für Astra ironisiert das Sex- und Gewalt-Geprotze des Hamburger Kiezes. Manche Motive sind lustig. Das Bier, das zuvor ein ähnliches Image wie Schultheiss hatte, wird seitdem in Szenekneipen getrunken. Doch ohne Kenntnis dieser Kampagnen ist das Plakatmotiv im Getränkemarkt-Schaufenster eine Ermunterung zur Übergriffigkeit.

Sie habe Verständnis dafür, sagt die Kundin, dass Männer weniger sensibel für Sexismus sind, weil sie selbst in keine heiklen Situationen geraten. Deshalb ihr Hinweis. Mit einer solchen Kaltschnäuzigkeit hat sie in Zeiten von #MeToo, in denen sich Männer in der Regel öffentlich einsichtig zeigen, nicht gerechnet.

Männerfantasie

Früher Abend auf der Oranienstraße. Sie radelt mit ihrem Freund von der Arbeit nach Hause. An der Ampel kurbelt jemand ein Autofenster herunter, und ohne jede Vorwarnung packt ihr eine Männerhand an den Hintern. Sie weiß nicht, worüber sie mehr erschrickt. Über den ungenierten Übergriff oder weil sie nur knapp verhindern kann, mitsamt dem Rad auf den Asphalt zu krachen. Ihr Freund fährt hinter ihr. Er hat das alles gesehen. Er sagt nichts. Später streiten die beiden.

Sie will ihm erklären, warum sie nicht geschrien hat. Warum sie einfach weitergefahren ist. Er ist wütend, auf den Grabscher, aber viel mehr noch: auf sich. Und auch auf sie. Weil er denkt, sie habe von ihm erwartet, dass er den Typ zur Rede stellt. Dass er ihn verprügelt. Er glaubt, sie hielte ihn jetzt für unmännlich. Sie wünsche sich einen Freund, der sich in Gefahr begibt für sie.

Sie spürt seine Wut und schweigt. Dabei hatte sie sich vorgenommen, ihm zu erklären, wie das ist, wenn man auf einer Party seinen Weg zum Klo dananch wählt, wo die vermutlich harmloseren Typen rumstehen. Wie es sich anfühlt, in einer vollen U-Bahn unsichtbar sein zu wollen. Warum sie sich nicht wehrte, als ihr ein Kollege an die Brust fasste. Er denkt nur daran, was er gerade für ein Versager war. Weil er den Typ nicht zu Boden geschlagen hat. Sie spürt den Groll ihres Freundes, doch warum denn auf sie? Sie will ihm berichten, wie sie mal das Zugabteil wechselte, weil einer vor ihr zu onanieren begann.

Sie erwartet nicht, dass er das alles weiß. Und erst recht nicht, dass er irgendwen vermöbelt. Sie wünscht sich, dass er fragt, und dass er zuhört. „Jetzt geht es doch wieder nur um euch, Männer.“, sagt sie, als sie endlich versteht, woran er die ganze Zeit dachte.

Kündigungsgrund

Diese Berlinerin kann die Sorge der 100 Französinnen, darunter Catherine Deneuve, dass #MeToo einen neuen Puritanismus befördere, verstehen. Sie hat ihn erlebt. Zum Beispiel: 13, 14 Jahre alt wird sie gewesen sein, Klosterschülerin. Sie trug ein T-Shirt mit einem kleinen V-Ausschnitt, der sich mit Schnüren zuziehen ließ, wie es damals Mode war. Eine Ordensschwester griff die Enden des Bandes, um den Ausschnitt weiter zu schließen. Dabei zischte sie in angewidertem Ton: „Sex, Sex, Sex…“.

Jahrzehnte später wird ihr als Nachrichtensprecherin von ihrem Chef gekündigt, weil ihre Stimme zu erotisch sei. In diesen Wochen liest man immer von Männern, die ihre Macht nutzen, um Erotik zu erzwingen. Das Gegenteil, sieht man hier, kommt auch vor.

Sie deutet einen Blowjob an, er findet es erniedrigend

Feierlaune. In Clubs kommt es immer wieder zu sexuellen Belästigungen.
Feierlaune. In Clubs kommt es immer wieder zu sexuellen Belästigungen.
© imago/Westend61

Neue Sachlichkeit

Ein Bürogebäude tief im Westen der Stadt. Chef nimmt Mitarbeiterin beiseite. Beide arbeiten in technischen Berufen. „Können Sie sich vorstellen“, sagt er, „mit mir eine Affäre zu haben?“

Die Mitarbeiterin ist verblüfft. Sie weiß, dass der Chef verheiratet ist. Manchmal gehen sie zusammen in die Kantine, dort erzählt er häufig von seiner Familie. Der Chef und die Mitarbeiterin verstehen sich gut. Mit seiner Frau sei er jeden Samstagnachmittag zum Sex verabredet, erklärt er ihr jetzt. Doch das reiche ihm nicht. Deshalb habe er in seinem Hobbykeller eine Matratze liegen und eine kleine Videosammlung. Dorthin ziehe er sich oft zurück. Das sei aber nicht dasselbe. Deshalb wolle er fragen, ob sie nicht vielleicht Interesse habe.

Dieser Mann hat alles richtig gemacht. Jedenfalls wenn man Sex am Arbeitsplatz nicht grundsätzlich für falsch hält. Er hat die junge Frau nicht unter Vorspieglung falscher Tatsachen irgendwo hingelockt, hat sie nicht mal berührt. Ganz wie es die Schweden fordern, hat er ihr eine exakte Tätigkeitsbeschreibung geliefert. Jetzt kann sie Ja oder Nein sagen.

Nur: Wer wollte sich auf diese hyperpragmatische Anmache einlassen? Und ist es nicht bereits eine Grenzüberschreitung, als Chef seine Angestellte über sein Sexualleben auch nur zu informieren? Die Mitarbeiterin hat das Angebot ihres Vorgesetzten abgelehnt. Sie sagt, sie verstünden sich weiterhin gut.

Beichte

Eine Party in Steglitz. In kleiner Runde erzählt ein Gast, Schriftsteller, von einer Lesung, die nicht gut gelaufen war. Anschließend fragte ihn die Praktikantin seines Verlags, ob sie nicht noch ein Bier trinken wollten. Sie war überbordend freundlich gewesen. Das tat ihm gut. Sie unterhielten sich angeregt, fand er. Erst an ihrer Versteinerung, als er sie küsste, merkte er, dass er ihre Zugewandtheit falsch verstanden hatte. Vielleicht hatte sie nur Mitleid. Sie ist dann schnell gegangen. Wenn er jetzt von den vielen Übergriffen liest, kommt immer dieses unangenehme Gefühl in ihm hoch: Er hatte sich auch so verhalten.

Bundesverband der Frauenfreunde

In der Karl-Liebknecht-Straße 34, gleich neben dem Hofbräuhaus Berlin, hat Dag Schölper sein Büro. Schölper, Jahrgang ’77, ist Geschäftsführer des Bundesforums Männer und damit der oberste Interessenvertreter seines Geschlechts in Deutschland. Als die #MeToo-Kampagne vor ein paar Monaten „aufploppte“, erzählt Schölper, hätten sie zunächst hier in der Geschäftsstelle gedacht: „Ja, hatten wir das nicht vor fünf Jahren schon mal?“ Nur unter einem anderen Hashtag: #Aufschrei.

In den Wochen darauf gab es in Schölpers Verein Diskussionen darüber, wie sie sich zu #MeToo positionieren sollten. Ihr Dilemma: Würden sie eine Solidaritätsadresse schreiben, lenkten sie die Aufmerksamkeit womöglich auf sich und weg von den betroffenen Frauen. So ähnlich wie es die vereinzelten Männer taten, die in den ersten aufgewühlten Wochen mit „I am a feminist“ beschriebenen Plakaten auf Anti-Sexismus-Demonstrationen mitliefen und am nächsten Tag in der Zeitung abgebildet waren. Schölper und seine Mitarbeiter haben sich dagegen entschieden.

Zur Ausrichtung des Bundesforums heißt es in einem Eintrag auf WikiMANNia: Es stehe für eine Gleichstellungspolitik, die „in staatsfeministischer Tradition Frauen bevorzugt und Männer benachteiligt“. Schölper lacht. WikiMANNia sei das Lexikon der Maskulisten-Szene, einer Splittergruppe der ohnehin kleinen deutschen Männerbewegung, die im Bundesforum nicht vertreten ist.

Eines der Projekte seines Vereins heißt „Männer im Wandel“. Doch dafür, dass die #MeToo-Kampagnen das Verhalten der Männer verändert hat, sieht Dag Schölper keine konkreten Anzeichen. Es gab jedenfalls in der Geschäftsstelle am Alexanderplatz seitdem kein vermehrtes Anrufaufkommen von verunsicherten Männern.

Herr Schölper, darf man als Mann noch einen Film von Harvey Weinstein ansehen? „Der Film kann ja nichts dafür“, sagt er, zögert. Alles nicht so einfach. Man wolle ja einer Figur wie Weinstein keine weiteren Filmtantiemen zukommen lassen.

Verkehrte Welt

„Heute leider nicht.“ Diesen Satz wird der Gelegenheitstürsteher eines Kreuzberger Clubs an jenem Abend noch öfter sagen. Die Schlange ist überdurchschnittlich lang und überdurchschnittlich weiblich. Als Mann muss man hier besonders sein oder den Türsteher kennen, ansonsten wird es schwierig mit dem Einlass. Aber auch Frauen kommen nicht automatisch rein. Sie reagieren unterschiedlich. Eine schaut fassungslos, lächelt dann und sagt: „Boah, voll der krasse Joke... hätte es fast geglaubt“. Die nächste beschimpft ihn als Rassisten, weil Türsteher in ihren Augen Rassisten sind. „Die Party ist eh scheiße, meine Freunde haben mich hergeschleppt“, sagt sie beim Gehen.

Und dann ist da noch eine Abgewiesene. Als Reaktion auf die Entscheidung öffnet sie ihre Jacke, zeigt ihr Dekolleté, fährt sich mit der Hand durch die Haare. Der Gelegenheitstürsteher reagiert nicht. Auch nicht auf die Blicke, die sie ihm von hinter dem Absperrgitter zuwirft. Schließlich geht sie auf ihn zu und raunt: „Hey, da kann man doch bestimmt was machen“ und deutet mit ihrer Zunge einen Blowjob an.

Der Türsteher erlebt das häufiger. Aber diese Frau versucht noch mit ihrer Hand seinen Oberschenkel hinaufzufahren. Er findet es erniedrigend. Für sich und für sie. Er fragt sich, was für ein Männerbild diese Frauen eigentlich haben.

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