Twitter-Kampagne: Ein Jahr #aufschrei: Nie wieder leise sein
Vor genau einem Jahr startete auf Twitter die Initiative #aufschrei: Unter dem Hashtag machten Frauen und Männer auf einen Sexismus aufmerksam, der für viele alltäglich ist. Zwar verlor die Debatte an Intensität, doch als Grundrauschen hat sich die Kritik verfestigt.
Vor einem Jahr saß ich in der Nacht zum 25. Januar 2013 auf meinem Bett, blinzelte vor dem Schlafengehen noch einmal in den Laptop und war plötzlich von diesen Worten gebannt: „Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag“.
Nicole von Horst hatte diesen Satz gerade auf Twitter gepostet, dem bereits mehrere Tweets mit weiteren Erfahrungen sexueller Belästigung vorausgegangen waren. Während es dabei direkt in mir zu rattern begann, tippte ich auch schon die folgenden Worte ins Eingabefeld:
„wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor.“
In diesem Augenblick suchte ich einfach schnell nach einem Schlagwort, das die Kraft hatte, solche Geschichten zusammenzufassen und sichtbar zu machen. Mir war nicht bewusst, dass es schon bald für eine ganze Debatte stehen würde.
„Zu laut! Zu übertrieben! Zu hysterisch!“
#aufschrei. Mir gefiel an dem Wort, dass es dafür steht, aktiv das Schweigen zu brechen. Es bietet Raum, um etwas Unterdrücktes herauszulassen und sich davon zu befreien.
„Zu laut! Zu übertrieben! Zu hysterisch!“, echauffierten sich Kritiker_innen über die spontane Wortwahl. Dabei wage ich zu bezweifeln, dass eine Sammlung von Übergriffen und Diskriminierungen unter dem Schlagwort #findichnichtsogut dieselbe Wirkungskraft hätte entfalten können. Im Gegenteil: Das emotionale Identifikationspotenzial ist genau die Stärke von #aufschrei und der Geschichten, die darunter geteilt werden – und die damit einen Schneeballeffekt im Netz sowie darüber hinaus auslösten.
#aufschrei legt schonungslos offen, dass wir in puncto Geschlechtergerechtigkeit mitnichten dort ankommen sind, wo sich unsere Gesellschaft wähnt, wenn wieder einmal „Aber wir sind doch schon viel weiter!“ gerufen wird. Heute, ein Jahr und viele Debattenbeiträge später, steht für viele vor allem eine Frage im Vordergrund: Was hat #aufschrei bewirkt?
Der Fall Rainer Brüderle und die "Stern"-Reporterin
Der größte Erfolg von #aufschrei ist, dass eine breit geführte gesellschaftliche Debatte über Sexismus angestoßen wurde. Zu einem Thema also, das zuvor als überkommen und damit als nicht beachtenswert galt. Ein wichtiger Schritt, da ein Problem und dessen Lösung erst angegangen werden können, wenn es sichtbar ist und besprochen werden kann.
Auf Twitter entstand dazu allein in den ersten beiden Wochen mit rund 60 000 Tweets eine Gegenöffentlichkeit, die über zahllose Blogbeiträge weiter ausgebaut wurde. Durch die mediale Aufmerksamkeit für den Fall von FDP-Politiker Rainer Brüderle und dessen angeblich anzügliche Bemerkungen gegenüber der „Stern“-Reporterin Laura Himmelreich kurz vor Beginn von #aufschrei gelangte das Thema Alltagssexismus schnell in die klassischen Medien.
Für Betroffene brachte die Ad-hoc-Kampagne #aufschrei insbesondere die Erkenntnis, dass sie nicht allein sind und auch keine Schuld an ihren Erlebnissen tragen. Im kollektiven Austausch wurde deutlich erkennbar, was über Statistiken schon längst bekannt ist, aber doch meist noch abstrakt und schwer greifbar bleibt. 58,2 Prozent der Frauen in Deutschland wurden nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums schon einmal sexuell belästigt.
„Typen mit der Hand in der Hose wenn ich mit meiner Freundin an der Hand im Cafe sitz #aufschrei“
„Eine Gruppe Männer in der U-Bahn. Zwei halten Wache, einer fasst mir zwischen die Beine. Der Rest der U-Bahn schweigt. #aufschrei“
„Die zwei Typen, die mich erst beschimpften und dann anspuckten, weil ich nicht mit ihnen reden wollte. #aufschrei“
Viele Frauen waren dankbar für dieses Ventil
Viele Frauen äußerten unter dem Hashtag erstmals ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen und Diskriminierungen und waren dankbar für dieses Ventil. Die Perspektiven waren vielfältig und kamen auch von lesbischen Frauen, Transfrauen oder Frauen mit Behinderung. Medial wurden diese Menschen allerdings unsichtbar gemacht und fielen dem Narrativ des vermeintlichen heterosexuellen Geschlechterkampfs „Frauen vs. Männer“ zum Opfer.
#aufschrei politisierte Menschen aller Geschlechter und sensibilisierte sie für feministische Themen, auch wenn diese sich damit vielleicht vorher gar nicht so beschäftigt hatten. Es wurde wieder über Sexismus geredet, und das überall: auf der Arbeit, in der Familie, in der Kneipe. Einzig die Politik nahm enttäuschend wenig Stellung zu einer der wichtigsten Debatten der letzten Zeit, und das ausgerechnet in einem Wahljahr.
Das Medienjahr 2013 bewies dagegen, dass, obwohl die #aufschrei-Debatte nicht in der Intensität weitergeführt wurde, wie es zu Beginn geschah, sich die Kritik an Sexismus und dessen Ausformungen doch als Grundrauschen in der Berichterstattung manifestierte. Sei es in Artikeln, die eine durch Frauenbratwurst, Männerchips & Co. vorgegaukelte Gleichberechtigung als dämliche Konsumstrategie entlarvten, die dem Frauen-waschen-selbst-noch-Fußbälle-Humor des ZDF eindeutige Vorgestrigkeit bescheinigten oder die auch jüngst dokumentierten, was sich eine Frau, die unsere erste Verteidigungsministerin wird, deswegen heutzutage noch so anhören muss.
Bei Sexismus geht es auch um Machtstrukturen
Innerhalb der Sexismusdebatte tauchte immer wieder der klassische Vorwurf auf, die Menschen würden sich unter #aufschrei nur selbst zu Opfern machen – sie sollten sich stattdessen doch einfach wehren. „Wenn A (Belästigung/Diskriminierung) passiert, muss B (Abwehr) eingeleitet werden und dabei kommt dann C (Happy End) heraus.“ Dies klingt wie eine logische Formel, doch ignoriert diese völlig, dass beim Thema Sexismus immer auch die Ausnutzung von Machtstrukturen im Spiel ist, was nicht zuletzt die #aufschrei-Tweets beweisen:
„Arbeitgeber, die über sexualisierte Übergriffe informiert werden, nichts tun und den Mann befördern. #aufschrei“
„Der Lehrer, der einer Klassenkameradin im Unterricht an die Brüste fasste und sie ,Mein Schatz‘ nannte. Konsequenzen? Keine. #aufschrei“
"Nicht das Wehren-Können, sondern das Wehren-Müssen."
Dabei ist das Reden über Sexismus und sexualisierte Gewalt ein eindeutiges Wehren. Es bricht ein Tabu und legt den Finger in die Wunde – nicht nur die eigene, sondern besonders die unseres Status quo. Denn was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass sie von Frauen permanent erwartet, sich anzupassen/auf der Hut zu sein/zurückzuschlagen, während Männer „nun mal einfach so sind“? Die Bloggerin Ninia La Grande fasste dies treffend mit den Worten zusammen: „Es ist nicht das Wehren-Können, sondern das Wehren-Müssen.“
Wir sind spätestens heute, ein Jahr nachdem die Sexismusdebatte begann, am Punkt angekommen, wo wir uns nicht nur fragen müssen, wie wir aufgeklärt miteinander leben wollen, sondern auch, was konkret zu tun ist, um Sexismus und sexualisierte Gewalt nachhaltig zu bekämpfen.
Denn auch wenn Sexismus und sexualisierte Gewalt nicht dasselbe sind, müssen sie doch im Kontext diskutiert werden, da sie eng miteinander verwoben sind. So gibt es für die Politik zum Beispiel Aufgaben wie die Herstellung von Lohngerechtigkeit, die Ausweitung der Geschlechterquote und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Ebenso muss der Vergewaltigungsparagraf reformiert und der Schutz vor Stalking, online und offline, verbessert werden. Medien sollten endlich Abschied von ihrem geliebten Narrativ des Geschlechterkampfes nehmen, da es in einer Debatte um gesamtgesellschaftliche Probleme nicht förderlich ist.
In dieser Woche erschien eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov, die ergab, dass 24 Prozent der Deutschen aufgrund der Sexismusdebatte ihr Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht reflektierten. Unter den 18- bis 24-Jährigen waren es sogar 36 Prozent der Befragten. Diese Reflexion ist genau der notwendige erste Schritt für einen gesellschaftlichen Wandel und hin zu einer sexismusfreien Gesellschaft.
25. Januar 2014: Es ist nicht „nach #aufschrei“. Wir sind weiterhin dabei, sichtbar zu machen, wo Geschlechtergerechtigkeit immer noch nicht Realität geworden ist, es aber definitiv werden muss.
Anne Wizorek, 32, ist
Initiatorin des Hashtags #aufschrei. Sie arbeitet als freie Beraterin für digitale Medien. Die
Twitter-Kampagne ist 2013 mit dem
Grimme-Online-Award
ausgezeichnet worden.
Anne Wizorek
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