Neue Missbrauchsvorwürfe: So funktionierte das System Wedel
Obwohl sie von den Vorwürfen gegen Regisseur Dieter Wedel wussten, reagierten Produktionsfirmen und TV-Sender nicht. Warum? Und was sind die Konsequenzen?
Die schweren Vorwürfe erhoben die Schauspielerinnen Jany Tempel und Patricia Thielemann. Die damals 27-jährige Tempel berichtete, dass der Regisseur sie 1996 in seinem Hotelzimmer attackiert und zum Sex gezwungen habe. Thielemann berichtete von einem ähnlichen Vorfall 1991, bei dem Wedel während eines Castings in seinem Hotelzimmer versucht habe, sie körperlich zu bedrängen. Es war nach den Enthüllungen um den US-Produzenten Harvey Weinstein im Oktober das erste Mal, dass in der deutschen Filmbranche Schauspielerinnen im Zusammenhang mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs den Namen des Beschuldigten nannten. Wedel bestritt in einem schriftlichen Statement alle Anschuldigungen. Am 23.Januar gab die Münchner Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie aufgrund eines Anfangsverdachts die Ermittlungen gegen Dieter Wedel aufnehmen werde.
Was ist neu an den aktuellen Veröffentlichungen?
Mit den jüngsten Recherchen des „Zeit-Magazins“ bekommen die Anschuldigungen gegen Wedel eine neue Qualität. In der Ausgabe vom 25.Januar beschuldigen vier weitere Frauen, darunter die Schweizer Schauspielerin Esther Gemsch, den Regisseur der sexuellen Nötigung und des seelischen Missbrauchs. Gemsch habe sich bei einer versuchten Vergewaltigung während der Dreharbeiten an der Serie „Bretter, die die Welt bedeuten“ im Jahr 1980 bei einem Sturz schwer verletzt. Ihre Aussagen werden von einer Kostümbildnerin und einem Produzenten bestätigt. Wie der Schriftverkehr zwischen den Produktionsfirmen, den Sendern und Wedels Agentur dokumentiert, waren alle Beteiligten über die Vorfälle in Kenntnis gesetzt. In einem ärztlichen Schreiben an die inzwischen insolvente Produktionsfirma Telefilm Saar, das dem Saarländischen Rundfunk vorliegt, werden die Verletzungen Gemschs „eindeutig als Folge der Gewalttätigkeit vom 12.12.80“ benannt. Die Enthüllungen um Wedel belegen, dass es sich nicht um einen Einzeltäter handelt, sondern dass er von einem institutionellen Kartell des Schweigens gedeckt wurde.
Wie reagiert Wedel auf die neuen Vorwürfe?
Bereits am Montag trat Dieter Wedel als Intendant der Bad Hersfelder Festspiele zurück. Wie eine Sprecherin mitteilte, soll der 75-Jährige einen Herzanfall erlitten haben. Gleichzeitig äußerte sich Wedel auf der Website der Festspiele noch einmal ausführlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Zu diesem Zeitpunkt muss er nach der Anfrage des „Zeit-Magazins“ wegen einer Stellungnahme zu den jüngsten Anschuldigungen über die geplanten Enthüllungen informiert gewesen sein. Dennoch sprach er in seiner Erklärung von einer medialen „Hexenjagd“ auf seine Person. In einem solchen „Klima der Vorverurteilung“ könne er den Kampf um seine Reputation, wie er es nannte, nicht gewinnen. Außerdem sprach er in seiner Erklärung von Erpressung. Angeblich sollen fünfstellige Beträge für Aussagen gegen ihn geboten worden sein. „Andere vermeintliche Zeuginnen“ hätten in den letzten Tagen versucht, ihn zu erpressen, damit sie nicht gegen ihn aussagen. Die „Zeit“ betonte, dass im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen kein Geld gezahlt wurde. Zu den Enthüllungen im aktuellen „Zeit“-Dossier hat Dieter Wedel bisher nicht Stellung bezogen.
Wer wusste was?
Es gab den Doktor Wedel und es gab den Mister Hyde – in einer Person. Von Mister Hyde wussten wohl einige, Doktor Wedel kannten alle. Wie auch anders: Dieter Wedel war mit den „Semmelings“, „Wilder Westen inclusive“, „Der Große Bellheim“ und „Der König von St. Pauli“ eine Sonderkategorie in der Trias von Autor, Regisseur und Produzent. Er brachte ARD, ZDF und Sat1 nicht nur Quoten und Tagesgespräch, er garantierte ihnen öffentliche Geltung. Wedel hatte einen exklusiven Status, er war privilegiert.
Dieter Wedel, sagen Senderverantwortliche, hatte Freiheiten wie kaum ein anderer. Wenn er Drehzeiten und Budgets überzog, wenn aus geplanten zweimal 90 Minuten dreimal 120 wurden, wurde gemurrt und zugesehen, dass die übermäßigen Kosten anderswo wieder hereingeholt wurden – alles vergeben. Eine WedelProduktion war ein Ereignis, und wer sich ihn leisten konnte, der war vorne in Fernsehdeutschland. Hinzu kam, was heute noch die Regel ist: Es wird produziert „Im Auftrag von...“ Natürlich gab und gibt es mit den Redaktionen zahlreiche Runden der Stoffbesprechung, der Etatplanung usw., aber ist der Auftrag erteilt, werden höchstens noch erste Muster gesichtet. Der Sender wartet auf das fertige Produkt.
Produzenten sind erpicht, eine Produktion als closed shop durchzuziehen. Und sie zielen darauf ab, Probleme intern zu lösen, damals wie heute. Kündigte sich bei einem Wedel-Projekt ein höhergestellter Senderverantwortlicher an, dann wurden diese Visiten als „Staatsbesuche“ inszeniert: alles piccobello, alle bester Stimmung, ein Herz und eine Seele. Potemkinsches Dorf.
Und wenn einer beim Sender vorstellig wurde, dann Dieter Wedel: mehr Geld, mehr Drehzeit, mehr, mehr, mehr. Ego-Mann Wedel war eine Krise auf zwei Beinen, Sitzung auf Sitzung, Überschreitung genehmigt. Was sich heute einer zum Vorwurf macht: Es gab keine Disziplinierung, es gab fast immer nur Nachgeben, wobei er doppelt unterstreicht: Alles Gezerre, alles Verhandeln bezog sich auf die Produktion. Zahlreiche Mehrteiler habe er betreut, aber Beschwerden über Demütigungen und Schlimmeres habe er keine bekommen. Wer wusste was? Nicht wenige wundern sich darüber, was heute viele schon damals gewusst haben wollen. Die Branche ist irritiert von und über sich selbst.
Was sagen die Verantwortlichen?
Viele fragen sich nach den jüngsten Veröffentlichungen, wie es eigentlich um Transparenz und Aufklärungswillen der Fernsehsender in Sachen Dieter Wedel und „MeToo“-Debatte bestellt ist. Warum lässt der Saarländische Rundfunk (SR) die „Zeit“ SR-Akten von 1981 einsehen, die offenbar Wedel inkriminieren, ohne dann selbst tätig zu werden? Es habe eine erste Mail seitens der „Zeit“ am 12.Januar gegeben, in der um Akteneinsicht bezüglich des Films „Bretter, die die Welt bedeuten“ gebeten wurde, sagt ein SR-Sprecher. „In den Folgetagen hat uns ,Zeit‘-Redakteur Christian Fuchs telefonisch erklärt, dass es sich um ,MeToo’‘-Verdachtsfälle gegenüber Wedel handelt, die er mithilfe unserer Akten nachrecherchieren wolle.“ SR-Intendant Thomas Kleist hätte unmittelbar nach der konkreten Anfrage der „Zeit“ die interne Aufarbeitung auf den Weg gebracht, lässt der SR am Donnerstag mitteilen. Zudem habe der SR „eine kleine Reporter-Rechercheeinheit gebildet“ und ihr ebenfalls Akteneinsicht gewährt.
Der SR habe, so der Sprecher weiter, auch als Unternehmen sofort seine Verantwortung wahrgenommen, sprich, eine Task Force eingesetzt, die eine erste Sichtung der Akten vorgenommen habe. Außerdem habe der Sender zu den beiden mutmaßlichen Opfern der möglichen Übergriffe von Dieter Wedel Kontakt aufgenommen. Es stehe fest, dass sich die Telefilm Saar und der SR 1981 nicht richtig verhalten haben. Auch zu weiteren Zeitzeugen werde derzeit Kontakt aufgenommen. Ziel sei, die Systeme, Mechanismen und Verhaltensweisen auszuleuchten, die damals solche Delikte ermöglicht haben, um „gegebenenfalls in Verantwortung für jetzige und kommende Generationen Kontrollmechanismen sowie eine Atmosphäre der Transparenz und des Miteinanders zu schaffen“.
Das wirkt reichlich umständlich und verspätet. Wohlgemerkt, der SR trennte sich seinerzeit, nach Kenntnis der schweren Vorwürfe wie „versuchter Notzucht“ und „Körperverletzung“ an der Schauspielerin Ute Christensen von Wedels Produktionsfirma, nicht jedoch vom Regisseur selbst. Die ARD nehme die Diskussion um Missbrauchsvorwürfe sehr ernst, sagt der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm. In allen Landesrundfunkanstalten gebe es seit Langem Anlaufstellen und Vertrauenspersonen, an die sich Betroffene wenden können. „Fälle, die auf eine einzelne Anstalt begrenzt sind, werden dort aufgearbeitet. Zusätzlich werde ich das Thema auf der nächsten Sitzung der Intendantinnen und Intendanten Anfang Februar aufrufen.“
Sat-1-Sprecherin Diana Schardt sagt: „Aktuell sind uns keine Vorfälle während der Dreharbeiten zu ,Der König von St. Pauli’ oder anderer Sat1-Produktionen von Dieter Wedel bekannt. Wir verurteilen in unseren Geschäftsbeziehungen jegliche Art von sexueller Gewalt oder von Machtmissbrauch und tragen in unseren aktuellen Produktionen dafür Sorge, dass sich alle Mitarbeiter an unsere Compliance-Richtlinien halten, die Diskriminierung jeglicher Art, insbesondere sexuelle Diskriminierung untersagen.“
ZDF-Intendant Thomas Bellut sagte, „die Debatte über Machtmissbrauch und persönliches Fehlverhalten in der Film- und Fernsehbranche ist wichtig und schärft unser Bewusstsein. Das gilt unabhängig davon, dass es sich bei den aktuellen Vorwürfen um lange zurückliegende Vorfälle handelt. Als ZDF tragen wir dafür Sorge, dass unser Arbeitsumfeld frei ist von Diskriminierung jeglicher Art und Belästigung.“
"Ich betrachte die Entwicklung mit großer Sorge, dennoch ist es auf Grundlage der recherchierten Fakten zu früh, um in unserem Berufsbereich überhaupt von einem ,System' der Vertuschung zu sprechen", sagt Nico Hofmann, Geschäftsführer und Produzent Ufa, dem Tagesspiegel. "Dennoch habe ich bereits vor zwei Wochen alle Mitarbeiter der Ufa, vor und hinter der Kamera, sehr deutlich dazu aufgefordert, sich über mögliche Vorfälle - mögen sie auch noch so lange zurückliegen - bei einer von mir berufenen Vertrauensperson zu melden. Angstfreiheit und kompletter Vertrauensschutz sind die Stichworte der Stunde.“
Sind die Künste besonders anfällig für Grenzüberschreitungen und Missbrauch?
Ja. Aber weniger weil beim Film, Theater oder in der Bildenden Kunst alle nach Glamour gieren und dafür über Leichen gehen – und sei es, dass man die eigene Unversehrtheit auf dem Altar der Karriere opfert. Sondern weil der Glamour oder besser: der großartige Film, die gelungene Theaterarbeit, der überwältigende Gesang nicht ohne Körpereinsatz zu haben ist. Man steht im Rampenlicht und stülpt sein Innerstes nach außen. Man probt bis zur Erschöpfung, kommt sich nah, fasst sich an und es fasst einen an. Für diese Arbeit ist großes Vertrauen erforderlich und eine Schutzzone, die das Ensemble, die Filmcrew und vor allem die Verantwortlichen garantieren sollten, der Regisseur, die Produzentin, der Hochschulrektor.
Bei Filmdrehs kommt hinzu, dass sie in den seltensten Fällen am Wohnort der Filmschaffenden stattfinden. Wer am Theater probt, geht in der Regel abends nach Hause. Bei aufwändigen Filmproduktionen oder Fernsehserien lebt das Team hingegen nicht selten wochen- und monatelang zusammen, im Hotel, in eigens angemieteten Apartments. Die Außenwelt verschwindet, die Familie, der Freundeskreis, das sogenannte Privatleben fehlen als Ausgleich, es gibt wenig Chancen zum Abschalten. Die Crew wird zur Familie. Das wird oft als großartiges Gemeinschaftserlebnis beschrieben, kann aber auch Nährboden für Distanzlosigkeit sein, für Missbrauch. Dieter Wedels sexuelle Übergriffe fanden den „Zeit“-Recherchen zufolge häufig bei solchen langen Dreharbeiten in Hotelzimmern statt.
Welche Konsequenzen gibt es?
Der Bundesverband Schauspiel (BFFS) hat bereits nach den Weinstein-Vorwürfen auf seiner Website die Kategorie „Unter der Gürtellinie“ eingerichtet. Darunter finden sich Kontakte zu Hilfsstellen für Opfer von sexuellen Übergriffen, Belästigungen oder Gewalttaten. An einem Verhaltenscodex mit Handlungsempfehlungen wird gearbeitet. Vorstandsmitglied Heinrich Schafmeister gibt allerdings zu, dass diese Initiave vielleicht etwas zu spät komme. Ähnliches könnte man auch der Deutschen Filmakademie vorwerfen, die derzeit in Zusammenarbeit mit der Antidiskriminierungsbehörde, dem Bundesverband Schauspiel, der Produzentenallianz, der Initiative Pro Quote und den Berufsverbänden für Schauspiel- und Castingagenturen sowie für Synchronsprecher an der Einrichtung einer übergreifenden Beschwerdestelle beteiligt ist. Filmakademie-Präsidentin Iris Berben hatte mit ihrer ersten Stellungnahme in der „Zeit“ am 17. Januar lange auf sich warten lassen. Drehbuchautorin Heide Schwochow aus dem Vorstand der Akademie sagte, dass man derzeit „mit Hochdruck“ die Strukturen in der deutschen Filmbranche analysiere. Wie die Enthüllungen um Dieter Wedel zeigen, handelt es sich auch in Deutschland um ein institutionelles Problem. „Wir müssen sehr genau hinterfragen, was sich in der Branche ändern muss. Die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ hat bereits eine Frauenbeauftragte. Eine Sprecherin der Hochschule erklärte dem Tagesspiegel, dass trotz der Wedel-Debatte kein erhöhter Gesprächsbedarf von Seiten der Studierenden bestehe.
Gefahren des Missbrauchs bestehen überall dort, wo die künstlerische Arbeit Raum für körperliche Grenzüberschreitung offenlasse. So hat die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ 2016 einen Kodex für den Umgang von Lehrenden mit Schülern beziehungsweise zwischen den Schülern herausgegeben.
Wird das Thema bei der Berlinale eine Rolle spielen?
Im Zuge des Weinstein-Skandals und der „MeToo“-Bewegung plante die Berlinale bereits vor den jüngsten Wedel-Veröffentlichungen einiges zum Thema Belästigung und Missbrauch. Die Festivalleitung unter Dieter Kosslick nennt es „Safe Space Policy“ und betont, dass „gegenseitige Wertschätzung und Achtung der Anderen von Beginn an zum Selbstverständnis des Festivals“ gehörte. Um einen respektvollen Umgang miteinander zu gewährleisten, wird es Ansprechpartner geben für alle, die Diskriminierung oder Belästigung erleben oder beobachten. Auch sollen Kontakte zu Beratungsstellen angeboten werden. Die Anlaufstellen sollen für alle da sein, für Filmschaffende, Gäste aus der Branche wie für das Publikum.
Der Europäische Filmmarkt plant außerdem Podiumsgespräche zum Thema Frauen in der Filmindustrie. Dabei ist unter anderem die in Paris arbeitende deutsche Produzentin Daniela Elstner, die selber Missbrauch erlebt hat und die Initiative „Speak Up“ vorstellen wird, ähnlich der „Time’s Up“-Initiative in Hollywood.