ARD-Meteorologe Sven Plöger: "Ich bin extrem unorganisiert organisiert"
Wenn er das Wetter ansagt, schaltet niemand um: Sven Plöger übers Gleitschirmfliegen, einen folgenreichen Ausflug nach Helgoland – und warum er Nebel liebt.
Herr Plöger, warum gibt es Wind?
Weil die Atmosphäre harmoniebedürftig ist. Luftteilchen aus einem Gebiet mit hohem Luftdruck bewegen sich so lange in ein Gebiet mit niedrigerem Luftdruck, bis alles ausgeglichen ist. Je größer der Unterschied zwischen den Drucksystemen, desto heftiger strömen die Luftmassen in das Gebiet mit dem geringen Luftdruck und desto stärker weht der Wind.
Vor Kurzem haben Ihnen Kollegen eine Falle gestellt. Sie sollten live ein Unwetter am Bodensee kommentieren, es gab Bilder, wie die Reporterin wegflog. Ihr aktueller Wetterbericht ließ jedoch nicht auf ein extremes Wettereignis schließen.
Die Daten zeigten mir: Da kann kein Wind sein. Ich erlaubte mir, etwas Ernsthaftigkeit rauszunehmen: „Sieht fast so aus, als stünde da ein großes Windrad!“ Die Moderatorin hat gut gekontert: „Herr Plöger, angesichts dieser dramatischen Bilder ist keine Zeit für Scherze.“
Sie dachten nicht, dass Ihnen falsche Daten vorliegen oder Sie etwas übersehen haben könnten?
Nein. Dann kam ja auch schon der Guido Cantz von „Verstehen Sie Spaß?“ rein.
Jetzt haben Sie für die ARD eine Doku gedreht und dafür verschiedene windumtoste Weltgegenden besucht, zum Beispiel Südfrankreich.
Dort gibt’s den Mistral, einen kühlen, starken Wind. Bei bestimmten Wetterlagen wird die Luft durch das enge Rhonetal geschleust, der berühmte Bernoulli-Effekt entsteht: Je schmaler das Tal, desto schneller weht der Wind. Zum Mistral kommt es, wenn ein Tief über die Alpen abzieht und sich von Westen ein neues Hoch aufbaut. Es drückt die Luftmasse von Norden ins enge Tal.
In Marokko gerieten Sie in einen Sandsturm.
Das war fantastisch, ein großes Glück. Wir fuhren da runter, und es stürmte einfach drei Tage. Du hast nur Sand in den Augen, den Ohren, zwischen den Zähnen, in der Kamera – die musste danach generalüberholt werden. Es pfiff von den Bergen runter, die Sandmassen wurden bewegt …
… und um Sie herum bildete sich eine Düne?
So ungefähr. Interessanterweise häuft sich der Sand immer an der windabgewandten Seite, der Lee-Seite, an. Auf der zugewandten Seite ist erstmal ein Loch. Wenn ein Sturm ein Dach abdeckt, fliegen nicht dort die Ziegel weg, wo der Wind auftrifft, sondern auf der anderen Seite, weil dort ein Unterdruck entsteht. Deswegen ist die Lee-Seite besonders gefährlich.
Wann haben Sie Ihren ersten Sturm erlebt?
Mit sieben Jahren auf dem umgebauten Bananenfrachter Roland von Bremen. Mein Vater und ich wollten von Bremerhaven nach Helgoland.
Sie sind also in See gestochen bei …
… Windstärke 2. Die Nordsee war ein Teich. Dann ging’s los. Wir kamen schon bei Windstärke 6 an, wurden ausgebootet, gingen an Land und wurden ein paar Stunden später mit den anderen Tagesausflüglern wieder eingebootet. Einige Herrschaften brauchten ewig, um vom schwankenden Boot aufs schwankende Schiff zu kommen. Mittlerweile blies Windstärke 10. Die Leute haben so was von rumgekotzt, das war kein olfaktorisches Vergnügen.
Sie auch?
Nein. Mein Vater und ich standen überall rum, wo man noch stehen konnte, und waren zweieinhalb Stunden lang begeistert. Diese Elemente! Einen Tag später ist die Roland von Bremen in eine Kreuzsee gelaufen. Die Wellen gingen hoch und – pardauz! – wieder runter. Es gab einen furchtbaren Schlag, Schwerverletzte und sogar eine Tote.
Warum hatte das Schiff trotzdem abgelegt?
Die Vorhersagen waren 1974 nicht so präzise.
Weil nicht so viele Daten gesammelt und ausgewertet werden konnten wie heute?
Ja. Mit den Computern bekamen die Meteorologen neue Möglichkeiten. Außerdem verbesserten sich die Satellitenbilder. Ich bin trotzdem dafür, mehr Wetterstationen auf dem Wasser und auf dem Land aufzustellen. Nur so bekommt man ein genaues Gefühl. Die Satelliten sind 800 bis 36 000 Kilometer weg, müssen durch alle Luftschichten schauen. Wetterstationen sind da, wo das Wetter ist.
"36 Milliarden Tonnen CO2 jedes Jahr, die machen was!"
„Lothar“, ein verheerendes Sturmtief, haben Sie hautnah erlebt.
Es war der zweite Weihnachtstag 1999. Ich saß mit meiner Frau und Freunden in der Schweiz auf über 1000 Metern Höhe – und hatte „Lothar“ ja schon angesagt. In den Teletext hatten wir geschrieben: „Mit Sachschäden ist zu rechnen“, damit verlässt man als Meteorologe eigentlich seine Ebene. Es gab Orkan, 118 km/h, dann 120, 130, 140 und das Holzhaus begann, eigenartige Geräusche zu machen. Ich zog alle in den stabilsten, aber nicht schönsten Raum: das Gästeklo. Durchs Fensterchen sahen wir, wie eine Böe mit 180 km/h innerhalb von 30 Sekunden ein Drittel des Waldes einfach umstieß. Der Wind heulte nicht mehr, er kreischte wie 30 ICE im Full-Speed-Modus.
Was ging in Ihnen vor?
Im ersten Moment denkst du: Hey, ich bin Meteorologe, und jetzt steh’ ich in meiner Kleinheit mitten drin. Dann: Vielleicht sind sieben Milliarden Menschen, die sich in ihrer Kleinheit nicht immer ganz optimal zur Natur verhalten, doch gemeinsam in der Lage, diese Kräfte zu beeinflussen. Die Atmosphäre erwärmt sich und verändert die Zirkulation, plötzlich liegen die Tiefs woanders, die Stürme können vielleicht stärker sein. „Lothar“ war der Auslöser für mich, das Thema Klimawandel stärker zu beleuchten.
„Lothar“ und „Kyrill“ bei uns, Tropenstürme in Mittelamerika – und Sie sagen trotzdem: „Bei der Sturmaktivität liegt derzeit kein langfristiger Trend vor.“ Also alles wie immer?
Das ist auch so. Die Prognosen zeigen, dass sich unsere Stürme im Schnitt zwar verstärken, jedoch keine Häufung zu erwarten ist. Selbst bei Gewitterstürmen sind wir – auch, wenn wir in den letzten Jahren extreme Ereignisse hatten – noch am Oberrand der normalen Variabilität. Die Klimaforschung zeigt jedoch deutlich, dass wir diesen „Noch-Normal“-Bereich bald verlassen werden.
Können Sie das genauer erklären?
Wir haben aktuell oft Wetterlagen, die ich gerne „Standwetter“ nenne. Das bedeutet, dass die Hochs und Tiefs nicht weiterkommen. Der Jetstream, unser Starkwindband in der oberen Troposphäre, verändert sich. Das Windband mäandert, lange Wellen, sogenannte Rossby-Wellen, wandern um den Planeten und bestimmen die Bewegung der Hochs und Tiefs am Boden, die unser Wetter erzeugen. Doch diese Wellen bleiben derzeit oft stehen und mit ihnen unsere Hochs und Tiefs – „Standwetter“ eben. Wenn das Tief lange bei uns bleibt, fällt aller Regen an dieselbe Stelle: Hochwassergefahr. Bleibt das Hoch, so drohen Dürre, im Sommer Hitzewellen. Für diese Veränderungen könnte der Schwund des arktischen Eises verantwortlich sein.
Die Eisdecke der Arktischen See ist circa eine Million Quadratkilometer kleiner, als es im Schnitt in dieser Jahreszeit normal wäre.
Das verändert die energetische Situation: Wenn es sich am Pol überproportional erwärmt, muss dieser Energieunterschied mit verändert werden, der Temperaturunterschied zwischen Äquator und Pol nimmt ab. Dieser Unterschied ist jedoch der Antrieb für unseren Strahlstrom, also den Jetstream. Wird der Temperaturunterschied geringer, so ist der Jetstream störanfälliger, was zu spürbaren Wetterveränderungen führt. Die Atmosphäre hat weder Gefühle noch Gedanken, die macht einfach nur Physik. Wir emittieren gewaltig, beim CO2 sind es 36 Milliarden Tonnen jedes Jahr, die machen ja was! Früher war es so: Die Sonne strahlte auf den Pol, das Eis reflektierte, viel Energie, also viel Wärme ging direkt zurück ins Weltall. Heute fehlt viel reflektierendes Eis, die Energie bleibt im Erdsystem, die Region erwärmt sich überaus stark.
Warum ist es so schwer, die zukünftige Sturmhäufigkeit zu bestimmen?
Unsere Atmosphäre ist ein extrem komplexes System, in dem sich viele Prozesse gegenseitig beeinflussen. Wichtig ist das physikalische Verständnis: Der abnehmende Temperaturunterschied zwischen Äquator und Pol spricht für weniger Stürme, die zunehmende Energie in einer wärmeren Atmosphäre ist hingegen ein Argument für eine Verstärkung von Stürmen. Viele verschiedene Vorgänge machen eine Prognose schwer.
Was halten Sie eigentlich von Wetter-Apps?
Es wäre unfair, so zu tun, als seien die kompletter Schwachsinn. Doch die Genauigkeit, die suggeriert wird, ist nicht da. Man kann nicht eindeutig 15 Tage das Wetter vorhersagen. Außerdem ist es spannend bei schwierigen Wetterlagen: Ich habe einmal zehn Wetter-Apps getestet und hatte zehn verschiedene Wetter, hübsch aufbereitet, mit Wölkchen und Sönnchen. Und wissen Sie, was ich mein Lebtag nicht verstehen werde? Was mir 50 Prozent Regenwahrscheinlichkeit sagen soll.
Dass es regnen könnte oder auch nicht?
Davon hab’ ich nichts. Es könnte ein wechselhafter Tag sein, oder im Westen der Region scheint die Sonne, im Osten regnet es. Okay, dann steht da vielleicht: „60 Prozent Regenwahrscheinlichkeit“. Joaa, ein bisschen mehr, und dann?
Schauen Menschen in Ihrer Gegenwart ins Handywetter?
Jaja, absolut. Ich sage: „Heute früh wird es neblig.“ – „Aber meine App hat gesagt …“. Dann musst du dir halt selbst überlegen, wem du glaubst! Ich kann mich natürlich auch mal irren, aber eine App – die sind alle automatisiert und lesen einfach Modelldaten aus – schlage ich meist doch.
"Was wird aus dem Kind?"
Die Deutschen reden gern über Schnee, Regen und Graupelschauer.
Wir beschweren uns: Es ist zu kalt, zu heiß, zu nass, zu trocken, zu feucht, zu wechselhaft. Übers Wetter lästern kann jeder, es wehrt sich ja nicht.
Gibt es ein Wohlfühlwetter für die Deutschen?
23,74 Grad bei 43 Prozent Luftfeuchtigkeit, Anfang Mai.
Sie erleben nicht, dass Wetter je gelobt wird?
Doch. Wenn es neblig gewesen ist und plötzlich die Sonne scheint. Boah, endlich! Da fällt mir ein: Das Interesse fürs Wochenendwetter ist irre gewachsen. Wir wollen kein Risiko eingehen, eine schöne Mountainbike-Tour machen, nicht durch den Schlamm rutschen. Ich liebe ja schlechtes Wetter, Skifahren im Nebel etwa, dann hauen alle ab.
Sind Sie Meteorologe geworden, damit Sie immer was zu erzählen haben?
Ich hab’ ein Wetter-find’-ich-interessant-Gen. Schon als Kind hab ich in den Himmel geguckt. Dank intensiven Quartettkarten-Studiums konnte ich als Vierjähriger alle Flugzeugtypen erkennen. Und in der dritten Klasse gab es eine Unterrichtsreihe zum Thema Wetter, da musste ich Temperaturen und Regenmengen aufschreiben. Nach der Projektwoche machte ich einfach weiter.
Bis heute!
Ja! Meine Eltern waren besorgt: Was wird aus diesem Kind? Als uns ein schweres Gewitter erwischte, bei dem ein Stromverteilerhäuschen getroffen wurde und wir im Dunkeln da saßen, wusste ich, ja, du willst was mit Wetter machen. Auch meine Freunde ahnten: Der wird mal der Wetteronkel. Ich wollte nie ins Fernsehen, sondern das Wetter für Piloten voraussagen. Als 16-Jähriger habe ich am Flughafen Köln um ein Praktikum gebettelt. Als ich mit dem Studium fertig war, mussten die DDR-Beamten in den deutschen Wetterdienst, es gab einen Aufnahmestopp. Ich brauchte eine Alternative. Dann kam das Fernsehen.
Was hat Sie im Studium an Ihre Grenzen gebracht?
Der Formalismus der Mathematik! Ich habe alles abgeschrieben. Doch ich wusste, dass ich es irgendwann mal wissen muss. Ich bin extrem unorganisiert organisiert. Wenn ich’s wissen muss, weiß ich’s auch – und gab dann anderen Nachhilfe.
Wann haben Sie sich zuletzt selbst überrascht?
Täglich, ich schreibe ja keine Texte für meine Moderationen, mache alles frei. Ich sehe das Wetter, das ich erwarte, bin in einem Raum, in dem das Wetter herrscht, das kommt. Ich fühle es. Es ist windig, warm, 27 Grad. Habe ich alles erfasst, drehe ich mich um, schaue in eine andere Ecke, sehe: Gewitter! Und erzähle davon.
Sie leben permanent in Ihrem Arbeitsgebiet. Man kommt nie aus dem Wetter.
Gott sei Dank ist mein Interesse so pathologisch, dass mir das nichts ausmacht.
Tut Ihnen die Bezeichnung „Wetterfrosch“ eigentlich weh?
Nein. Mich schmerzt eher, wenn sachlicher Unsinn verbreitet wird. Wetter und Klima sind echt komplex. Dann tut es weh, wenn die Leute, die politische Entscheidungen treffen, Unsinn reden. Und der König des Unsinns ist ja nun amerikanischer Präsident geworden.
Haben Sie einen Traum?
Mit dem Flugzeug ins Auge des Orkans! Etwas erleben statt es theoretisch durchzuspielen. Deshalb bin ich auch Gleitschirmflieger geworden. Am Olymp in Griechenland hatte ich deftige Thermikverhältnisse, pro Sekunde wurde ich acht Meter hoch geschleudert. Wenn ich in der Höhe bin und runterschaue, kann ich mich einordnen. Der Alltag wird klitzeklein.
Esther Kogelboom