Folgen des Klimawandels: Auf dünnem Eis
Die Arktis heizt sich auf. Es gibt nicht genug Eis, das die Sonne reflektiert. Das bedroht vor allem den Narwal. Und es führt zu einer schnellen Veränderung des arktischen Lebensraums. Für viele Tierarten geht das zu schnell.
Professor Kim Holmén macht sich Sorgen um die Narwale. Denn die „können nirgend wohin“, sagt er. Ihr Lebensraum, der Ozean rund um den Nordpol, hat sich so schnell verändert, dass die Tiere mit dem langen Horn auf der Stirn kaum eine Chance haben, sich anzupassen. Für Holmén, den Direktor des norwegischen Polarinstituts, sind sie ein Sinnbild für die Auswirkungen der globalen Erhitzung in der Arktis. Er hätte auch über Eisbären sprechen können. Aber das macht ja jeder, also redet Holm lieber über die Narwale.
Für die Narwale war 2016 ein besonders schlechtes Jahr. Von Oktober 2015 bis September 2016 lag die Lufttemperatur über der Arktis um 3,5 Grad höher als im Jahr 1900. Im Vergleich zum Zeitraum von 1981 bis 2010 liegt die Temperatur über das Jahr gerechnet um zwei Grad höher, heißt es in der „Arctic Report Card“, einem jährlich von der amerikanischen Ozean- und Atmosphärenbehörde (NOAA) erstellten Bericht. Die Erwärmung verläuft rund um den Nordpol schneller als im Rest der Welt. Während die globale Durchschnittstemperatur im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung 2016 die Ein-Grad-Marke überschritten hat, sind es in der Arktis schon mehr als zwei Grad.
In der Arktis schmilzt das Meereis schnell
Der NOAA-Bericht enthält noch nicht einmal die Rekordtemperaturen, die seit Oktober in der Arktis herrschen. Seit November liegt die Temperatur in der Nordregion um 20 Grad höher als im langjährigen Schnitt. Zwar erreichte die Meereisschmelze im September – dem Monat mit der geringsten Meereisausdehnung – nicht das Rekordtief von 2012, sondern nur den zweitniedrigsten Wert, der 2007 schon einmal erreicht worden war. Aber seit Oktober sollte sich das Eis wieder neu bilden – und das tut es kaum. Die Temperaturen sind viel zu hoch.
Andrew King, Klimaforscher an der Universität Melbourne, schreibt im Online-Magazin „The Conversation“, dass eine Hitzewelle wie aktuell in der Arktis ohne die von Menschen verursachten Treibhausgasemissionen seit Beginn der Industrialisierung höchstens alle 200 Jahre zu erwarten gewesen wären. Eine Forschergruppe, die Wetterphänomene darauf untersucht, in welchem Verhältnis sie zur globalen Erwärmung stehen, die sich beim Forscherportal „Climate Central“ zusammengefunden hat, hat Klimamodelle mit real gemessenen Temperaturdaten „gefüttert“ und diese in die Zukunft fortgeschrieben. In einem weiteren Rechengang haben sie den menschlich bedingten Kohlendioxid-Ausstoß herausgerechnet. Dann haben sie die Wahrscheinlichkeit eines so dramatischen Temperaturanstiegs im Winterhalbjahr berechnet. Aus einem extrem seltenen Ereignis, das mit einer Wahrscheinlichkeit von einmal in 200 Jahren auftritt, wird nach ihrer Abschätzung bis Ende der 2040er Jahre ein Phänomen, das jedes zweite Jahr auftreten kann.
Immer mehr Tierarten wandern aus dem Süden ein
In Arctic Report Card diskutieren die NOAA-Forscher zudem die Rückkoppelungseffekte, die mit zunehmender Erwärmung immer relevanter werden. Zum einen wird das dicke mehrjährige Eis immer weniger. Das Meereis besteht zunehmend aus ein- bis zweijährigem Eis, das noch dazu immer dünner wird. Immer öfter bleiben Ozeanflächen auch in der zentralen Arktis eisfrei – und damit dunkel. Die dunkle Wassermasse kann das Licht der Sonne nicht in den Weltraum zurück reflektieren sondern nimmt es auf und trägt so zu einer weiteren Erwärmung der Ozeanoberfläche bei, die wiederum mehr Eis schmelzen lässt und die Neubildung erschwert. Hier finden Algen bessere Wachstumsbedingungen, was dazu führt, dass sich das gesamte Nahrungsnetz in der Arktis verändert. Zugleich wandern immer mehr Fischarten und Meeresvögel aus dem Süden ein, weil es ihnen dort zu warm geworden ist. Das gesamte Ökosystem ändert sich schnell – zu schnell für Tiere wie die Narwale.
Außerdem hat Marco Tedesco von der Columbia-Universität beobachtet, dass die Schmelzdauer der Grönländischen Gletscher deutlich zugenommen hat – um 30 bis 40 Tage im Nordosten Grönlands, und um 15 bis 20 Tage an der West-Küste. Er hat das Grönland-Kapitel in der Arctic Report Card zu verantworten. Grönland gilt wie das Meereis selbst als einer der möglichen Kipppunkte im Klimasystem, die das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung schon seit Jahren erforscht. Übersteigt das Tempo der Gletscherschmelze in Grönland diesen Kipppunkt, ist sie nicht mehr aufzuhalten. Das Grönlandeis kann den globalen Meeresspiegel über einen Zeitraum von ein paar Hundert Jahren um sieben Meter ansteigen lassen.
Der Permafrost taut immer weiter auf
In Sibirien, Alaska und im Norden Norwegens taut der Permafrost-Boden in immer größeren Tiefen auf. Das führt zum einen dazu, dass Gas- und Ölpipelines im Schlamm versinken, Straßen und Gebäude instabil werden. Es führt aber auch dazu, dass die Tundra „grüner“ wird, also die Vegetationsphase von Pflanzen länger dauert. Die Pflanzen nehmen dementsprechend mehr Kohlendioxid (CO2) auf, während sie wachsen. Allerdings tritt aus den Permafrostböden auch mehr CO2 und Methan (CH4) aus. Die Treibhausgasbilanz ist inzwischen negativ, heißt es in der Arctic Report Card, die vor wenigen Tagen veröffentlicht worden ist.
Die dramatischen Veränderungen in der Arktis haben globale Auswirkungen. Das gilt insbesondere für Europa und Nordamerika. Je wärmer der arktische Sommer desto kälter der Winter in Europa. Diesen Zusammenhang hat Vladimir Petoukhov vom PIK schon vor drei Jahren erstmals beschrieben. Außerdem hat die Erwärmung des arktischen Ozeans Einfluss auf die Stärke des Golfstroms, der von Golf von Mexiko bis in die Arktis reicht und die warmen Wassermassen nach Norden transportiert. Ohne den Golfstrom wäre Europa um mehrere Grad kälter. Paradoxerweise könnte der Klimawandel für Europa also tatsächlich auf lange Sicht zu einer Abkühlung führen.