Vietnamesische Küche in Berlin: "Für eine gute Suppe ist kein Weg zu weit"
Die Gäste stehen Schlange, um einen Platz bei "Monsieur Vuong" zu ergattern. Besitzer Dat Vuong über Fischsoße – und seine Flucht aus Vietnam.
Herr Vuong, Sie schreiben in Ihrem Kochbuch, dass Sie sich in Vietnam in den Geruch von Garküchen verliebt haben. Wie riecht Berlin?
Als ich Anfang der 90er Jahre hergezogen bin, erinnerten mich die Trabi-Abgase an die vielen Zweitaktmopeds in Saigon. Inzwischen riecht Berlin ziemlich neutral. Im Winter vielleicht ein wenig nach Kohleheizung. Im District 1 von Saigon, wo ich aufgewachsen bin, stehen überall Garküchen. Da wird ein Hühnchenspieß gegrillt, dort Suppe gekocht, Knoblauch strömt aus den Läden. Dazwischen der Duft von Kokos-Desserts ...
Löst Berlin irgendwo Heimatgefühle bei Ihnen aus?
Den Markt auf dem Winterfeldtplatz finde ich nett. Aber hier kann man nirgends lebende Fische kaufen. Asiaten essen keinen tiefgefrorenen Fisch.
Sie reisen immer noch jedes Jahr nach Vietnam. Sind Sie dort daheim?
In meiner Seele bin ich tief vietnamesisch. Vielleicht vietnamesischer als viele Einheimische. Ich kenne dort heute kaum jemanden, deshalb fühle ich mich manchmal fremd. Auch in Deutschland frage ich mich oft, wo ich hingehöre. Hier bin ich kein Deutscher, in Vietnam gelte ich als Ausländer.
Wie lassen die Leute Sie das spüren?
Durch die Sprache. Ich versuche immer, so unauffällig wie möglich zu sein und verrate mich trotzdem dauernd. Ich sage zum Beispiel ständig Danke. Das würde kein Vietnamese machen.
Vietnamesen werden also nicht zu Unrecht als die Berliner Südost-Asiens bezeichnet? Ruppig, schroff ...
In Vietnam drückt man Dankbarkeit eher durch ein Kopfnicken aus oder ein Lächeln. Keiner sagt Danke, wenn ihm das Essen serviert wird.
Ganz anders als in Thailand.
Die bedanken sich ständig: Kopun Kap, Kopun Kap. Diese Versüßung der Sprache gibt es in Vietnam nur in Gedichten und in der Musik. Im Alltag geht es rauer zu. Das hat wahrscheinlich mit Kolonialisierung und Kommunismus zu tun. Im Kommunismus musste der Arbeiter funktionieren. Alles war Überlebenskampf. Lange gab es nichts zu kaufen. Selbst wenn man Geld hatte. Viele Waren waren nur für den Export bestimmt. Ananas zum Beispiel. Das Fruchtfleisch wurde exportiert. Wir Vietnamesen bekamen den Strunk.
Wie bitte?
Mit Salz und Chili. Als Snack. Damals hatte man arm zu sein. Wohlstand für die Familie durch Fleiß zu erarbeiten, das war nicht vorgesehen. Meine Mutter hat aber immer versucht, gutes Essen zu besorgen. Wenn man ein Hühnchen auf dem Markt ergatterte, musste man es verstecken. Heute gibt es auch Champagner in Vietnam oder Foie gras.
Heute zeigt man seinen Reichtum?
Es wird viel geprotzt. Als Tourist sieht man nur, dass die Gebäude immer höher werden. Doch das Land ist immer noch nicht richtig vereint. Man merkt die kulturellen Unterschiede zwischen Nord und Süd deutlich. Im Süden wird das Geld verdient, die Leute dort zahlen mehr Steuern, ausgegeben werden sie aber, um die Hauptstadt Hanoi im Norden zu verschönern. Wenn man in Vietnam zur Schule geht, lernt man nur die kommunistische Geschichte. Alles, was der Westen oder früher der Kaiser tat, war falsch. Alles, was der Kommunismus macht, war richtig. Uns war aber schon als Kindern in Saigon klar, dass das Lügen sind.
Sie sagen Saigon. Ein politisches Statement?
Ich sage niemals Ho-Chi-Minh-City. Das ist historisch inakzeptabel.
Merken Sie gleich, ob Sie es mit jemandem aus dem Süden oder aus dem Norden zu tun haben?
In meinem Restaurant beschäftigen wir mehr als 40 Mitarbeiter, viele aus dem Norden. Da gibt es schon Unterschiede. Im Süden ist man häufig direkter, während die Nordvietnamesen eher subtile Körpersprache benutzen, die man im Idealfall richtig interpretiert. Das führt gern mal dazu, dass man denkt, man habe etwas verabredet, und der andere hat das gar nicht mitbekommen.
Die Gerichte aus Ihrer Küche haben Sie nun als Buch veröffentlicht. Ein Koch, der seine Rezepte teilt, ist das nicht wie ein Magier, der seine Tricks verrät?
Es ehrt mich, wenn jemand etwas nachkocht. Den Schweinebauch zum Beispiel, den ich von meiner Mutter gelernt habe. Sie legt ihn in fermentierten Stinktofu ein und ins Tiefkühlfach, um der Haut Feuchtigkeit zu entziehen – macht sie knuspriger.
"Mit acht war ich im Gefängnis"
Was ist das Geheimnis einer guten Pho-Suppe?
Knochenmark, Fleisch und Gewürze wie Sternanis, Zimt, Muskat, frischer Ingwer. Für eine gute Suppe ist kein Weg zu weit. Als Kinder sind wir mit meinen Eltern 100 Kilometer auf dem Roller gefahren, um bei einer bestimmten Garküche zu essen. Da gab es die Suppe mit Krebsschalen. In Berlin fanden es einige Gäste schon zu weit, als ich von der Gipsstraße in die nah gelegene Alte Schönhauser Straße umgezogen bin.
Passen Sie Ihre Küche dem deutschen Gaumen an?
Manchmal passen wir uns an die Tischgewohnheiten an. Wenn Sie in Vietnam Pho essen, bekommen Sie ein Körbchen mit Kräutern, die Sie selber dosieren können: Koriander, Europagras, Thai-Basilikum, der ein wenig nach Anis schmeckt. Viele Deutsche wissen nicht, wie man damit umgeht. Deshalb tun wir sie direkt in die Schüssel. Ich würde gern mehr Fisch anbieten, aber der wird nicht viel bestellt. Mit Fischsoße jedoch haben die Gäste kein Problem. Davon verbrauchen wir am Tag 30 Liter.
Es scheint den Leuten zu schmecken, wenn man die Schlangen vor Ihrem Laden sieht. Wie verträgt sich das Wohlgefühl, das Sie verkaufen wollen, mit dem manchmal hektischen Betrieb?
Bei uns ist es wie auf einem Markt. Einen ruhigen Tisch mit weißer Tischdecke bieten wir nicht. Wenn es ganz voll wird, sage ich zu den Gästen in der Kälte: Es lohnt sich zu warten, aber ich freue mich auch, wenn Sie morgen wiederkommen. Die Stimmung ist mir wichtig. Ich kümmere mich selbst um die Musik. Mittags Mozart oder Jazz, abends mehr Rhythmus. Im modernen Vietnam bevorzugt man buntes, praktisches Plastik. Wir benutzen Steingutgeschirr. Der gerundete Tresen soll fließende Energie symbolisieren, das Aquarium Ruhe, den Blumenschmuck mache ist selbst.
Die Wände in Rot und Orange erinnern an einen Tempel. Absicht?
Ja. In diesen Farben fühlt man sich wohl und kuschelig. Mit 16 bin ich für drei Jahre in ein buddhistisches Kloster bei Hannover gezogen. Es war mir ein großes Bedürfnis, als Novize die tägliche Meditation und buddhistische Lehre zu lernen.
Meditieren Sie noch?
Jeden Morgen 20 Minuten. Ich habe ein extra Zimmer dafür. Deshalb geh ich mit vielem relaxter um.
„Monsieur Vuong“ ist berühmt für das große Bild Ihres Vaters direkt am Eingang.
Ein Selbstporträt, das er in den 1970er Jahren in Hué gemacht hat, wo er herkommt. Er war damals ein bekannter Fotograf, hat Künstler und Schauspieler abgelichtet. Man sieht, dass er ganz gut Gewichte gestemmt hat.
Sie machen auch Bodybuilding?
Ich versuche zu retten, was zu retten ist.
Wie hat er darauf reagiert, dass Sie ihn so groß präsentiert haben?
Ich glaube, er war innerlich ganz stolz. Wie Eltern so sind, hat er nie gelobt. Obwohl das „Monsieur Vuong“ mein Projekt ist, fühlte er, der Familienpatriarch, sich als Besitzer. Er saß bis zu seinem Tod 2009 immer hinten. Einmal hat er ein paar Plastikstühle in den Laden gestellt, damit die Gäste wenigstens im Sitzen warten. Ein großer Stilbruch! Meine Mitarbeiter trauten sich nicht, ihm zu widersprechen. Ich habe dann mehr Bambushocker besorgt.
Im Alter von zwölf sind Sie und Ihr Vater geflüchtet.
Meine ganze Kindheit war bestimmt vom Versuch zu fliehen. Ich war im Gefängnis. Einmal mit acht, einmal mit zehn. Erwachsene und Kinder lagen in Sammelzellen mit Wellblechdach, auf das die Sonne brutal heiß knallte. Zu essen gab es schlechten Reis. Der Hunger war ein täglicher Kampf.
Haben Sie begriffen, was da passierte?
Als Kind versteht man nicht, in welcher Gefahr man schwebt. Beim ersten Fluchtversuch wurde ich nachts geweckt, dann sind wir mit kleinen Booten aufs Wasser und: wurden erwischt. Meiner Mutter gelang schließlich mit meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder ein zweiter Versuch. Das Rettungsschiff Cap Anamur hat sie aufgenommen und nach Deutschland gebracht. Ich habe mich gefreut, aber es war schon komisch, als Achtjähriger von seiner Mutter verlassen zu werden.
Wie gelangten Sie selbst nach Deutschland?
Nachdem ein weiterer Fluchtversuch meines Vaters gescheitert war und wir wieder im Gefängnis gelandet waren, konnten wir im Zuge der Familienzusammenführung ausreisen.
Träumen Sie noch von dieser Zeit?
Ich habe das verarbeitet.
"Ich lege Wert Achtsamkeit"
Ihr Vater war Kriegsreporter für die Südvietnamesen. Wollte er flüchten, weil sein Leben bedroht war?
Er sah keine Zukunft mehr für uns. Gleich nach der Vereinigung steckte man ihn in ein Umerziehungslager. Wir Kinder hätten deshalb nie studieren können. Ich habe oft erlebt, wie die Polizei ihn zu Verhören mitgenommen hat. In unserem Haus gab es plötzlich einen Blockwart, und in dem Vespa-Handel, den meine Mutter betrieb, saß jemand, der ihr Geld verwaltete. Niemand hat uns geschlagen, aber so weiterleben wollten wir nicht.
1987 sind Sie zunächst in Solingen angekommen.
Alles war aufgeräumt, beschaulich. Und ich hatte immer das Gefühl, dass die Menschen mich komisch anschauen. „Hast du den gesehen?“ Aber ich bin weiterhin zutiefst dankbar für die Chance. Ich gehe jedes Jahr in Berlin auf das „Danke Deutschland“-Fest, das die vietnamesische Community organisiert. Der verstorbene Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck gilt vielen Vietnamesen als Held. Sie verstehen das vielleicht nicht, aber das ist eine tiefe Dankbarkeit, sehr emotional.
Waren Sie einsam damals?
Die Einsamkeit kam durch die Sprachbarriere. In meiner Klasse waren überwiegend Türken. Ich konnte schnell besser Türkisch als Deutsch. Meinen Eltern war aber wichtig, dass ich Deutsch lerne. Lernen ist in jeder vietnamesischen Familie ein Teil der Kultur. Die Eltern würden auf der Straße betteln gehen, nur um das Geld für die Ausbildung der Kinder zusammenzubekommen. Die größte Dankbarkeit gegenüber den Eltern ist, etwas zu werden.
Ihre Mitschüler waren da anders?
Ich war sehr strebsam und bei den meisten unbeliebt. Ich weiß nicht, ob das kulturell bedingt ist, aber die Kinder aus den islamischen Ländern hatten eine vollkommen andere Einstellung, was das Lernen angeht. Die hatten keinen Respekt vor den Lehrern. Das hat mich schockiert. Bei uns kommen die Lehrer gleich nach den Buddhas und den Eltern.
Trotzdem haben Sie später Ihr Japanologie-Studium geschmissen.
Ich habe nach ein paar Semestern festgestellt, dass mir Gastronomie liegt. Dann habe ich mir gesagt, ich konzentriere mich auf das, was mir Spaß macht.
Sind Sie als Chef eine Art Lehrer für Ihr Personal?
Ich glaube schon. Ich lege Wert auf Achtsamkeit. Das war am Anfang schwierig, wenn ich zu einer Studentin, die nur nebenbei Geld verdienen wollte, sagte: Meine Liebe, du wischst nicht nur den Tisch, du versuchst auch, dein Inneres zu reinigen. Die hat gleich wieder gekündigt.
Sie sind streng?
Nachvollziehbar streng. Ich betrachte das „Monsieur Vuong“ als kulturellen Beitrag. Wir wollen Vietnam präsentieren. Die Verantwortung sollten wir ernst nehmen.
Wir reden heute viel über Willkommenskultur. Mit Ihrer Erfahrung: Macht Deutschland das richtig?
Humanitär gesehen, ja. Die Menschen in Syrien leiden. Die meisten sind einfach dankbar, wollen hier ihren Teil beitragen. Stillschweigend. Aber es gibt eben auch genügend Beispiele für Leute, die sich nicht integrieren wollen.
Ärgert Sie das?
Ja. Ich betrachte das hier für mich als wertvollen Boden, auf dem ich die Möglichkeit habe, mich zu entwickeln. Ich bin als gerne aufgenommener Gast in Deutschland, und so habe ich mich zu verhalten.
Sie sagten mal, Sie wollten nach Vietnam, um den Leuten etwas zurückzugeben.
Nach dem Krieg ist die Esskultur in Vietnam pragmatischer geworden. Es geht nur noch darum, satt zu werden. Essen wird nicht mehr zelebriert. Und es gibt so viele Waisenkinder ohne Zukunft. Mein Wunsch wäre, eine Schule zu gründen, damit diese Kinder eine Ausbildung bekommen und dann irgendwann bei uns oder anderswo kochen können.
In Ihrem Restaurant essen Prominente wie Charlize Theron, Jack Nicholson oder George Lucas. Freuen Sie sich über die besonders?
Alle Gäste sind gleich viel wert, die Berliner, die Prominenten und die Besucher, die immer nur als „die Touris“ bezeichnet werden. Wer vor der Tür steht, wird von uns willkommen geheißen. Das macht Europa aus, dass man überall sein kann und niemand ausgeschlossen wird. Wir sind ein Teil davon.