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Gut poliert. In Anish Kapoors „Cloud Gate“, der vielleicht bekanntesten Attraktion in Chicago, spiegelt sich die Skyline der Stadt.
© mauritius images

USA: Chicago mit den Augen eines Einheimischen sehen

„Greeters“ wie Elizabeth zeigen dem Besucher gratis Architektur und Alltag. In einer Stadt, die wie New York ist. Nur ohne die Überwältigung.

Das am meisten fotografierte Wahrzeichen Chicagos hat Elizabeth über Monate aus ihrem Bürofenster im Werden beobachtet. Da saß sie an ihrem Schreibtisch einer Fluggesellschaft hoch oben in der Michigan Avenue, während unten im neu eröffneten Millenium Park 22 Leute sieben Monate lang zwölf Stunden am Tag an fünf Tagen die Woche Anish Kapoors 99-Tonnen-Stahlkunstwerk „Cloud Gate“, das später nur noch „The Bean“ genannt werden würde, auf Hochglanz polierten. Zwölf Jahre ist das her, als das Polieren nicht nachließ, bis keine einzige Naht zwischen den Stahlplatten mehr sichtbar war.

Heraus kam der perfekte Instagram-Spot, in dem sich jeder einzelne der mehr als 50 Millionen Besucher, die Chicago im Jahr hat, spiegeln kann. Aber es ist natürlich etwas völlig anderes, ob man sich im glasklaren Herbstlicht von einem sozialen Netzwerk zu diesem Ort leiten lässt – oder von Elizabeth in ihrer lässigen Breitcord-Jacke.

Wer Chicago besucht, kann sich vorab online mit einem persönlichen sogenannten „Greeter“ verabreden. Bewohner Chicagos sind das, die Besuchern ehrenamtlich ihre Stadt zeigen. Meist aus nichts anderem als dem ehrenvollen Impuls heraus, der Gesellschaft etwas zurückgeben zu wollen, sagt Elizabeth. Der Neugier auf andere Menschen wegen. Oder eben, wie sie selbst, auch um ihr Deutsch zu verbessern.

Das sei ihrem Neffen in Innsbruck zu verdanken, der Tirolerisch spricht und ihr Bedürfnis nach der deutschen Sprache weckte. Sie belegte Abendkurse, aber so recht würde sie erst in Übung kommen, wenn sie ihr Deutsch auch benutzte. So wurde sie „Greeter“.

Das Zentrum ist längst ungeheuer aufgeräumt

„Greeter“, das klingt etwas nach Grüßonkel, nach winke-winke, hello-goodbye und dazwischen irgendetwas amerikanisch Oberflächliches. In Wahrheit erhält mal als Besucher eine Art sneak preview, einen Miniatureinblick in die Stadt, indem man sich für eine Stunde den Blick einer Bewohnerin leiht.

Elizabeth, die aus Minnesota kommt, der Vater beim Militär, hat lange am Flughafen O’Hare an der Information gearbeitet. Seit 40 Jahren wohnt sie in Chicago, doch in ihrem Leben ist sie selbst so viel auf Reisen gewesen, dass sie sich das, was sie hier im Millenium Park über die Bauwerke erzählt, auch erst anlesen musste. Die Daten und Namen, von denen sie denkt, dass die Besucher sie hören wollen, hat sie sorgfältig auf Kärtchen geschrieben. Dabei geht natürlich nichts über ihre persönlichen Erinnerungen. An ihre Stadt, deren berüchtigte Banden-Kriminalität in den südwestlichen Vierteln sie auch nur aus Erzählungen kennt. Das Zentrum ist längst ungeheuer aufgeräumt.

Elizabeth sieht noch vor sich, wie dieser Ort vor 1997 aussah, als der heute berühmte Millenium-Park nur ein verwahrloster Parkplatz war. Obdachlose lebten hier, bevor der Park eine Attraktion und Ausstellungsfläche für Architekten wurde. Jedes Bauwerk eine eigene Art. Eine von Frank Gehry entworfene Fußgängerbrücke schlängelt sich zum Pritzker Pavillon, den er auch gestaltet hat. Eine riesige Konzertmuschel ist das, vor der zusätzlich 7000 Menschen auf der Wiese Platz finden, die derart mit Lautsprechern überspannt ist, dass man die Konzerte draußen so gut hören kann wie in einem Saal. Daneben der poetische Lurie Garden mit einheimischen Steppenpflanzen, der auf nur einem Meter tiefer Erde wurzelt, weil das Parkhausdach darunter sonst das Gewicht nicht hält. Dahinter erhebt sich das Kunstmuseum von Renzo Piano.

Anfang der 60er war Chicago etwas größenwahnsinnig

Viele kommen der Architekturikonen wegen nach Chicago. Elizabeth wohnt in einer. Zehn Gehminuten entfernt lebt sie in einem Wahrzeichen der Stadt, das seit den 60er Jahren bestimmt jeden Tag von irgendjemandem fotografiert worden ist: „Marina City“, zwei gigantische runde Türme direkt am Chicago River, die wie Beton-Maiskolben 61 Stockwerke in die Höhe ragen. „Marina City“ wurde Anfang der 60er eingeweiht, als Chicago etwas größenwahnsinnig und zukunftsversessen war und das auch in Stahlbeton ausdrückte. „Eine Stadt in der Stadt sollte es sein, unten die Anleger, die Yacht-Garagen für die Boote, darüber 20 Stockwerke Parkhaus.“ Dann erst beginnen die Wohnungen. Küche und Bad ringen sich um den mittleren Kern, die Zimmer und Schlafzimmer lagern mit ihren riesigen Fenstern im äußeren Ring, jedes Stockwerk umgürtet von Balkonen. Die Türme beherbergen Restaurants, ein Bowling-Center und gemeinsame Waschmaschinen. „Bald schon, so die Logik, würde es ja fliegende Autos geben“, sagt Elizabeth. Die sollten den Turm von außen ansteuern können, deshalb sollten am Parkhaus außen keine Mauern gebaut werden, keine Barrieren.

Das war jetzt schon mehr als ein Greeting. Elizabeth muss los. Da steht man nun gegenüber der Beton gewordenen 60er-Jahre-Vision, vor den unverstellten Heckansichten amerikanischer Autos, die noch immer nicht fliegen können. Autos, die der Stadt ihren Auspuff zukehren. Der Fluss sieht aus wie nachträglich hineingelegt in das bewegungslose Fenstermeer der Häuser, die inzwischen jede Lücke geschlossen haben. Dabei war der Fluss zuerst da. Wind, was sonst, fegt über die sauberen Gehsteige. Darauf kleben viel weniger Kaugummis als in New York.

Viel weniger alles als in New York.

Warum nicht den Blick von Saul Bellow leihen?

Nah am Wasser gebaut. Der Michigansee sieht aus wie ein Meer.
Nah am Wasser gebaut. Der Michigansee sieht aus wie ein Meer.
© imago/Rupert Oberhäuser

Chicago ist wie New York ohne die Überwältigung. Ohne den „shock and awe“-Effekt. Die berühmten Hochhäuser stehen auf nur einem Prozent der Stadtfläche, ziemlich schnell wird es wieder flach. Selbst die Hochbahn donnert nicht durch die Häuserschluchten, sie stelzt eher freundlich hindurch. Wenn New York der Superlativ ist, dann ist Chicago die Mitte. Mittlerer Westen. Central Standard Time. 2,7 Millionen Einwohner, eine Million weniger als Berlin. Übersichtlich. Weil sie hier höher stapeln als in Berlin, wirkt es nur größer.

Es kann jetzt nicht nur an Elizabeths persönlicher Begrüßung liegen, dass Chicago so nahbar wirkt. Aus dieser Stadt kam ein Präsident Barack Obama, der sich im Oval Office von einem kleinen Jungen das Haar kraulen ließ. Oprah Winfrey produzierte hier ihre Show, die das Menschliche, Persönliche, die besonderen Ausformungen des Menschseins zum Maßstab ihrer Arbeit erkoren hat. Das riesige Gewässer an der Ostküste der Stadt mit den lockenden Stränden und den Fahrradstrecken sieht nur aus wie ein Meer, ist aber natürlich der Michigansee, wo der berühmte Chicagoer Wind Anlauf nimmt. Der führt dazu, dass es hervorragende Hutgeschäfte gibt. Behütete Chicagoer treten aus deren Tür mit Kopfbedeckungen, die über 600 Dollar kosten und dafür auch ein Leben lang halten sollen. Nichts Schnelles, ein maßgeschneidertes Modell fürs Leben soll es sein. Ist nicht jeder Kopf anders? Wenn ein Hut so einzigartig teuer ist, muss er schon eine Menge Wind abhalten, bevor er sich amortisiert.

Schriftsteller Saul Bellow nahm die Stadt persönlich

Hat einen der Wind etwa gerade in das „American Writers Museum“ gedrückt? Im Mai 2017 eröffnet, das einzige Museum in Amerika, das sich amerikanischen Schriftstellern widmet. Der Literaturnobelpreisträger, der aus Chicago kommt, Saul Bellow, ist vermutlich der nahbarste Nobelpreisträger gewesen, den es je gab. Berühmt geworden für die Tuchfühlung mit seiner Stadt. Fünf Mal verheiratet. Am liebsten bewegte er sich im öffentlichen Nahverkehr. Chicago war die Linse, durch die er die Menschen sah. Bellow nahm die Stadt persönlich. Er könne, schreibt er, sein Wissen über das Leben nicht mehr von Chicago trennen.

Ein Bild im „Writers Museum“ zeigt ihn 1969 bei seiner Lieblingsbeschäftigung: Wie er im „L“-Zug sitzt und – unfassbarerweise ebenfalls in einer Breitcord-Jacke, wie gerade noch Elizabeth eine trug – und mit tiefenentspanntem Gesichtsausdruck die Bewohner seiner Heimatstadt beobachtet.

Warum nicht den Blick von Saul Bellow leihen? Das geht auch im Jahr 2018.

Schlagartige Fülle in Downtown um die Mittagszeit, weil alle, die am Vormittag noch in den Büros in ihre Stockwerke gestapelt waren, nun ebenerdig etwas zu essen suchen. Zufällig ist es auch der Zeitgeist, auf das Persönliche, Handgemachte, Regionale zu setzen. Deshalb strömen die Leute in die „Revival Food Hall“, deren Begründer 2016 ein altes Bürohaus wiederbelebten. Sie nutzten die alten Möbel und luden 15 interessante Food-Start-ups aus der Stadt ein. Die Unternehmer mit dem „pulled pork“ installierten eigens einen Smoker auf dem Dach im 20. Stock. Das europäische Konzept der Markthalle ist hier verführerisch neu. Aber der Europäer, der sucht ja das Amerikanische.

Chicago ist für Schnapsbrenner wieder eine Geschäftsoption

Wo sind sie also alle, die „ladies who lunch“, die uramerikanischen Orte, das Big Hair, jenes so selbstverständlich schmuckbehangene Bürgertum? Das Frisierte, Toupierte, Geföhnte?

Nur eine Aufzugfahrt entfernt. In Cindy’s Rooftop Bar, auf dem Dach des Hotels „Athletic Association“. Sie sitzen hier unterm Himmel unter Glas, die Lässigkeit des Geldes, vorne der Michigansee, im Rücken Kaminfeuer. Saul Bellow würde heute wahrscheinlich hier oben einen Blick direkt in ihre Seelen werfen, zu Mittag essen und dann mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren, auf einer jener berühmten, geschützten Bike Lanes, die jetzt auch Berlin installieren will. Chicago, flach wie ein Pfannkuchen, wirft sich einem von selbst unter die Reifen. In kleinen Fahrradläden der Viertel diskutiert man beim Kaffee den Wert der Handarbeit. Die Local Heroes der Gegenwart sind Leute wie die von „Heritage Bicycles“, deren Räder komplett in Chicago hergestellt wurden.

Bellow beschrieb das Chicago der Einwanderer zur Zeit der Prohibition. Doch wenn man sich jetzt den Blick eines österreichischen Immigranten leiht, ist Chicago auch für Schnapsbrenner wieder eine Geschäftsoption. Im angesagten Viertel Ravenswood nördlich des Lincoln Park hat Robert Birnacker mit seiner Frau 2008 die erste Destillerie Chicagos nach 150 Jahren eröffnet. Die Craft Destillerie Koval, ein Unternehmen, das selbst Whiskey und Gin herstellt. Birnacker war vorher Vizepressesprecher für die österreichische Botschaft in Washington, sein Großvater jedoch hat Obst gebrannt. Marille, Zwetschge, das ganze Programm. Als sie vor zehn Jahren anfingen, gab es in Amerika nur Craft Beer, aber überhaupt keine Craft Destillerien. Birnacker hat den Markt beobachtet wie ein Fischer das Meer. Erste, zweite, dritte Welle. Man muss die Welle reiten, wenn sie kommt.

Reisetipps für Chicago

Hinkommen

Air Lingus beispielsweise fliegt ab 480 Euro hin und zurück. Besonderheit: Alle Flüge führen über Dublin, wo schon die US-Einreiseformalitäten auf europäischem Boden erledigt werden können. Keine stundenlange Wartezeit also bei der Grenzkontrolle in den USA.

Unterkommen

Vom Hyatt Regency Chicago sind der Navy Pier, Downtown und der Millenium Park zu Fuß gut zu erreichen, ab 133 Euro die Nacht, hyatt.com.

Rumkommen

... macht mit einem persönlichen „Greeter“ am meisten Spaß. Mindestens zehn Arbeitstage vor dem Besuch eine Verabredung unter chicagogreeter.com treffen.

Das American Writers Museum ist das einzige seiner Art in den USA. Das Museum of Science and Industry ist das größte der westlichen Welt. Freien Eintritt gibt’s im Lincoln Park Zoo.

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