"Dreamer" gegen Trump: Wie Chicago den amerikanischen Traum verteidigt
Als Donald Trump im September verkündet, junge Immigranten loswerden zu wollen, formiert sich Widerstand. Eine Stadt wird zur Schutzzone der "Dreamer".
Als der Mann im Weißen Haus den amerikanischen Traum auf die Probe stellt, ist er knapp acht wilde Monate im Amt. Im September 2017 ruft Donald Trump das Ende eines Immigrationsprogramms aus, das Einwanderer, die als Kinder von ihren Eltern illegal in die USA gebracht wurden, vor der Abschiebung schützt. Damit verpasst er der Zukunft von 788.000 Menschen plötzlich ein Verfallsdatum.
Er hätte auch sagen können, die Freiheitsstatue verschandele den Hafen New Yorks.
Die Proteste in dem stolzen Einwandererland formieren sich sofort. Trump hatte an dem Mythos gerüttelt, den Amerika seit 400 Jahren über sich selbst erzählt. Leidenschaftlicher als für jedes andere Thema setzen sich die Amerikaner für die sogenannten „Dreamer“ ein. Die Bosse von Apple, Microsoft und Facebook kündigen an, die Dreamer unter ihren Angestellten beschützen zu wollen. Unter den Immigranten waren sie bis dahin eine rechtliche Besonderheit: Sie sind geboren nach dem 15. Juni 1981, zwischen 15 und 36 Jahre alt. Es handelt sich um ehrgeizige, gut ausgebildete Leute, die überzeugt sind, dass man es in Amerika durch harte Arbeit zu etwas bringen kann. Über 30 Städte erklären sich zu sogenannten „Sanctuary Cities“, die ihre Dreamer vor dem Zugriff der Einwanderungsbehörde beschützen wollen.
Am weitesten geht die Stadt am Südwestzipfel des Michigansees. Rahm Emanuel, Bürgermeister Chicagos, erklärt seine Stadt zur „Trump-freien Zone“. Ende August hatte Chicago den „Illinois Trust Act“ unterzeichnet, der besagte, dass allein der Aufenthaltsstatus einer Person noch keinen Grund für eine Vernehmung begründe. Einige sagen, damit sei Illinois der erste „Sanctuary State“ geworden.
Rahm Emanuel war Stabschef im Weißen Haus unter Obama, bis er sich 2011 mit dem Slogan, Chicago solle die immigrantenfreundlichste Stadt der USA werden, um das Amt des Bürgermeisters bewarb. Die Stadt kämpfte schon für ihre Einwanderer, da gab Donald Trump noch den Immobilienhai in New York. Illinois war der erste Staat, der allen undokumentierten Kindern kostenlose Krankenversicherung garantierte. In Illinois konnten „the undocumented“ einen Führerschein machen. Chicago ist die einzige Stadt in den USA, die es auch guten Schülern ohne Papiere erlaubt, kostenlos ein City College zu besuchen.
Als Trumps Entscheidung auf beispiellose Gegenwehr trifft, kristallisiert sich hier der Konflikt.
Im Krieg mit dem Präsidenten
Das Rathaus in Downtown Chicago ist ein von schnittigen Hochhäusern umstellter klassizistischer Trumm aus Granit, der mit seinen korinthischen Säulen so tut, als sei Chicago älter als seine 200 Jahre. Eine der ersten Maßnahmen des neuen Bürgermeister war es, nach dem Vorbild von New York ein Büro einzurichten, das sich um die Belange von Immigranten kümmert: das ONA, „Office of New Americans“. Marmortreppen, Messingbeschläge und Bronzetafeln, im güldenen Aufzug in den fünften Stock: Hinter dem Durchgang mit den Flaggen von Amerika und Chicago liegt das „Office of New Americans“ im überwältigenden Beige amerikanischer Behörden.
„Wir sind praktisch im Kriegszustand mit dem derzeitigen Präsidenten“, sagt Seemi Choudry in ihrem eierschalenfarbenen Ambiente. In diesem Krieg kooperiert die Stadtverwaltung mit kalifornischen Softwarespezialisten, um den Aufenthaltsstatus ihrer Bürger vor den Bundesbehörden zu verschleiern. Choudry hatte 2016 ein geschmeidig arbeitendes Büro übernommen, das sich um die Belange der Immigranten kümmerte und die Vernetzung der städtischen Initiativen vorantrieb. „Dann passierte Trump.“ Alles wurde akut. Seitdem steht Seemi Choudry an vorderster Front.
Sie gründete eine Taskforce, die aus Psychologen, Rechtsanwälten und IT-Spezialisten besteht. Auch aus Polizisten, Ehrenamtlichen und Verwaltungsmitarbeitern, die ab Januar 2017 ein beispielloses Programm konkreter Hilfen auflegten. In mobilen Workshops erklären sie Immigranten in Schulen und Kirchen ihre Rechte. Sie bereiten Familien auf den Fall ihrer Deportation vor. Psychologen schulen Sozialarbeiter, Sozialarbeiter schulen Bürger. Die Stadt unterzeichnet Abkommen gegen die Zusammenarbeit mit der nationalen Polizei- und Vollzugsbehörde „Immigrations and Customs Enforcement (ICE), sie verweigert die Zusammenarbeit mit deren Beamten.
Chicago nennen sie „the windy city“. Es handelt sich um Gegenwind.
Der Polizei in Chicago sei es schon lange aus gutem Grund verboten, Personen nach ihrem Aufenthaltsstatus zu fragen, sagt Choudry. Genauso wie Schulen nicht danach fragen dürfen und alle anderen städtischen Institutionen. Denn wenn die Immigranten sich vor den Behörden fürchten, gehen die Kinder nicht in die Schule oder zum Arzt und die Erwachsenen bringen keine Straftaten zur Anzeige. Es entstünden dann rechtsfreie Räume, in denen erpressbare Bürger lebten.
Aber Trump verlangte, dass die Stadt den ICE-Polizisten vollständigen Zugang zu ihren städtischen Gefängnissen garantiere, um die Gefangenen nach ihrem Aufenthaltsstatus zu befragen. Außerdem sollte 48 Stunden vor der Entlassung jedes Gefangenen Meldung an die Bundesbehörden gemacht werden. Das, fand die Stadt, käme einer Auslieferung gleich. Es widerspreche ihren Grundsätzen. Immigranten hätten auch der örtlichen Polizei nicht mehr vertrauen können, wenn die mit der Einwanderungsbehörde zusammenarbeitete.
Trump drohte: 2,2 Millionen Dollar aus einem bundesweiten Fond für Polizeiausrüstung sollten dann nicht mehr fließen. „Wir haben dagegen geklagt“, sagt Choudry. „Und gewonnen.“
Der amerikanische Traum - eine starke Erzählung
Noch immer reisen viele Südamerikaner, nachdem sie die mexikanische Grenze irgendwie überwunden haben, einmal hochkant durchs Land nach Chicago, weil es hier eine große Community gibt. Sie stellt 30 Prozent aller Einwohner. Ein Großteil lebt im Stadtteil Pilsen, der klingt wie ein tschechisches Bier.
Es sind nur fünf Stationen mit der Pink Line bis dorthin zur 18th Street, aber von hier aus ist Chicago Downtown schon wieder eine entfernte Skyline. In den zweistöckigen Häusern sitzen mexikanische Friseure, Devotionalienläden voller Totenköpfe und Galerien. Bevor Pilsen das mexikanische Einwandererviertel war, war es das tschechische und irische. Die Iren, heißt es, seien hier damals auch nicht gerne gesehen gewesen, die Tschechen haben immerhin den Namen hinterlassen. Nun sieht man gar nichts mehr von beiden. Stattdessen Taco-Shops, mexikanische Süßigkeiten und politische Wandgemälde. Telefonläden, Beerdigungsinstitute und Rechtsberatung von „notarios“. Ganz Amerika besteht ja aus Schichten von Einwanderern.
Das Programm „Daca“ ist nie eine Lösung, sondern von Anfang an nur ein juristischer Übergang gewesen, den Obama 2012 allein deshalb als Dekret durchgesetzt hat, weil ein handfestes Gesetz nicht durch den Kongress kam. Daca heißt „Deferred Action for Childhood Arrivals“, für jeweils zwei Jahre genießen berechtigte Bewerber Schutz. Sie können studieren und arbeiten. Langfristig sollte es den Weg zu einer Einbürgerung ebnen. Indem er sie Dreamer nannte, hat Obama die ohne Papier in die USA gebrachten Kinder unwiederbringlich mit dem historischen Erbe der USA verknüpft, mit den aus aller Welt herbeigesegelten Gründungsvätern des Landes, die neben einer funktionierenden Demokratie das Epos des amerikanischen Traums begründen.
Der amerikanische Traum ist die stärkste Erzählung, die das Land hat. Danach ist der Einwanderer der wahre Amerikaner – schon weil kein Indianer im Weißen Haus sitzt.
In der Paulina Street warten in der frühen Dunkelheit eines Herbstnachmittages auf einem grünen Sofa einer Nachbarschaftsinitiative drei junge Menschen, die man seit 2012 als Dreamer bezeichnet. Sie haben ihre Kindheit in dem Versuch verbracht, nicht aufzufallen.
Carlos Millan, 30 Jahre, berät Immigranten beim Einbürgerungsprozess. Laura Mendoza, 28 Jahre alt, ist Sozialwissenschaftlerin. Ximene Cortez, 22 Jahre alt, studierte Informatik und Strafrecht.
Rohe Geschichten von der Flucht durch die Wüste
Sie haben Jahre des Schweigens hinter sich, in denen es gefährlich war, wenn andere wüssten, dass sie keine Papiere haben. Nie sollten sie jemandem davon erzählen. Als Kind illegal ins Land gekommen zu sein hatte den Rang eines belastenden Familiengeheimnisses. Sich doch zu öffnen kam einem Outing gleich. Beim ersten Mal, sagt Laura Mendoza, heulten alle, wenn sie einander ihre Geschichten erzählten.
Es sind rohe Geschichten, die von einer kindlichen Flucht durch die Wüste handeln, von Angst, Halluzinationen und einem verlorenen Bruder. Oder von einer vorgespiegelten Urlaubsreise, die nie enden würde. Sie handeln auch vom Wiedersehen mit Verwandten und harten ersten Jahren in den USA.
Andere Kinder wurden von ihren Eltern im Unklaren gelassen, um sie vor ihrer Angst zu schützen und damit sie nicht unabsichtlich etwas ausplaudern konnten. Die erlebten den Schock ihres Lebens, wenn sie zum ersten Mal ihre Papiere brauchten: für den Führerschein. Oder die Bewerbung für’s College. So erfuhren sie, dass sie gar keine „richtigen“ Amerikaner waren.
Nach außen hin unterschied sich ihr Leben ja gar nicht so sehr. Sie waren vollkommen eingewoben in den amerikanischen Alltag. „Es ist ja ein weit verbreiteter Irrglaube, dass Leute ohne Papiere keine Häuser kaufen könnten, Unternehmen haben und Mitarbeiter beschäftigen können“, sagt Laura Mendoza. Alles ist möglich, solange man nur zahlt. „Die einzige Bundesbehörde, die nicht nach den Papieren fragt, ist die Steuerbehörde.“ Immigranten ohne Papiere achten also peinlich darauf, dass mit ihrer Steuer alles stimmt.
Auch Angestellte zahlen jahrelang Steuern, allerdings unter einer falschen Social Security Nummer. Der Unterschied zu Amerikanern ist, dass sie später die finanzierte Rente nicht in Anspruch nehmen dürfen.
Die Immigranten sehen sehr wohl, dass ihnen Amerika mit zweierlei Maß begegnet. Deshalb werden sie so wütend, wenn Trump nun immer von einer „Amnestie“ spricht, die man den „illegal aliens“ eventuell gewähre. Mit ihrer Legalisierung wird ihnen nichts geschenkt. Sie zahlen längst den Preis. Laura Mendozas Vater hat es vom Tellerwäscher zum Koch gebracht. Klar, er ist jetzt alt, aber er arbeitet noch. „Er ist ein Immigrant!“, sagt Mendoza. Wild entschlossen, durch Arbeit sein Glück zu finden. Die Aussicht, dass man nach den Kriterien des amerikanische Traums eines Tages sein Schicksal selbst in der Hand hat, entschädigt für alle Härten. Was aber, wenn einem diese Aussicht dauerhaft verwehrt bleibt?
Sie wollen die Träume der Eltern wahr werden lassen
Sie heißen Dreamer, „aber wenn man ehrlich ist, sind unsere Eltern die wirklichen Dreamer – es war ihr Traum“, sagt Carlos Millan. „Sie haben alles riskiert, uns Kinder mitgenommen und bei null angefangen.“ Viele dieser Kinder, sagt Millan, haben die paar Jahre von Obamas Daca-Programm genutzt, um die Träume ihrer Eltern wahr werden zu lassen. Sie fingen ein Studium an, gründeten Familien, arbeiteten. Im Jahr 2017 schlottern sie wieder.
In der Ashland Avenue, hinter Fenstern mit halb heruntergelassenen Jalousien und einer diskreten Klingel am Eingang, arbeitet Erendira Rendon für das „Resurrection Project“. „Resurrection“ wie „Auferstehung“. Sie koordiniert die Beratungen für Immigranten in der Pilsener Nachbarschaft.
Als Trump das Ende von Daca verkündete, galt ab sofort eine enorm kurze Frist: einen Monat lang, bis zum 5. Oktober, konnten sich Dreamer, deren Genehmigung auslief, noch einmal für eine zweijährige Verlängerung bewerben. Es gab Aufrufe, Countdowns, Telefonberatungen, sie besuchten mit ihren mobilen Beratungen, die sie „DacaClinics“ nannten, Schulen und Kirchen. Wer sich die 495 Dollar Bearbeitungsgebühr nicht leisten konnte, durfte sich um eine Finanzhilfe bewerben, am Geld sollte es nicht liegen.
In den Beratungen erklärten sie den Leuten mithilfe von Fotos die unterschiedlichen Uniformen und Dienstausweise der örtlichen Polizisten – das sind die Freunde! Und der Polizisten der Vollzugsbehörde ICE – das sind die Feinde! Deren Fragen sollen sie auf keinen Fall ohne Anwalt beantworten. Niemals öffnen, wenn jemand klingelt, prägten sie ihnen ein. Denn die ICE-Beamten arbeiten mit Einschüchterung und Bluffs. Ein Durchsuchungsbefehl, mahnen sie, muss von einem ICE-Beamten und einem Richter unterschrieben sein, sonst ist er nicht gültig.
In den letzten Jahren, sagt Erendira Rendon, bearbeitete sie hier zwei bis drei Daca-Bewerbungen in der Woche. Im Herbst 2017 sind es über 100. Noch mehr strömen zur Beratung, warten hinter den halb heruntergelassenen Jalousien. Wie lange ihr Führerschein noch gelte? Ihre Arbeitserlaubnis? Ach, wie lange ihr ganzer Lebensentwurf noch funktionieren würde?
Bis zum 30. September 2017 erreichen sie gut 20.900 Leute.
The pursuit of happiness - fünf Jahre lang
Das „Auferstehungsprojekt“ startete 1990, als sich sechs katholische Kirchen in Pilsen zu einer Nachbarschaftshilfe zusammenschlossen. Die Immigranten mochten keine amerikanischen Staatsbürger sein, aber katholisch waren sie alle. Mit einem Startkapital von 5000 Dollar pro Kirche kauften sie Brachland und richteten alte Häuser her. Sie haben auch Häuser selbst gebaut. Heute gehören der Initiative 700 Apartments in Chicago. Sie kümmert sich um Vermögensbildung für Immigranten und bringt ihnen bei, wie Kredite funktionieren. Sie schult Leute, wie sie mit ihrem Geld auskommen, und sorgt mit ihrer eigenen Immobilienagentur dafür, dass Bewohner ihre Häuser kaufen können. Erendira Rendon war selbst einmal die Zielgruppe dieses Projekts.
Es ist natürlich nicht ihre, sondern die Entscheidung ihrer Eltern, Oaxaca, „die schönste Gegend Mexikos“ zu verlassen, als sie vier Jahre alt ist, damit „die Kinder es einmal besser haben würden“. Sie besucht eine Schule in Wisconsin, und erst als sie die letzten Testergebnisse in den Händen hält, wird ihr der fundamentale Unterschied zu ihren Mitschülern bewusst. Ein Unterschied, der nicht mehr auszugleichen ist. Die anderen machten Pläne für das College. Was würde sie jetzt tun?
Es sollte das wichtigste Identifikationsmerkmal ihres Lebens werden. Man half ihr, dass sie trotz ihres Status an der Uni nur die Studiengebühr für Inlandsstudenten zahlen musste, 14.000 Dollar pro Jahr.
Ein Mensch ohne Papiere zu sein bedeute, einen Rahmen zu haben, der den Ausblick beschneidet. „Hey, da will ich hin“, sagten ihre Kommilitonen, wenn sie die Fernsehwerbung sahen, die schöne Urlaubsziele in der Welt bewarb. Erendira Rendon blieb stumm. Die Werbung galt nicht ihr. „Ich habe mich programmiert, nicht weiter zu denken, als ich auch gehen kann. Alles andere würde mich nur traurig machen.“
Erendira Rendon hatte nie etwas für ihr ganzes Leben geplant. So etwas wie eine Perspektive für’s Leben konnte es nicht geben. „Die gab mir Daca.“ Als Barack Obama 2012 die Regelung durchsetzte, war sie plötzlich ein vollwertiger Mensch.
Fünf Jahre führt Erendira Rendon ein Leben, das man nach Maßstäben aller Amerikaner als „legal“ bezeichnen kann. Das Leben einer Amerikanerin. The pursuit of happiness. Wandern im Grand Canyon. Ihr Soziologiestudium ist für einen Job nütze, sie arbeitet, zahlt Steuern, und als sie zum ersten Mal in ihrem Leben nach Mexiko fährt, um dort Verwandte zu besuchen, lässt man sie danach auch wieder herein in das einzige Land, das sie kennt.
Die erste Akademikerin der Familie
Aber noch bevor dieses Modell, das 788.000 Amerikaner betrifft, zu ihrer ganz eigenen, erfolgreichen, amerikanischen Einwandererbiografie aushärten kann, wird es am 5. September 2017 von Donald Trump wieder aufgeweicht. Die stumm machende Bedrückung spürte Erendira Rendon schon am Wahltag. Würde jetzt alles wieder zurückgedreht? Sie ist ein Dreamer mit besten Kontakten, trotzdem kennt auch sie dieses tumbe „why go to work“-Gefühl. Wofür lohnte es sich noch, zur Arbeit zu gehen? „Jetzt werde ich wahrscheinlich nie wieder reisen können.“
Erendira Rendons Eltern leben noch in Wisconsin. Vor zehn Jahren hat die Mutter das Haus abbezahlt, der Bruder hat ein eigenes Unternehmen. Wenn sie krank werden, gehen sie zu einer Klinik, die umsonst behandelt. Brillen und Zahnbehandlungen zahlen sie selbst. Rendon, 32 Jahre alt, ist das Hintergrundbild auf dem Handy ihrer Mutter. Und im Vordergrund ihres ganzen Lebens.
Erendira Rendons Mutter hat in einer Fabrik gearbeitet, um ihrer Tochter die Ausbildung zu finanzieren. Als der Mutter das Geld ausging, sprang der ältere Bruder ein. Amerika, sagt ihr strahlendes Gesicht, bleibt eroberbar.
Erendira Rendon studierte, die erste Akademikerin der Familie. Und Stolz ist gar kein Ausdruck. Alles, alles, geschah ja wegen ihrer Mutter, sagt Rendon. In ihrem Sinne und mit ihren Mitteln. „Sie hat ihre ganze Familie verlassen, um uns herzubringen.“ Als Erendira Rendon ihr College-Diplom in der Hand hielt, schmiss die Mutter eine Party mit 300 Leuten für sie. Sie wischt auf ihrem Handy herum – sie hat viel Familie hier, „ein paar 100 Leute“. Da, diese 20 sehen sich jedes Wochenende. Hier, Weihnachten sind es 80. Erendira Rendon mag eine wacklige Zukunft haben, aber sie hat Freunde, Arbeit und neun Patenkinder. Sie lacht. „Familie ist alles.“
Die Gefahr der Deportation
18th Street, Pilsen. Die einfahrende Hochbahn bringt die Plattform zum Beben. Und während die Pink Line wieder der Skyline von Downtown Chicago entgegenrumpelt, die aussieht, als hätte Chicago viel mehr als 2,7 Millionen Einwohner, kann man spekulieren, ob dieser Begriff – Dreamer – nun der Anker ist, der sie im Land hält, weil den amerikanischen Traum abzuschaffen den Widerstand aller Amerikaner hervorruft.
Das „Lurie’s Childrens’ Hospital“ liegt im solventen Viertel Lincoln Park, der Zoo ist um die Ecke, der Michigansee nur ein paar hundert Meter entfernt. In einem schmalen Büro im achten Stock arbeitet die Psychologin Rebecca Ford-Paz, spezialisiert auf die Probleme von Immigrantenkindern und ihren Familien.
Quasi mit Amtsantritt Trumps, ab Januar 2017, seien die Psychologen in die Schulen, Büchereien und Krankenhäuser ausgeschwärmt, um das jeweilige Personal mit dem „Rapid Response Training“ zu trainieren: Anzeichen für Depression und Mobbing zu erkennen, auch Selbstmordtendenzen. Nur wer in einer direkten Frage danach das Wort „Selbstmord“ oder „töten“ benutzt, kann eine eindeutige Antwort erwarten, machen sie den Leuten klar.
Innerhalb von 48 Stunden nach Trumps Wahl hatten sie die ersten Krisenfälle in den Einwanderervierteln. Sofort danach bemerkten sie, dass an den Schulen das Stresslevel stieg. Es wurde überhaupt nicht mehr differenziert. Wenn selbst der Präsident pauschal behaupten konnte, dass Mexikaner Vergewaltiger seien, konnte man auch auf den Schulhöfen den in den USA geborenen Mitschülern zurufen: „Geht zurück nach Hause.“
In der kommenden Woche soll sich ihr Schicksal entscheiden. Zuletzt ist eine Regelung für die Dreamer zum Köder geworden im Immigration Deal zwischen Republikanern und Demokraten. Sie sind jetzt Teil einer Machtprobe. Der Präsident knüpft ihr Schicksal daran, dass die Demokraten 18 Milliarden Dollar für den Bau der Mauer zu Mexiko zustimmen.
Bis dahin bleibt die Gefahr von Deportationen real. 90 Prozent der Daca-Immigranten arbeiten oder sind in der Schule. 25 Prozent sind Eltern: natürlich von Kindern, die per Geburt Amerikaner sind. Das bedeutet, dass die Kinder sicher sind, die Eltern aber deportiert werden können. Deshalb haben Psychologen einen 50-seitigen „Familiy Preparedness Plan“ entwickelt, ein Leitfaden, wie man die Kinder, je nach Alter, auf die Verhaftung ihrer Eltern vorbereitet. Wie man einen Vormund gerichtsfest benennt, Telefonketten festlegt, wie man vertrauensvoll Schulen und Ärzte informiert und wie man kleine und größere Kinder auf eine Zukunft ohne ihre Eltern vorbereitet, ohne sie dadurch noch viel mehr zu ängstigen.
Ein Immigrant ohne Papiere zu sein bedeutete schon vor Trump aus psychologischer Sicht keine akute Krise, sondern chronischen Stress. Dauernde Unsicherheit. Selbst mit der Daca-Gesetzgebung gewann man ja nur eine Legalisierung für zwei Jahre.
„Indem die Familien ihren Kindern über Jahre eingetrichtert haben, niemals über ihren heiklen Status zu reden, haben sie eine Kultur des Schweigens begründet“, sagt Rebecca Ford-Paz. Deshalb ist es für Psychologen gar nicht so einfach, die Leute ohne Papiere überhaupt zu erreichen. Viele Einwanderer misstrauen offiziellen Stellen und sind daran gewöhnt, Probleme innerhalb der Familie zu lösen. Mutlos? Rastlos? Niedergeschlagen? „Aber so fühlen sich doch alle in meiner Umgebung“, sagen sie dann.
Akuthilfe: „Die Mediennutzung runterfahren“
Es ist einzigartig, dass Chicagos Taskforce auch psychologische Hilfe beinhaltet, sagt Rebecca Ford-Paz. Viele psychologischen Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich am Limit. Sie betreuen ja nicht nur die Dreamer, sondern alle Immigranten der Stadt.
Die Einwanderungsbehörde erhöhte im ganzen letzten Jahr den Druck und forderte aggressiv dazu auf, „illegal aliens“ zu melden. Trump hat immer wieder verschiedene Gruppen aufs Korn genommen. Von Januar bis Juli spürten sie die direkten Folgen seines Travel Ban gegen Muslime. Sie schickten Erste-Hilfe-Psychologen an den Flughafen O’Hare. Dort hielten sie sich in den Ankunftshallen auf, um sich um die verzweifelten Familien zu kümmern, deren Angehörige einfach nicht durch die Glastür traten, weil sie keinen amerikanischen Boden betreten durften. Die Politik aus dem Weißen Haus materialisierte sich am Flughafen.
In einer Broschüre des „Center for Childhood Resilience“ der Lurie Kinderklinik raten sie, wie man Betroffene beruhigen soll: „Es gibt demokratische Prozesse in der US-Regierung, die eine Person daran hindern, sich wie ein Diktator aufzuführen und für immer zu regieren. Diese Prozesse brauchen Zeit.“
Als Akuthilfe rät sie: „Die Mediennutzung runterfahren.“ Die ständige Wiederholung von beunruhigenden Nachrichten, von Trumps Aggressivität, rege nur auf. Es hilft ja nicht weiter, wenn man weiß, dass Trump behauptet, Mexikaner seien Vergewaltiger, die Leute aus Haiti hätten alle Aids und ein Haufen Länder seien „Shitholes“.
Immer wieder knöpft sich der Präsident besonders Chicago vor, um darauf hinzuweisen, die Stadt müsse ihre Kriminalitätsrate in den Griff bekommen, sagt Rebecca Ford-Paz. „Dabei ist bewiesen, dass eine immigrantenfreundliche Politik für sinkende Kriminalitätsraten sorgt.“
Mit anderen Methoden und gleichem Ziel arbeitet auch Tonantzin Carmona im Rathaus an der immigrantenfreundlichen Politik, als gelte es, am Michigansee die letzten Reste des liberalen Amerikas zu verteidigen. Mitte Dezember stellte die Verwaltung den Prototypen eines neu entwickelten, stadteigenen Ausweisdokuments vor, das alle 2,7 Millionen Bewohner Chicagos Stadt bekommen können, auch Leute ohne Papiere und Obdachlose. Über die Karte sind, das ist technisch garantiert, keine Rückschlüsse auf den Aufenthaltsstatus der Person möglich.
Tonantzin Carmona, mexikanische Vorfahren, amerikanische Zukunft, hat einen kleinen, mexikanischen Totenkopf auf ihrem Schreibtisch. In nur einem Jahr hat sie die „CityKey-Card“ zusammen mit kalifornischen IT-Spezialisten entwickelt. Die Verwaltung konnte sich ja vorher gar nicht vorstellen, wo man überall ein Ausweisdokument braucht: Junge Mütter, die Essen für ihre Babys brauchen, müssen sich ausweisen. Auch Mittellose, die Medikamente beantragen.
Die „Sanctuary Cities“ tauschen sich aus
Die Karte soll außer der einfachen Identifikation in der Stadt noch Zusatznutzen haben, damit am Ende alle Chicagoer diese Karte haben wollen. Denn nur so kann die Verwaltung verhindern, dass die Benachteiligten durch den bloßen Besitz der Karte gleich wieder identifizierbar werden.
Sie ist deshalb aufladbar mit Guthaben für den öffentlichen Nahverkehr, sie dient als Leihausweis für die Bibliothek und ist eine Vorteilskarte bei bestimmten Geschäftspartnern. Wer will, kann sie als Organspendeausweis nutzen. So würde die Karte überhaupt nichts über ihre Besitzer aussagen, „denn es wären einfach alle“.
„Wir dürfen keine Datensätze zerstören, wenn uns die Bundesbehörde vorlädt. Aber wir können die Karte von Anfang an so anlegen, dass keine Rückschlüsse auf den Aufenthaltsstatus möglich sind“, sagt sie. Über ihre Mittel und Methoden tauschen sich die „Sanctuary Cities“ in einem nie gekannten Ausmaß aus. Trump habe die Städte erst zusammengebracht, sagt Carmona.
Kann man eine existente Strömung umdrehen?
Ende des 19. Jahrhunderts löste der völlig verdreckte Chicago River in der Stadt eine Cholera-Epidemie aus, weil er in den Michigansee floss, aus dem die Stadt Trinkwasser gewann. Man grub, ein bis heute bewundertes Husarenstück, einfach die höhere Seite tiefer aus und der Fluss änderte seine Richtung. Seitdem wissen sie hier: Was andere als Natur hinnehmen, das ist zumindest in Chicago, Illinois, noch formbar.