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Als Walt Whitman der Hot-Dog-Stände hat die „New York Times“ den Kritiker gefeiert. Eine Szene aus dem Film „City of Gold“.
© Goro Toshima

Streetfood in L.A.: Der Gourmet vom Pico Boulevard

Jonathan Gold ist der einzige Restaurantkritiker mit Pulitzerpreis. Und feiert, was Donald Trump beklagt: dass die USA eine Nation von Einwanderern ist.

Hmh. Soll dies tatsächlich der Treffpunkt mit dem berühmtesten Restaurantkritiker der Vereinigten Staaten sein? Das Fenster des Lokals ist vergittert, „Cash only“ warnt ein Schild, „Estados Unidos“ steht über der Landkarte an der Wand, als wäre es eine fremde Region. Immer lauter dröhnt die Mariachimusik zum Mittagessen. Zur Begrüßung kommen eine speckige Speisekarte und eine Plastikschale mit Tortillachips auf den Tisch.

Die schlechtesten der Welt, wie Jonathan Gold kommentiert, der das „El Parian“ im Osten von Los Angeles seit 36 Jahren besucht. Wegen des Birria, des Ziegenragouts, das er auch jetzt bestellt. Der Kalifornier ist eine rare Mischung aus entdeckungsfreudigem Schatzsucher und treuem Kerl. Wie stets trägt er seine Markenzeichen, breite Hosenträger über breitem Bauch, dazu Schnauzbart und Sommersprossen. Zottelig hängen die rötlichen Haare von der Halbglatze herab.

Der Mann ist Kult. Fans jubeln dem 56-Jährigen zu, wenn sie ihn erblicken. Gold ist der erste (und bis heute einzige) Restaurantkritiker, der mit einem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde „für seine schwungvollen, breit gefächerten Restaurantkritiken, die die Wonne eines gebildeten Essers ausdrücken“, wie es in der Begründung 2007 hieß.

Seine Texte haben Musik

Eigentlich wollte Gold Musiker werden, erst klassischer Cellist, dann Punkrocker. Stattdessen wurde er Musikredakteur beim alternativen „L. A. Weekly“ und fing irgendwann an, über Essen zu schreiben. Seitdem macht er das, was er so gut kann: „die Musik eines Mahls beobachten“. Er scheint es mit einer Art schläfriger Aufmerksamkeit zu tun. Notizen macht er sich keine dabei. „Sie könnten auch beim Sex mitschreiben. Aber dann würden Sie was verpassen.“

Aus Musik, Film, Literatur schöpft der Synästhetiker seine Bilder. Im Hauch einer Zitronenschale auf einem Stück Wolfsbarsch hört er den Akkord eines Schubert-Adagios. Für seine wilden Vergleiche ist er so berühmt wie für sein Faible für höllenscharfe Speisen. Seine Texte haben Musik. Und etwas Elegisch-Melancholisches. Im Grunde sind sie ein einziger sanfter Liebesgesang: an seine Heimatstadt.

Was Gold an Los Angeles gefällt, ist die unglaubliche Vielfalt der Kulturen, wie sie sich nur in einer Stadt von solchem Ausmaß halten können. Hier gibt es nicht einfach mexikanische Lokale, sondern solche, die, wie das „El Parian“, so wie in Guadalajara kochen – nicht für Touristen, sondern für die eigenen Leute.

L. A. ist für Gold kein melting pot, sondern „ein großes, funkelndes Mosaik“. Der Kritiker feiert, was der Präsident beklagt: dass die USA eine Nation von Einwanderern ist. Noch in den 80er Jahren, lange bevor die Streetfood-Bewegung die Grenzen zwischen High und Low verwischte, testete er Lokale, in die seine Kollegen keinen Fuß gesetzt hätten.

Er war mit Pommes, Dr Pepper und viel Kultur aufgewachsen

Das „El Parian“ liegt am Pico Boulevard, einer unglamourösen Straße, die sich von Santa Monica im Westen bis Downtown im Osten zieht. Am Pico lebte Gold, heute im bildungsbürgerlich-künstlerischen Pasadena zu Hause, 1981 als junger Collegeabsolvent und Korrekturleser. Als er eines Tages beschloss, in jedes, wirklich jedes Lokal an der 25 Kilometer langen Straße zu gehen. „Es war das Jahr, in dem ich Los Angeles kennenlernte.“ In dem er schmecken lernte. Denn aufgewachsen war er mit Pommes, Götterspeise, Dr Pepper. Und viel Kultur. Die war das Größte im Hause Gold.

Am Pico Boulevard fing alles an. Zu Beginn der 80er nahm Gold sich vor, in jedem Lokal an der 25 Kilometer langen Straße zu essen.
Am Pico Boulevard fing alles an. Zu Beginn der 80er nahm Gold sich vor, in jedem Lokal an der 25 Kilometer langen Straße zu essen.
© California Dreamin / Alamy Stock

Es dauert ein bisschen, bis „der liebenswerteste Restaurantkritiker der Welt“ („Guardian“) an diesem Mittag auftaut, sein trockener Humor zum Vorschein kommt. Vielleicht liegt’s an der Erschöpfung, gerade ist Food Month der „Los Angeles Times“, seinem heutigen Arbeitgeber, und Gold fast rund um die Uhr im Einsatz. Möglicherweise hat es auch etwas mit Deutschland zu tun, zu dem er „komplizierte Gefühle“ hat. Viele Familienmitglieder kamen im Holocaust um.

Zudem ist er ein zurückhaltender Mann. Auch Laura Gabbert brauchte viele Monate, um ihn zu überzeugen vo ihrem Wunsch, einen Film über ihn zu drehen. Irgendwann hat er Ja gesagt. Vor allem deshalb, weil ihre Kinder auf dieselbe Schule gingen, der Widerstand ihm zu anstrengend wurde. Außerdem mochte er Gabberts ersten Film über die Bewohner eines Altersheim für Linke. „Laura hat über ihren Aktivismus nicht gelacht, hat Los Angeles auf eine Art gezeigt, die mir gefiel.“

Es gibt nichts, was er nicht probieren würde

Die Betreiber des „Guerilla Taco Truck“, schwärmt der Kritiker, arbeiten mit den Aromen der Sterneküche.
Die Betreiber des „Guerilla Taco Truck“, schwärmt der Kritiker, arbeiten mit den Aromen der Sterneküche.
© promo/Chowseeker1999

„City of Gold“ heißt die Dokumentation, deren Dreharbeiten sich über fünf Jahre hinzogen und die am Montag beim Jüdischen Filmfestival in Berlin gezeigt wurde.

Fast sein ganzes Leben hat Gold in L. A. verbracht, abgesehen von einem Intermezzo als Mitarbeiter der Zeitschrift „Gourmet“ in New York, das er kulinarisch eher fad fand. Selbst wenn das Essen gut war, sei es oft langweilig gewesen. Im Heimaturlaub fühlte er sich immer wieder vom Wunsch überwältigt, eine Palme zu umarmen: „Don’t make me go!“

Als Restaurantkritiker ist Gold ein Selfmademan. Er hat die großen Autoren des „New Yorker“ studiert, bei Balzac das Beschreiben von Essen gelernt, sein größtes Idol heißt Walter Benjamin. Fast geniert er sich dafür, möchte nicht prätentiös klingen. So wie er in seinen Artikeln nie besserwisserisch rüberkommen will. Wobei man sicher sein kann, dass er es besser als der Leser weiß. Schließlich liest er alles zu einem Thema, geht mindestens vier, fünf Mal in ein Lokal; der Rekord liegt bei 17 Besuchen für eine Kritik. „Es gibt dem Text Tiefe.“ Ach ja, der Text. Artikel liefert er auf den allerallerletzten Drücker, und erst nach einem Bombardement von Drohungen. Eine ganz besondere Form der Schreibblockade, bei der ihm auch eine Spezialistin, die er konsultierte, nicht helfen konnte.

Für ein Lokal fährt Gold überallhin

Gold muss los, zum Radio, nach Santa Monica: Jede Woche kann man im öffentlichen Sender KCRW seine Kritiken hören. Also rein in den grünen zerbeulten Pick-up-Truck, Fenster runtergedreht, die Klimaanlage ist kaputt. Statt eine Sonnenbrille aufzusetzen, kneift er die Augen zu. Er liebt das Autofahren in L. A., die Gespräche, die sich dabei ergeben, die Musik, die er unterwegs hört, zum Beispiel Louis Armstrong.

Jonathan Gold schreibt jetzt ein Buch über Pico und sein eigenes Leben.
Jonathan Gold schreibt jetzt ein Buch über Pico und sein eigenes Leben.
© Larry Busacca/Getty Images

Für ein Lokal fährt Gold überallhin, in die abgelegensten Vororte, obskursten Wohnviertel, trübseligsten Einkaufszentren. Wie er darauf kommt? Empfehlungen, Hörensagen, Recherche. Yelp zum Beispiel, als Plattform für Restaurantkritiken nicht ernst zu nehmen, ist für ihn eine wichtige Informationsquelle für Neuentdeckungen. So wie koreanische, japanische, philippinische Websites, die er sich mithilfe von Google Translate erschließt.

Jonathan Gold ist ein unerschrockener Esser. Es gibt nichts, was er nicht probieren würde, und wenn die Begeisterung ausbleibt, wie beim Stinkenden Tofu, probiert er so lange weiter, bis er zumindest das Gefühl hat, es zu verstehen. Das Einzige, was er wirklich nicht gern mag, sind Eier. Die er seiner Familie trotzdem jeden Morgen rührt, brät und pochiert.

"Ich will nicht, dass Menschen ihren Job verlieren“

Verrisse wird man kaum von ihm lesen. In London, so sein Eindruck, wetteifern die Kritiker miteinander auf der Suche nach dem schlechtesten Restaurant, um dieses dann auf fieseste Art niederzumachen. Wenn er etwas uninteressant findet, schreibt er einfach nicht drüber. „Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass Menschen ihren Job verlieren.“ Und wenn sie in einem Lokal alles falsch machen, erzählt er, aber eine Sache spektakulär richtig, dann macht er es wie ein Goldschürfer und richtet alle Aufmerksamkeit darauf. So wie beim Ziegenragout im „El Parian“, das überraschend mild schmeckt.

Vor acht Jahren hat er das Lokal im „L. A. Weekly“ besungen, die dicken, frischen Tortillas, das mit Chili bestrichene Rippenfleisch. „Die Brühe sang mit Knoblauch und Gewürzen, aber vor allem mit einer starken Essenz von Ziege, ein Scheunengeschmack, der genauso gut aus den Jalisco Mountains hätte kommen statt aus einem Restaurant ein paar Meilen vom Kongresszentrum entfernt. Es schmeckte nach Guadalajara. Und nach Zuhause.“

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