Berlins neues Tourismuskonzept: Was planen die Kieze?
Der Hauptstadttourismus soll "anspruchsvoller" und verträglicher werden. Dafür will der Senat die Besucherströme entzerren und in die Kieze steuern.
Rund 13 Millionen Gäste besuchten 2017 Berlin. Viele bleiben in den Szenevierteln, wo zunehmend Berliner vom nächtlichen Lärm und Verunreinigungen auf den Straßen genervt sind. Der Senat will nun auf dem Weg zum „anspruchsvollen“ Tourismus die Touristenströme in der Innenstadt entzerren. „Kiez-basiert“ soll die Tourismussteuerung sein. Aber was bedeutet dieses stadtverträgliche und nachhaltige Konzept für die Bezirke?
40.000 Euro erhält jeder Bezirk jeweils für die Jahre 2018 und 2019 für eigene touristische Projekte. Die Gelder sind zweckgebunden und müssen in dem veranschlagten Jahr auch abgerufen werden. Am 31. Mai lief die Frist für die Einreichung der Projekte beim Senat ab.
In der Tourismusgesellschaft „Visit Berlin“ wird derzeit ein Team aufgebaut, das die Bezirke beraten und das Marketing übernehmen soll – derzeit tourt die neue Tourismusbeauftragte bei Visit Berlin durch die Stadt und stellt sich vor. Was aber genau planen die Bezirke? Ein Überblick.
Friedrichshain-Kreuzberg
Stadtverträglicher Tourismus ist im Projekt „fair.kiez“ festgeschrieben. Denn der Bezirk ist der kleinste und am dichtesten besiedelte in Berlin, aber nach Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf hat er die höchste Bettenauslastung. Viele Touristen kommen in den Kiez wegen dessen nächtlichen Clublebens. Natürlich fühlen sich einige Anwohner durch Lärm während der Nacht, Vermüllung und auch Urinierens in Hauseingänge genervt. Der Bezirk setzt darauf, bei Konflikten zeitnah zu reagieren und zu moderieren. Um einen „stadtverträglichen Tourismus“ zu entwickeln, sollen mit Gewerbetreibenden und Anwohnern zum Beispiel aus dem Boxhagener Kiez Dialoge geführt werden. Eine Arbeitsgruppe mit der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) und Stadträten unterstützt das Projekt „fair.kiez“. Ein Teil der Mittel wird für die weitere Verbreitung des Labels „fair.kiez“ eingesetzt. Mehr dazu unter www.fairkiez.berlin.
Tempelhof-Schöneberg
Während Schöneberg, insbesondere die Gegend um den Wittenbergplatz, der Regenbogenkiez und der Bereich Maaßenstraße und Winterfeldtplatz touristisch gut frequentiert werden, sieht es in Tempelhof ganz anders aus. Abgesehen von Leuchttürmen wie der Tempelhofer Freiheit (ehemaliges Flugfeld), der ufaFabrik oder dem Tempelhofer Hafen bewegen sich kaum Touristen in den Bezirk. Das Tourismuskonzept des Bezirks will Gästen nun Orte zeigen, die es auch in Tempelhof zu entdecken gibt. In den letzten Jahren wurden Imagefilme veröffentlicht. Außerdem erstellte der Bezirk Faltpläne für drei Schöneberger Spaziergänge (Schöneberger Norden, Regenbogenkiez und Rund ums Rathaus). Für Tempelhof ist eine Fahrradkarte geplant: Die Sehenswürdigkeiten liegen in dem Ortsteil weiter auseinander, sind aber mit dem Fahrrad gut zu erkunden.
Steglitz-Zehlendorf
Das Tourismuskonzept im Südwesten der Stadt hat als Schwerpunkt den Radtourismus. Am kommenden Freitag wird die „Dahlem-Route“ eröffnet, die in Dahlem zum einen Natur- und Kulturorte und zum anderen Ausflugslokale, Cafés und Einkaufsmöglichkeiten verbindet. Über die Radroute sollen Berlin-Gäste und neugierige Stadtbewohner zum Beispiel in die Taut-Siedlung, zum AlliiertenMuseum, zum Haus am Waldsee und an die Ufer der Grunewaldseen gelotst werden. Aus den Landesmitteln sollen Werbestände, Informationsblätter, Agenturleistungen, Give-aways und Online-Routenplanung finanziert werden. Außerdem soll im Herbst eine „Trade-Show“ der im Netzwerk „Natürlich Kultur“ zusammengeschlossenen Einrichtungen – von der Schwartzschen Villa über das Brückenmuseum bis hin zum (ganz neu!) Haus der Wannseekonferenz – finanziert werden.
Spandau
In Spandau findet man Urbanität und Naherholung in den Waldgebieten und am Wasser. Der älteste grüne Bezirk bietet Sehenswürdigkeiten wie die Zitadelle Spandau, das Gotische Haus, die Nikolai-Kirche, den Kladower Hafen oder das Fort Hahneberg in Staaken, gute fünf Kilometer von der Zitadelle entfernt. Dort entsteht ein Natur- und Geschichtslehrpfad, der die Besucher beim Spazierengehen informieren und unterhalten soll. Ein Teil der Landesmittel fließt in das Projekt „130 Jahre Fort Hahneberg“ , weitere Gelder sollen für „kleinteilige touristische Projekte“ verwendet werden, die jedoch noch nicht näher ausgeführt werden. Es soll einen jährlichen Aktionstag „Spandau tourt“ geben, der ebenfalls aus diesen Mitteln finanziert werden soll
Reinickendorf
Der Bezirk hat zwei Projekte zur Förderung bei der Wirtschaftsverwaltung eingereicht. Mit dem Projekt „Humboldt-Brüder in Reinickendorf“ soll multimedial und für alle Generationen die Geschichte der Humboldts in Reinickendorf bekannt und erlebbar gemacht werden. Mit einer noch zu entwickelnden App und QR-Codes sollen digitalaffine Menschen über eine „Humboldt-Route“ durch den Bezirk geführt werden. Diese wird auch auf Stelltafeln und Flyern erklärt. Das Projekt „Hinter der Fassade“ befasst sich grob mit der baulichen Geschichte. Das Wirtschaftsarchiv soll untersuchen, welche baulichen Zeugnisse an die Pioniere von Industrie und Gewerbe im Bezirk erinnern, und welche Produkte, Patente, Unternehmerpersönlichkeiten und Erfindungen daraus hervorgegangen sind. Ziel ist die wirtschaftshistorische Vergangenheit Reinickendorfs darzustellen, die Gäste und Berliner in sieben industriekulturellen Spaziergangs-Touren entdecken können.
Charlottenburg-Wilmersdorf
Die 40.000 Euro werden komplett in ein Nachfolgeprojekt der Gedenkregion Charlottenburg-Nord fließen. Touristen sollen diese Region ebenso erkunden wie die Berliner. Um sie bekannt zu machen, soll der Gedenkweg zwischen Gedenkstätte Plötzensee und den Gedenkkirchen Sühne-Christi-Kirche (Toeplerstraße/Halemweg), Maria Regina Martyrum (Heckerdamm) und Plötzensee gut ausgeschildert werden – für Informationsstelen sind 33.000 Euro veranschlagt. Die Tourismusplaner wollen die Gäste vom Kurfürstendamm und seinen Einkaufsmöglichkeiten weglocken, um die Besucherdichte in der City West zu entzerren. In diesem Jahr soll noch darüber diskutiert werden, welche Nachfolgeprojekte es in den kommenden Jahren geben könnte.
Lichtenberg
„Kluge Köpfe werben für Lichtenberg" heißt das Projekt und soll zeigen, dass der Bezirk mehr ist als Stasi-Museum. Lichtenberg – Bezirk der Erfinder, unter diesem Motto soll der Industriestandort touristisch vermarktet werden. Seit mehr als 100 Jahren würden hier „kluge Köpfe“ wirken, mit einem Teil der Fördermittel (15.000 Euro) wird eine Broschüre über die bezirklichen Erfindungen und ihre Schöpfer produziert, die Anfang Dezember fertig sein soll. Ein weiterer Teil fließt in die Bewerbung der Islandpferde-Weltmeisterschaft, die im August 2019 im Pferdesportpark Karlshorst stattfindet. „Let's tölt!“ heißt es in der Ankündigung, 250 Reiter werden erwartet. Bereits jetzt sei die Aufmerksamkeit für den Bezirk und dieses Event „sehr groß“, heißt es im Bezirk. Schließlich finanziert der Bezirk über die Mittel das „Willkommen in Lichtenberg“-Wasserfest mit dem Drachenbootrennen am 1. September und die Fête de la Musique, deren Schwerpunkt dieses Jahr in Lichtenberg lag.
"Alex-Guides" und Köpenick-App
Mitte
In Mitte kommen die Gelder zwei Sehenswürdigkeiten zu Gute, die direkt nebeneinander liegen: der Alexanderplatz bekommt 15.000 Euro für eine bessere Orientierung, die Franziskanerklosterkirche soll mit 25.000 Euro sichtbarer gemacht werden. Die sogenannten „Alex-Guides“ sollen mit ihrem „ansprechenden Erscheinungsbild“ nicht nur Touristen helfen, sondern auch bei Berlinern die „Identifikation mit dem Stadtquartier stärken“. Ergänzt werden sie mit einer Kiezkarte, die gemeinsam mit den Anrainern entwickelt werden soll. Für die Franziskanerklosterkirche wird die Entwicklung einer Architekturbeleuchtung ausgeschrieben. Im Rahmen des Europäischen Kulturerbe-Jahres soll die Beleuchtung im September eingeweiht werden, bevor es richtig dunkel wird. Geplant ist auch die Erstellung eines Touristenführers für die Kirche, in dem Historiker die Baugeschichte der Kirche und die Historie des Viertels erleuchten.
Neukölln
Der Reuterkiez rund um die Weserstraße ist geplagt von Hostel- und Trinktourismus, während sich kaum eine Touristengruppe nach Britz oder Rudow verirrt. Um den Tourismus in Neukölln besser zu lenken und nachhaltiger zu machen, gibt der Bezirk für 20.000 Euro eine Analyse über den bestehenden Tourismus im Bezirk in Auftrag. Was bietet der Bezirk Touristen – und was läuft weniger gut? Wo sollte kein neues Hostel mehr öffnen, und wo fehlt ein Hotel? Die Ausschreibung der Analyse soll noch im Juni erfolgen und im Verlauf alle beteiligten Akteure, wie Gewerbetreibende und Bürgerinitiativen, miteinbeziehen. Mit weiteren Mitteln kauft der Bezirk Weihnachtsbeleuchtung für die umgebaute Karl-Marx-Straße.
Marzahn-Hellersdorf
Auch in Marzahn-Hellersdorf macht man sich erstmal Gedanken, wie das Berliner Tourismuskonzept auf Bezirksebene runtergebrochen werden kann. Mit der Internationalen Gartenschau haben viele Touristen und Berliner erstmals Marzahner Luft geschnuppert. Die Mittel sollen benutzt werden, um bis Ende Oktober ein Konzept dafür zu erarbeiten, welche Strategien im Post-IGA-Zeitraum den Tourismus im Bezirk weiter hochhalten können. Touristen, die das zweite oder dritte Mal in Berlin sind, sollen von der Mitte in den Randbereich geführt werden. Sie sollen den Wuhletalweg erkunden, im Museum von Charlotte von Mahlsdorf auf Musikmaschinen spielen und im Tierhof und in der Bockwindmühle das ländliche Leben in der Stadt entdecken.
Pankow
In Pankow will man mit den Landesmitteln erst einmal Finanzierungslücken im Tourismusbereich decken. Außerdem sollen Dialogveranstaltungen mit Bürgern organisiert werden, auf denen die Frage erörtert werden soll, wie die Bevölkerung besser in die Projektentwicklung eingebunden werden und sich weniger vom Tourismus genervt fühlen kann? Auch die Ortsteile außerhalb des S-Bahn-Rings sollen in den Vordergrund rücken, das Thema Industriekultur soll in Zusammenarbeit mit anderen Bezirken einen Schwerpunkt bilden. Schließlich möchte sich die Touristeninformation stärker professionalisieren und das Thema „Reisen für alle“ voranbringen.
Treptow-Köpenick
Der wasserreichste Bezirk Berlins geht ins Netz: Mit den Fördermitteln plant Treptow-Köpenick die touristischen Angebote zu digitalisieren und digital zu bewerben. Dazu gehören YouTuber, die als Influencer die neuen Radtouren testfahren sollen, eine eigene App „KöpenickTripp“, die Besucher durch Alt-Köpenick führt, ein digitaler Touristenführer zur Industriekultur sowie die Erneuerung der Webseite des Tourismusvereins, die zukünftig auch auf Englisch erreichbar sein soll. Mit Social-Media-Kampagnen soll der Bezirk besonders bei „jungen, erlebnisorientierten“ Touristen bekannter werden, die Sport als Statussymbol sehen. Vor allem aber sollen touristische Anbieter durch ein gemeinsames Bookingsystem vernetzt werden, damit Besucher an einem Ort digital Hotels und Reisepläne buchen können. 40.000 Euro reichen für diese Pläne nicht: Der Bezirk plant mindestens 10.000 Euro zusätzlich aus Eigenmitteln zu investieren.
Wasserwandern und Radwege
Für 88.000 Euro soll der Tourismusverein Treptow-Köpenick (TKT) außerdem sein erfolgreiches Wasserwandern-Portal www.wasserwandern-in-berlin.de auf ganz Berlin ausdehnen. Die „Wasserbezirke“ Steglitz-Zehlendorf, Spandau, Charlottenburg-Wilmersdorf, Tempelhof-Schöneberg und Friedrichshain-Kreuzberg sollen dafür geeignete Routen und Rastplätze vorschlagen, die dann auf der Seite vorgestellt werden. Außerdem soll es einen interaktiven Routenplaner für alle Wasserwege geben. Das gesamte Design der Seite werde bis September überarbeitet, kündigte TKT-Geschäftsführer Mathis Richter an. Das Berliner Zentrum für Industriekultur, angebunden an die Hochschule für Technik und Wirtschaft in Oberschöneweide, erhält 50.000 Euro für die Ausarbeitung von drei Radrouten zu den Berliner Denkmälern für Industriekultur (die ja mal Weltkulturerbe werden sollen).
Die beteiligten Berlin- und Leute-Autoren: Sabine Beikler, Judith Langowski, Gerd Appenzeller, Cay Dobberke, Christian Hönicke, Boris Buchholz, Ingo Salmen, Thomas Loy, Nele Jensch, Sigrid Kneist, Robert Klages.