Touristenhochburg Berlin: Das Rollkofferkommando
Die Partyhopper und Saufgruppen in Friedrichshain-Kreuzberg haben nie Feierabend. Stadt und Bezirk wollen die Besucherflut verträglicher gestalten.
Ein Freitagabend gegen 23 Uhr an der Warschauer Brücke: Eine Gruppe portugiesischer Touristinnen, alle Anfang bis Mitte zwanzig, hat im Hostel ordentlich vorgeglüht und geht, das Getränk in der Hand, laut schnatternd über die Warschauer Brücke Richtung Revaler Straße. Dort hängen bereits die ersten abgehängten Partyfreudigen über der Brücke und lassen sich ihren Alkoholkonsum durch den Kopf gehen. Der Energydrink treibt, Toiletten sind nicht in Sicht. Schnell hinter ein Auto an einen Bordstein gehockt, Druck abgelassen, weiter geht's in den Club.
Dieser Abend spielt sich in Variationen allwöchentlich ab, mit wechselnder Besetzung und an verschiedenen Orten dieser Stadt. „Nach dem Wettsaufen kommt das Wettkotzen“, beschreibt Monika Herrmann, Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, die Dynamik, die in ihrem Bezirk besonders konzentriert auftritt. Neben der Warschauer Brücke zählt Herrmann auch Wrangelkiez, Bergmannkiez, Boxhagener Platz, Görlitzer Park, Kottbusser Tor und Admiralbrücke als Brennpunkte auf. Bei letzterer grenzen Wohnungen direkt an den beliebten Sommertreffpunkt, an dem die Menschenmassen oft bis spät in die Nacht trinken, singen und musizieren. Daraus entstehen Lärm und Müll: Neben menschlichen Ausscheidungen in Hauseingängen auch die zerschlagenen Bierflaschen, die Radfahrer zur Weißglut treiben, verstreute Pizzakartons und Dönerverpackungen. Ordnungs- und Wirtschaftsstadtrat Andy Hehmke nennt Kriminalität als weitere Negativfolge; die Situation um das RAW-Gelände ist zwar mittlerweile entschärft, erhöhte Gewaltbereitschaft nach ein paar Gläschen zu viel oder Taschendiebstähle an betrunkenen Touristen bleiben aber ein Problem. 12,7 Millionen Besucher kamen 2016 nach Berlin – das macht sich auch im Kiez bemerkbar. Deswegen haben Bezirke, allen voran Friedrichshain-Kreuzberg, und Senatsverwaltung sich mittlerweile das Konzept „stadtverträglicher Tourismus“ auf die Fahnen geschrieben und im Koalitionsvertrag verankert. Anfang 2018 soll ein konkretes Konzept vorgestellt werden. Doch bis dahin ist erst mal Hochsaison und die Bezirke, die sich vor allem als Leidtragende der boomenden Tourismusbranche sehen, müssen lokal mit den Problemen umgehen.
„Unsere Erfahrungen zeigen auch, es gibt nicht die eine Lösung“, sagt Andy Hehmke. Denn viele Akteure sind beteiligt: Anwohner, Gaststättenbetreiber, Hoteliers und Hostelbesitzer, Reiseveranstalter, Bezirke und Senatsverwaltung und natürlich die Touristen selbst. Monika Herrmann berichtet von Hoteliers und Restaurantbesitzern, die sich mittlerweile weigern, Junggesellenabschiede aufzunehmen. Von Verboten wolle man absehen, stattdessen auf Dialog setzen. Sie sieht einen Trend zu Selbstbeschränkung, wie beim mittlerweile ausgestorbenen Phänomen Flatratesaufen: „Wenn bestimmte Gebiete in einen schlechten Ruf geraten, gehen die Leute nicht mehr da hin“ sagt sie. Wenn man den Tourismus erhalten wolle, müsse man ihn verändern, nachhaltig machen.
Auf Spottafeln flimmern Werbespots für "Fair.kiez"
Deshalb flimmern jetzt 654 Mal am Tag kurze Werbespots über die Spottafeln an Warschauer Brücke, East Side Gallery und der Großarena. Unter der Überschrift „Fair.kiez“ versucht der Bezirk, Anwohner und Gastronomen in den Dialog zu bringen, schickte 2015 Pantomime auf die Straße und sendet jetzt eben Spots zum Thema Sauberkeit, Müll und Lärm, direkt an der Feiermeile. „Welcome to the Kiez“, werden die Touristen freundlich begrüßt. Aber: „Have fun, respect your neighbours!“ Da poppt ein blauer Mund auf weißem Grund auf, ein Finger legt sich darüber, der Mund lächelt. Sei leise, dann sind wir glücklich. Ob die Spots auch nach ein paar Drinks die Zielgruppe erreichen, ist noch nicht belegt. Kathrin Klisch, Vize-Leiterin der Wirtschaftsförderung im Bezirk, erkärt, was sie unter „fair“ versteht: „Es geht um Ausgleich und Dialog und darum, den berlintypischen Kiez zu erhalten.“
Andere Maßnahmen aus dem bezirklichen Katalog sind da konkreter: Größere Müllcontainer, die 360 Liter fassen, etwa, oder geplante öffentliche Toiletten am Görlitzer Park, verstärkt patrouillierende Ordnungsamtsmitarbeiter an den Wochenenden, BSR-Trupps, die den Touristen nach der Party hinterherräumen. Aber all das kostet Geld, das Monika Herrmann gerne vom Senat erstatte bekäme, am liebsten mit 25 Cent pro Tourist – schließlich nehme das Land über die Bettenpauschale Geld ein.
Auf Landesebene kümmert sich „Visit-Berlin“ seit 2013 um das Thema. Mit 230 000 Euro jährlich ist die „Geschäftsstelle Akzeptanzerhaltung“ ausgestattet. „Wir haben das Thema früh erkannt, Zustände wir in Barcelona oder Venedig haben wir hier nicht“, so „Visit-Berlin“-Sprecher Christian Tänzler. Mit diesen Mitteln lädt sie zu Dialogen zwischen Hotel- und Gaststättenbetreibern und Bezirken ein, verteilt Flyer mit Verhaltensregeln auf Veranstaltungen in aller Welt. In der Broschüre wird klargestellt: „In Berlin, everything is allowed, if it's not verboten“. Lieber keinen Müll verteilen, kein Alkohol unter 16 Jahren, und die Berliner Schnauze werden dem Berlin-Besucher hier ans Herz gelegt.
Im "Kiezmobil" Fahren Mitarbeiter von "Visit Berlin" zu den Anwohnern
Auch bei „Visit-Berlin“ setzt man auf Dialog: Mitarbeiter fahren mit dem „Kiezmobil“, einem umgebauten Lastenfahrrad, in die Kieze und redet dort mit Anwohnern. Online können sich Bürger auf der Webseite „Du hier in Berlin“ einbringen und Beschwerden loswerden. Dieses Wissen wird an die Bezirke weitergegeben, denn viele Entscheidungen, etwa zu Schankgenehmigungen oder städtebauliche Entscheidungen und Ordnungsfragen, fallen in den Kompetenzbereich der Bezirke. Die Marketingagentur versucht auch, den Tourismus durch gezieltes Marketing qualitativ zu verbessern: Mehr Kultur-, Gesundheits- und Messetouristen sollen in die Stadt kommen – die würden weniger Ärger verursachen. „Wir sprechen Zielgruppen an, die dem Klischee der Partytouristen nicht entsprechen“, so der Sprecher. Denn Bierbikes oder Flatratesaufen und die Disneysierung wie am Brandenburger Tor seien nicht der Tourismus, den Berlin wolle.
Neben Müll, Lärm und Kriminalität ist auch der Wohnraummangel und generell Platzmangel ein heißes Thema: Zwar sollen Ferienwohnung als Wohnraum zurückgewonnen werden, die schleppende Umsetzung des Ferienwohnungsverbots und kurzfristige Vermietungen etwa durch AirBnB bringen die Touristen aber in die angesagten Kieze. Die App „Going local“ ist ein Versuch, Touristen auch in die weniger frequentierten Bereiche der Stadt zu locken. „Berlin hat so viel zu bieten, es müssen nicht immer alle zur gleichen Zeit an die gleichen Orte kommen“, erklärt ein Sprecher der Senatsverwaltung für Wirtschaft.
Monika Herrmann fordert ein abgestimmtes Verfahren zu Hotelbebauung, um Berlin touristisch zu entzerren. Bei allem Ärger und Verdruss mit den Besuchern – es sind nicht immer nur Touristen, die freitagabends über dem Geländer Warschauer Brücke hängen. „Konflikte- wie zwischen Wohnen und Vergnügungsstätten haben sehr oft nicht primär touristische Ursachen“, sagt Senatsverwaltungssprecher Siebert. Und selbst Monika Herrmann räumt ein: „Es ist doch schön zu wissen, dass Leute gerne die Stadt besuchen.“
Das Pilotprojekt „Stadtverträglicher Tourismus“ ist durch den Einsatz von Pantomimen, die Touristen zu leiserem Auftreten und weniger Müllproduktion anhalten sollten, bekannt geworden. Zuvor hatte man sich Projekte in aller Welt angeschaut und war auf Pantomime, die ursprünglich zur Verkehrserziehung eingesetzt wurden, aufmerksam geworden. Die Intervention hatte aber kaum Auswirkungen auf das Verhalten der Touristen, stellte ein abschließender Bewertungsbericht fest. Die EU-geförderte Initiative „lokal.leben“ setzte auf Dialogveranstaltungen mit Anwohnern, Gewerbetreibenden und Immobilienwirtschaft. Außerdem führte sie lokale Studien in besonders betroffenen Kiezen (Graefekiez, Spreewaldplatz und Wrangelkiez) durch. Das Ergebnis: Eine „Nightlife“-Karte, die Touristen alternative Routen aufzeigen soll und damit die Lärmbelastung für Anwohner in Wohngebieten senken soll, außerdem eine Broschüre „Touristische Nutzung in Wohnquartieren – was tun?“, die anderen Bezirken und Städten als Inspiration dienen soll.