Klaus Wowereit und seine Nachfolger: Na dann, viel Vergnügen...
... wünscht Klaus Wowereit den drei Kandidaten, die seine Nachfolger werden wollen. Es war eine verrückte Woche, in der der Regierende Bürgermeister von Berlin erst überraschend zurücktrat und dann Jan Stöß, Raed Saleh und Michael Müller erklärten: "Ich will es werden." Eine Rückschau.
Als der Moment kommt, in dem sich noch einmal alles ändert, sitzt Raed Saleh in seinem Fraktionsvorsitzendenzimmer auf einem weißen Ledersofa, über ihm an der Wand ein Porträt Friedrich Eberts, des großen Sozialdemokraten, Vorsitzender der Partei, erster Reichspräsident der Weimarer Republik. Saleh wird ruhig. Es ist zu sehen: Er will sich nichts anmerken lassen.
Vor genau vierzehn Jahren, im August 2000, saß hier in diesem Büro, unter demselben Porträt, Klaus Wowereit, damals noch Fraktionsvorsitzender. Er wird ruhig. Es ist zu sehen: Er sucht eine Antwort, die keine sein darf. Die Frage lautet: Trauen Sie sich das Amt des Regierenden Bürgermeisters zu? Auf dem Tisch steht ein Tonband, das rote Licht leuchtet.
Die Koalition mit Diepgens CDU lief damals längst nicht mehr gut, die Zeit des Belauerns war angebrochen, auch in der SPD. Wowereit war wenig bekannt in der Stadt, und das mit mäßigen Werten. Jetzt kommt es darauf an, es noch nicht darauf ankommen zu lassen. Er setzt sich auf und sagt: „Die SPD nominiert ihren Spitzenkandidaten spätestens 2003. Es wird eine Person sein, die es mit jedem aufnehmen kann.“
Vierzehn Jahre später. Raed Saleh ist weiter, als Wowereit damals war. Er ist länger als dieser Fraktionsvorsitzender. Er ist bekannter. Er ist beliebter, als Wowereit es damals war. Er weiß genau, wann das Parlament einen neuen Regierenden Bürgermeister wählt, seit Klaus Wowereit vor 48 Stunden seinen Rückzug erklärte. Er weiß, dass es für den Kandidaten in der Koalition eine sichere Mehrheit gibt. Er hat schon gesagt: Ich möchte Regierender Bürgermeister werden. Er kennt seine Gegner. Er kennt seine Unterstützer. Da geht die Tür auf und eine Mitarbeiterin Salehs kommt herein. Sie reicht ihm ein Blatt, eine Nachricht. Es ist Donnerstagmittag, viertel vor zwei. Saleh schaut auf das Papier und wird ruhig. Dann setzt er sich auf. Es ist der Moment, in dem er versteht: Von jetzt an wird Hardball gespielt.
Am Morgen war in den Berliner Zeitungen zu lesen, wer für Parteichef Jan Stöß ist, wer für Fraktionschef Raed Saleh. Heinz Buschkowsky ist für Saleh, das hat er noch am Vortag gesagt. Der Neuköllner Bürgermeister hält viel von dem jungen Sozialdemokraten aus Spandau. Sie teilen politische Positionen, sie waren gemeinsam in Rotterdam. Hier regiert Ahmed Aboutaleb, Muslim wie Saleh, Sohn arabischer Einwanderer wie Saleh, Anhänger einer „hinschauenden Integrationspolitik“ wie Saleh. Buschkowsky hält auch viel von Aboutaleb, einem Vorbild für Salehs Karriere. Auf dem Zettel, den Saleh soeben gereicht bekommt, steht: „Buschkowsky für Müller als Regierender Bürgermeister.“
Stöß und Saleh haben die Ämter unter sich aufgeteilt
Michael Müller. Stöß und Saleh hatten ihm beide Ämter genommen und unter sich aufgeteilt. Den ersten Schritt auf dem Weg nach ganz oben nahmen sie gemeinsam, um stärker zu sein. Wer den nächsten geht, wollten sie unter sich ausmachen. Doch plötzlich ist Müller wieder da, als Rächer seiner selbst. Sein größter Vorteil ist das schlechte Gewissen der SPD. Wie er vor zwei Jahren aus dem Amt gejagt wurde, hält heute mancher für beschämend. Auch Wowereit, dem er lange treu diente, ließ ihn damals fallen, als er merkte, dass es eng wird – und dass eigentlich er selbst gemeint war. Müller ist sein Blitzableiter, Stöß schlägt zerstörend ein.
Es ist Freitagabend, die SPD hat geladen zum Sommerfest. Gefeiert wird in Schöneberg nahe dem alten Gasometer, wo Günther Jauch seine Gäste empfängt. Da wollen sie rein, die drei Kandidaten. Jetzt aber stehen sie erst einmal davor, auf dem Euref-Campus. Alle sind ganz nett zueinander. Aber wer umarmt wen, wer umarmt herzlich, wer herzlichst? Wer gibt nur die Hand? Wer einen flüchtigen Wangenkuss? Bei seiner kurzen Rede hat Wowereit wieder auf der Kante zum Spott gewitzelt über das, was sich hinter ihm tut. Er dankt jenen „für die Enttäuschung“, die enttäuscht waren von seinem Rückzug, und er wünscht jenen, die sich jetzt aufreiben werden um ihm nachfolgen zu können, maliziös dabei „viel Vergnügen“. Saleh hat das nicht gehört; er kommt etwas später, mit seiner Frau, ein Problem mit dem Babysitter ist dazwischengekommen.
Drei Kandidaten. Aber, so Wowereit, „leider kein geborener Nachfolger“ – als wäre das Amt ein monarchisches Erbe. Eine Vorstellung, die so absurd ist wie der Vorwurf, König Wowereit habe versäumt, seinen politischen Mörder liebevoll großzuziehen aus dem Genpool der Berliner Sozialdemokratie. Drei Kandidaten. Aber keiner geeignet? Zwei davon überhaupt nicht? Das ist Talk of the Town, das sagt jetzt jeder: die kennt ja keiner, die können doch nichts, die sind doch niemand.
Wolfgang Thierse hat schon Stunden nach der Rückzugserklärung von Wowereit seine Partei aufgefordert, auch über den „landespolitischen Tellerrand“ hinaus zu suchen, dort gebe es „eine Menge guter Politiker“. Auch im Schwabenland, wo sie Weckle sagen? Thierse nennt keinen, es meldet sich keiner. Riesengroß wird Wowereit wieder aufgeblasen, um dem Bild von den Zwergen, die sich da duellieren, die dritte Dimension zu verleihen. Heraus kommt eine Illusion: die vom Bürgermeister aus dem Konfigurator, fertig zusammengeschraubt lieferbar bis zum 11. Dezember.
Gibt es eigentlich die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen noch in Berlin? Ja, es gibt sie, ihre Vorsitzende heißt Eva Högl. Die Website wirkt hochaktuell, der letzte Eintrag ist vom vergangenen Donnerstag, dem Tag, als der dritte Mann seine Hand hebt. Am Montag ist Annahmeschluss. Kommt da noch was? Es sieht nicht so aus. Dilek Kolat, Senatorin für Arbeit, Integration und, ja: Frauen – hat den Kopf eingezogen; sie wird schon wissen, warum. Eva Högl, lange als mögliche Kandidatin genannt, hat schon vor Wochen abgesagt, mit beiden Händen erschrocken abwehrend wedelnd. Am Freitag beim Sommerfest wirkt sie nicht wie in Feierlaune, das Thema behagt ihr nicht. Sie sei jetzt nun mal im Bundestag, und „Ebenen-Hopping“ ist nicht so ihr Ding. Zur Kandidatenlage von ihr sonst kein Wort. Lieber unterhält sie sich nett mit Bettina Jarasch, eine der Parteivorsitzenden der Berliner Grünen, von der Wowereit im Parlament mal süffisant sagte, ihm fiele gerade ihr Name nicht ein. Rot-Grün war von Wowereit als Option zu Tode gedemütigt worden. Ohne ihn kommt sie als Zombie zurück: nicht schön, nicht real, nicht zur Zeit.
Hat Raed Saleh ein Rassismusproblem?
Gibt es eigentlich die Christliche Demokratische Union noch in Berlin? Ihr Vorsitzender, Frank Henkel, auch Bürgermeister und Innensenator, Mitunterzeichner des Koalitionsvertrags, ist abgetaucht. Offene Fragen gibt es ja nicht, heißt es abwehrend aus seinem Umfeld. Gibt es nicht? Wählt die CDU-Fraktion jeden mit, den die SPD ihr vorsetzt? Davon steht jedenfalls nichts im Koalitionsvertrag. Hat die CDU keine konkreten Erwartungen an einen neuen Senatschef? Da sie nichts sagt, offenbar nicht. Ist das Ende der Ära Wowereit für die Union eine Zäsur oder der Anlass für einen verlängerten Sommerurlaub?
Als Händler in eigener Sache zeigt sich die Hauptstadt-Union allenfalls kreisligareif. Warum treibt Henkel mit seiner, wie die einen sagen, Willfährigkeit oder, wie die anderen sagen, Loyalität nicht wenigstens den Preis etwas hoch? Alles, was der CDU bisher einfällt, ist der Versuch, den Grünen mit ein paar Blumen etwas Verlegenheitsröte ins Gesicht zu treiben. So lobt Kai Wegner, der Generalsekretär, die Fraktionsvorsitzenden Antje Kapek und Ramona Pop, sagt, er sei sehr optimistisch und nennt Schwarz-Grün eine „spannende Option“. Doch die platzt schon allein beim Gedanken an ein Gesprächlein über Autobahnen, Flüchtlingsheime und Verwaltungsstrukturen. Der schwarze Kaffee und der grüne Tee wären noch heiß, da wäre das schon vorbei.
Wie hochgradig verspannt auch das Verhältnis von einigen Grünen zu manchen Sozialdemokraten ist, zeigte sich am Donnerstagabend in der digitalen Verlängerung einer realen Kandidatenbefragung. Jan Stöß, zu Gast beim Tagesspiegel-Business-Club, zieht plötzlich über die Zustände in Kreuzberg her. Er selbst hatte hier Bürgermeister werden wollen, war aber 2011 den Grünen unterlegen. Jetzt spricht er von „geplanter Verwahrlosung“ am Görlitzer Park, den er einen „Schandfleck“ nennt, regt eine Verwaltungsreform an und spricht davon, dass die Bezirke „falsche Anreize“ hätten. Noch während er redet, twittert die Bürgermeisterin Monika Herrmann spöttisch: „Ach nee – was für eine Erkenntnis“, und: „Was für ,Anreize‘ ?“
Über Twitter, aber nicht nur dort, werden die drei Kandidaten ohnehin längst mit jener Häme und Gülle übergossen, die Wowereit ihnen erst für die Amtszeit vorhergesagt hatte. Besonders beliebt als Thema: Deutschkenntnisse und Sprachvermögen von Raed Saleh. Jedes „Isch“ taugt zum Witz, am Ende entsteht der Eindruck eines Mannes, der nicht nur sagt, dass er von der Straße kommt, sondern der noch immer so spricht, wie es Philipp Möller in seinem Buch „Isch geh Schulhof“ aufgezeichnet hat: „Hamoudi, was los?“ – „Sch’bin Solarion.“ – „Warum gehst du?“ – „Vallah, sch’seh aus wie Kartoffel“! Im medialen Zeugnis steht: Grammatik mangelhaft, kein Satz unfallfrei.
Ebenfalls am Donnerstag, der dritte Kandidat steht bereit, veröffentlicht Sebastian Heiser in der „taz“ die germanistische Untersuchung einer Fernsehdiskussion von Saleh mit dem TV-Berlin-Moderator Peter Brinkmann und dem taz-Redakteur Stefan Alberti. Das Ergebnis: Saleh spricht nahezu perfekt, alle 140 Wörter ein kleiner Fehler, das ist besser als fast alle anderen Menschen, die im Fernsehen frei sprechen. Zum Vergleich: Der Kollege von der „taz“ macht alle 34 Wörter einen Fehler. Heisers Schlussfolgerung: Nicht Saleh hat ein Sprachproblem, sondern seine Kritiker haben ein Hörproblem, einen „Grammatik-Tinnitus“, ausgelöst durch ein rassistisches Vorurteil.
Hat Saleh ein Rassismusproblem? Vielleicht auch in der SPD? Es ist Donnerstagmittag, die Nachricht mit Buschkowsky und Müller liegt noch nicht vor. Saleh zeigt auf seinen Schreibtisch am anderen Ende des Raumes. Er nimmt Daumen und Zeigefinger weit auseinander, um die Höhe des Stapels mit den Beleidigungen, Beschimpfungen, Drohungen zu beschreiben. Dann nimmt er beide Hände auseinander, dreißig, vierzig Zentimeter, und sagt: „Es gibt viel mehr Zustimmung und Ermutigung.“
Und die komme aus allen gesellschaftlichen Teilen und Schichten, auch ein Rabbi von der Jüdischen Gemeinde sei dabei. Saleh weiß, das Thema ist heikel, zeigen möchte er die Schmähbriefe nicht. Seine Partei, die SPD, habe damals mit der Kandidatur von Wowereit viel Mut gezeigt. Er erinnert daran, dass es nicht jeder so gut fand, dass ein Schwuler Regierender Bürgermeister wird. „Ich bin ein deutscher Sozialdemokrat“, sagt Saleh, „der zufällig einen Migrationshintergrund hat. Ich hoffe, dass wir wieder den Mut haben werden.“
Müller hat die Erfahrung hinter sich, Stöß die Parteifunktionäre. Saleh hat die Fraktion. Er weiß: Das wird nicht reichen. Er setzt deshalb auch auf die Straße, auf den Ort, von dem er kommt. Wo das Lebensgefühl, das Wowereit durch die Jahre getragen hat, das ihn zum Coverboy des „Time magazine“ gemacht hat, nicht mehr ist als eine Ahnung. „Lebensgefühl – das ist, auch zu wissen, wie es ist, auf der anderen Seite der Theke zu stehen“, sagt Saleh. Die meisten Menschen stehen auf der Seite der Theke, auf der gearbeitet wird.
Als der Moment vorbei ist, der noch einmal alles ändert in dieser verrückten Woche, steht Raed Saleh auf. Es wird schwer für ihn, schwerer als gedacht. Er weiß, sie werden ihn drängen, jetzt aufzugeben, weil er doch die geringsten Chancen hat, weil die Partei sonst an einem komplizierten Verfahren würgt, vielleicht auch erstickt. In der Stunde danach trifft er Dilek Kolat. Sie ist für Stöß.
Freitagmittag, halb zwölf. Michael Müller hat seine Kandidatur erklärt mit den Worten: „Jeder kämpft für sich.“ Jan Stöß twittert: „Das wird spannend.“ Raed Saleh gibt eine Erklärung heraus: „Ich freue mich auf einen fairen Wettstreit.“ Ein paar Stunden ist es noch hin, bis Klaus Wowereit dabei viel Vergnügen wünscht.