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Die Plätze in Berlins Kitas werden wegen des Bevölkerungswachstums immer knapper.
© Christian Charisius/dpa
Update Exklusiv

Berliner Vorzeigeprojekt: Explodierende Kosten bei Kitaplätzen

Wohlfahrtsverband warnt vor „massivem Mangel" bei den Betreuungsplätzen. Geld für freie Träger fehlt, gleichzeitig werden Senatskitas immer teurer.

Das landeseigene Programm für „Modulare Kitabauten für Berlin“ (Mokib) gerät zu einem Luxusvorhaben. Die Kosten pro Platz sind von ursprünglich angenommenen 35.000 Euro auf bis zu 60.500 Euro gestiegen. Das geht aus einer noch nicht veröffentlichten Antwort auf die Anfrage des CDU-Jugendpolitikers Roman Simon hervor, die dem Tagesspiegel vorliegt.

Allerdings ergibt sich die hohe Summe von bis zu 60.500 Euro erst beim Nachrechnen. Denn Bildungsstaatssekretärin Sigrid Klebba (SPD) antwortet auf Simons Frage nach den Kosten pro Platz, dass sich „aufgrund der vorgenannten Grundlagen und der durchgeführten europaweiten Ausschreibungsverfahren ein Platzpreis von ca. 50.700 Euro ergibt".

Auf den höheren Preis von maximal 60.457,50 Euro kommt man, wenn man Klebbas Angabe auf Simons Frage, wie viele Mittel „durch Mokib gebunden" seien, hinzunimmt. Die belaufen sich nämlich auf 74 Millionen. Wenn man diese Summe durch die Anzahl der 1224 tatsächlich erwarteten Plätze teilt, ergibt sich die viel höhere Platzkostensumme von 60.500 Euro. Wenn man hingegen die 50.700 Euro mit 1224 multipliziert, ergibt sich eine Summe von 62 Millionen Euro.

„Die Öffentlichkeit und die Abgeordneten selbst sollten sich darauf verlassen können, dass der Senat schriftliche Anfragen so beantwortet, dass man durch die Antworten nicht in die Irre geführt wird", kommentierte der Abgeordnete Simon Klebbas Angaben am Sonnabend.

Die Jugendverwaltung bestreitet, Ausgaben verschleiert zu haben

Die Sprecherin der Jugendverwaltung, Iris Brennberger, bestritt am Sonntag, dass Klebba die tatsächlichen Kosten durch ihre Antwort verschleiert habe: "Wir weisen den Vorwurf, dass etwas verschleiert wurde, zurück", betonte Brennberger. Man könne die Summe von 74 Millionen Euro nicht einfach durch 1224 Plätze teilen, da in der Gesamtsumme "Planungskosten für weitaus mehr Plätze enthalten sind".

Somit stellt sich die Frage, welche anderen "Plätze" von den Mokib-Planungskosten profitierten und ob dort tatsächlich die Differenz zwischen den 62 und den 74 Millionen Euro verortet werden kann. Das will Brennberger zu Wochenbeginn klären.

Die teuren Plätze verspäten sich um zwei bis drei Jahre

Hintergrund des ebenso komplizierten wie teuren Vorgangs ist, dass die Senatorinnen für Stadtentwicklung und Jugend, Karin Lompscher (Linke) und Sandra Scheeres (SPD) im Januar Anfang 2018 bis zu 3300 Kitaplätze bauen wollten. Als Reaktion auf den Kitaplatzmangel starteten sie einen Wettbewerb für Schnellbaukitas aus Holzmodulen, fanden dann aber keine Firmen, die die komplexen Bedingungen für die Bauten erfüllen wollten.

Daher wurden nur 1224 Plätze gebaut, die zudem nicht - wie ursprünglich geplant - im ersten Quartal 2019 fertig wurden, sondern erst 2021 und 2022 bezogen werden können.

Der Finanzsenator lobte das "schnelle und wirtschaftliche" Programm

Die übrigen rund 2000 Kitaplätze sollten ersatzweise von freien Träger gebaut werden, die wesentlich preiswerter bauen: Die freien Träger bekamen bisher rund 16.000 Euro pro Platz, neuerdings sind es 30.000 Euro Zuschuss. Dennoch twitterte die Senatsverwaltung für Finanzen noch im Mai 2020 ein Zitat von Senator Matthias Kollatz (SPD), wonach "die Investitionen in Holzmodulbauten zeigen, dass Berlin schnell & wirtschaftlich dem Bedarf für mehr Kitaplätze gerecht werden kann".

Der Tweet ist umso erstaunlicher, als da schon die neue Preisentwicklung absehbar gewesen sein muss, da die gesamten Entwicklungskosten für Mokib nicht mehr auf 3300 sondern auf nur 1224 Plätze umgelegt werden müssen. Somit brach die gesamte Kalkulation, die Senatsbaudirektorin Regina Lüscher dem Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses im Oktober 2018 vorgestellt hatte, in sich zusammen.

[Lüschers Bericht kann man hier als PDF-Datei herunterladen.]

Sinkende Versorgungsquote für Berliner Kinder

Der Mangel an Kitaplätzen schlägt sich inzwischen auch in einer sinkenden Versorgungsquote nieder. Darauf hat das Berliner Kitabündnis hingewiesen. Die Mitglieder sähen "mit Sorge", dass anteilig immer weniger der Drei- bis Sechsjährigen eine Kita besuchten: Der Statistik des Landesamtes Berlin-Brandenburg hat das Kitabündnis entnommen, die im Jahr 2015 noch 95,1 Prozent der Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren in einer Kita betreut wurden, jetzt aber nur noch 92,1 Prozent.

„Wir wissen, dass deutlich mehr Familien ihre Kinder in einer Kita gefördert sehen wollen. Ohne weiteren Ausbau ist das Finden eines Kita-Platzes unmöglich“, erläutert Corinna Balkow, die Vorsitzende des Landeselternausschuss (LEAK) Berlin und Mitglied im Berliner Kitabündnis. Es sei "fatal", dass Eltern auf der Suche nach einem Kita-Platz in Berlin "regelrecht aufgeben und Kinder nicht in der Kita ankommen".

[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Allen Kindern müsse ein Kita-Platz zur Verfügung stehen, unabhängig davon, ob Eltern diesen mit Nachdruck einfordern könnten. Frühkindliche Bildung sei eine wesentliche Voraussetzung für einen guten Übergang in die Schule, sagte die Kita-Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, Dorothee Thielen. Wolle das Land Berlin verhindern, dass Kinder von Bildung abgehängt werden, müssen jetzt mehr Kita-Plätze geschaffen werden“.

Die Betreuungsquote der Berliner Kinder sinkt neuerdings wieder.
Die Betreuungsquote der Berliner Kinder sinkt neuerdings wieder.
© Kitty Kleist-Heinrich

Es fehlen rund 3000 Kitaplätze

In Berlin fehlen aktuell rund 3000 Kitaplätze und nicht 8500, wie der Tagesspiegel ausgehend einer parlamentarischen Anfrage der FDP-Fraktion am Freitag vermeldet hatte: In der Antwort auf die Anfrage fehlten rund 5500 Plätze in der Tagesspflege, wie die Sprecherin der Jugendverwaltung, Iris Brennberger, inzwischen mitteilte. Begründet wird das damit, dass die FDP-Abgeordneten nur nach Kitaplätzen gefragt hatten.

Demnach gab es Ende Juli 2020 insgesamt 168.800 Plätze. Gebraucht würden aber gemäß der bisherigen Kitaplanung im Kitajahr 2020/21 rund 193.000 Plätze, wobei diese Zahl angesichts der neuen Bevölkerungsprognosen noch wachsen könnte.

Damit beträgt das Defizit – wenn man die Tagespflege berücksichtigt – rund 19.000 Plätze, von denen nur knapp 16.000 im Rahmen von Landes-, Bundes- und Schnellbauprogrammen entstehen. Auch dies geht aus der Antwort der zuständigen Staatssekretärin Sigrid Klebba (SPD) hervor.

[Die FDP-Anfrage kann man hier als PDF-Datei herunterladen, die CDU-Anfrage hier.]

Wohlfahrtsverband sieht „massives Kitaplatzproblem"

„Die vom Land Berlin vorgelegten Zahlen machen deutlich, dass wir in ein massives Kitaplatzproblem hineinsteuern“, sagte am Donnerstag Martin Hoyer, der stellvertretende Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dem Tagesspiegel. Der bisherige Kitaentwicklungsplan sei nicht umgesetzt worden, der „noch immer nicht vorliegende neue Plan“ werde noch höheren Bedarf ausweisen.

Hoyer erinnerte daran, dass etliche freie Träger und Elterninitiativen Tausende Kitaplätze bauen wollen, für die es aber keine Fördergelder mehr gebe. Hoyer appellierte daher an die Koalition, im Rahmen des Nachtragshaushalts zusätzliche Mittel bereitzustellen.

160 Klagen seit 2018 – die meisten in Friedrichshain-Kreuzberg

Die FDP-Abgeordneten Maren Jasper-Winter und Paul Fresdorf hatten auch nach der Zahl der Klagen auf einen Kitaplatz gefragt. Aus Klebbas Antwort geht hervor, dass es vor dem Verwaltungsgericht seit März 2018 knapp 160 Klagen auf die Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz gab. Für knapp 130 Kinder konnte ein Kitaplatz gefunden werden. In den übrigen Klageverfahren wurden die Klagen "von den Eltern zurückgezogen, vom Verwaltungsgericht zurückgewiesen oder sind noch anhängig", lautet die Auskunft der Staatssekretärin.

Die meisten Klagen gab es in Friedrichshain-Kreuzberg (38), gefolgt von Pankow (34), Treptow-Köpenick (22), Charlottenburg-Wilmersdorf und Neukölln (beide 19). In den anderen Bezirken gab es nur einzelne Klagen und zwar in Tempelhof-Schöneberg (8), Lichtenberg (6), Reinickendorf (5) Spandau (3), Steglitz-Zehlendorf und Mitte (je 2) sowie Marzahn-Hellersdorf (1).

Von Berlin 2750 Kitas sind zurzeit 16 komplett geschlossen.
Von Berlin 2750 Kitas sind zurzeit 16 komplett geschlossen.
© W. Grubitzsch / picture alliance / dpa

121.000 Euro für Verdienstausfall - ein Drittel davon in Pankow

Berlinweit wurden mindestens 121.000 Euro ausgegeben, um klagenden Eltern einen Verdienstausfall zu finanzieren. Allerdings ist diese Zahl ungenau, weil nicht aus allen Bezirken Daten vorliegen. Die höchsten Verdienstausfallzahlungen gab es demnach in Pankow mit 46.000 Euro, in Treptow-Köpenick mit 36.500 Euro, in Friedrichshain-Kreuzberg mit knapp 23.000 Euro sowie in Neukölln mit 6.000 und Lichtenberg mit 5.300 Euro.

„Die Antworten des Senats zeigen, dass Berlin dem steigenden Bedarf an Kitaplätzen nicht gerecht werden wird. Auch die Neubauinitiativen werden den Bedarf nicht decken. Hier bedarf es anderer Lösungen“, sagte der FDP-Jugendpolitiker Paul Fresdorf.

Die FDP will Personallücken durch kaufmännische Mitarbeiter füllen

Da manche Kitas mangels Personal ihre Kapazitäten nicht voll ausschöpfen können, plädiert die FDP dafür, kaufmännische Mitarbeiter in die Kitas zu holen: Wenn diese die freigestellten Leitungen entlasten würden, so die FDP, könnten diese wieder mit den Kindern arbeiten: „Dadurch würden wir mindestens 600 Vollzeitäquivalente freisetzen, die rund 5000 Kinder betreuen könnten. Ein weiterer Baustein, die Lücke zu schließen", empfiehlt die Fraktion.

Wie groß die Lücke zwischen Bedarf, Planungen und Geldmitteln ist, hatte der Paritätische Wohlfahrtsverband bereits im August deutlich gemacht, als es nicht um den aktuellen Bedarf, sondern um die Planungen bis 2025 ging. Dabei war deutlich geworden, dass bis dahin schätzungsweise 14.000 Plätze fehlen, weil die Kinderzahlen auch nach 2020 weiter steigen werden.

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