Senat nimmt keine Anträge mehr entgegen: Neue Kitabauten in Berlin liegen auf Eis
Freie Träger in Berlin können für 2020 und 2021 keine Bauprojekte mehr beantragen. 14.000 Plätze könnten künftig fehlen.
Freie Träger und Industrie- und Handelskammer (IHK) warnen vor einer drohenden "Versorgungslücke" bei Kitaplätzen. Anlass ist die überraschende Mitteilung der Senatsverwaltung für Jugend, für 2020 und 2021 keine neuen Anträge für Kitabauten entgegenzunehmen. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPW) in Berlin prognostizierte am Mittwoch 14.000 fehlende Plätze.
„Wenn die Planungen jetzt abreißen, wird es nicht mehr gelingen, den Ausbau so wie benötigt zu schaffen“, sagte der stellvertretende DPW-Geschäftsführer, Martin Hoyer, dem Tagesspiegel. Sein Verband fordert ein Landesprogramm im Umfang von 500 Millionen Euro, da in den kommenden vier Jahren bis zu 25.000 neue Kitaplätze benötigt würden. Dies besage die neue Bevölkerungsprognose. Die Jugendverwaltung wollte die Zahl nicht bestätigen, sondern verwies auf den Kitaentwicklungsplan, der noch in Arbeit sei.
In Berlin wird die Kitaversorgung zu 80 Prozent von den freien Trägern geleistet. Sie sind es auch, die die meisten neuen Plätze schaffen. Schon vor einigen Monaten waren sie alarmiert, weil bekannt wurde, dass das Kitaprogramm des Landes, „Auf die Kitas, fertig, los“, ausgeschöpft sei. Dennoch gab es Hoffnung, dass das Problem angesichts des wachsenden Platzbedarfs gelöst würde.
Umso überraschter waren die freien Träger, als sie auf der Seite der Jugendverwaltung Ende Juli plötzlich den Hinweis fanden, dass „in 2020 keine weiteren Anträge im Landesprogramm mehr angenommen werden können, da die Mittel für 2020 bereits ausgeschöpft sind“. Mehr noch: Für 2021 werde eine „Vornotierung von Projekten aus den vorliegenden Anträgen vorgenommen“. Mit anderen Worten: Angeschobene Projekte, für die sich die freien Träger oder Elterninitiativen zum Teil bereits hoch verschuldet haben, können noch nicht einmal mehr beantragt werden, sondern erst ab 2022 mit Mitteln rechnen.
"Das traf uns ohne Vorwarnung"
„Das traf uns ohne Vorwarnung“, berichtet der Geschäftsführer des großen Trägers Fröbel e.V., Stefan Spieker. Selbst für Projekte, die im Einvernehmen mit der Jugendverwaltung seit 2019 geplant worden seien, gebe es nun unter Umständen kein Geld mehr. Spieker verweist darauf, dass Anträge erst gestellt werden können, wenn der Träger in Vorleistung gegangen ist und Bauplanungen erstellt hat. Jedes Projekt koste eine "wahnsinnige Energie".
Träger müssten sich darauf verlassen können, dass das Geld für gut vorbereitete und abgestimmte Projekte auch fließe. Konkret betrifft das beispielsweise eine Fröbel-Kita, die ab September in der Simon-Bolivar-Straße in Alt-Hohenschönhausen öffnen sollte: Hier fehlen noch die Gelder für die Innenausstattung. Nun ist völlig unklar, wann es losgehen kann. Klar ist nur: „Ab September wird die Miete fällig“, berichtet Spieker.
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Die Sprecherin der Jugendverwaltung, Iris Brennberger, widersprach der Darstellung der freien Träger, dass die Antragsliste „überraschend“ geschlossen worden sei. Vielmehr sei bekannt gewesen, dass es bereits im Juni viel mehr Anträge als Mittel gegeben habe. Es sei „nicht sinnvoll“, dennoch immer weiter neue Anträge anzunehmen.
Verband prognostiziert Bedarf an 25.000 Plätzen
Wie sehr die Geldmittel, der Bedarf und die Planungen auseinanderklaffen, rechnete der Paritätische am Mittwoch vor. Demnach können mit den bisherigen Ausbauplanungen und Programmen nur rund 11.000 der dringend benötigten 25.000 Plätze geschaffen werden. Weitere 14.000 Plätze würden demnach bis 2025 fehlen. Dafür würden in den nächsten drei Jahren rund 360 Millionen Euro benötigt.
Weitere rund 150 Millionen Euro würden für Sanierungen und Modernisierungen benötigt, um vorhandene Plätze zu sichern. Somit brauche man die genannten 500 Millionen Euro. Zwar stelle der Bund aus seinem Konjunkturpaket dem Land Berlin 48,8 Millionen Euro zur Verfügung. Damit könne die Warteliste aber „nicht mal zur Hälfte abgearbeitet werden“. Die Gelder des Bundes werden für den Herbst erwartet, wobei die entsprechende Förderrichtlinie noch unbekannt ist.
Der Paritäter fasst die Fakten so zusammen:
- Zum Kita-Jahr 2020/21 fehlen rund 10.000 Plätze, um jedes Kind ab dem 1. Lebensjahr mit einem Kita-Platz versorgen zu können.
- Weitere rund 15.000 Plätze fehlen bis 2025. Dafür werden in den nächsten drei Jahren rund 360 Mio. Euro benötigt.
- Dem Land Berlin liegen 158 Anträge freier Kita-Träger mit einem Volumen von rund 170 Mio. Euro vor. Damit könnten rund 10.000 Plätze geschaffen werden.
- Davon sollen derzeit 59 Anträge mit einem Antragsvolumen von rund 52 Mio. Euro berücksichtigt werden. Für das Jahr 2020 sind lediglich 33 Mio. Euro vorgesehen.
- 99 Anträge mit einem Volumen von rund 117 Mio. Euro stehen auf der Warteliste der Senatsverwaltung für Jugend. Damit könnten rund 6.400 Plätze geschaffen werden.
Auch Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) äußerte sich am Mittwoch zur Kitaplanung: „Die neue Bevölkerungsprognose hat Veränderungen für die Kita-Planung zur Folge. Sie geht nicht mehr davon aus, dass die Kinderzahlen in den kommenden Jahren stagnieren, sondern davon, dass sie weiter steigen“, sagte Scheeres dem Tagesspiegel. Nun sei entscheidend, „dass wir bei der Kita-Planung entsprechend die Weichen stellen“. Scheeres erinnerte daran, dass in ihrer Amtszeit, also 2011, 45.000 Kita-Plätze mit öffentlichen Mitteln gefördert worden seien. Durch bereits laufende Maßnahmen entstünden derzeit rund 15.000 neue Plätze.“
Ein Brandbrief an Abgeordnete und Bürgermeister
Aufgrund der aktuell „massiv überzeichneten Kita-Investitionsprogramme“ sieht aber allein der Fröbel e.V. die Schaffung von über 1350 neuen Kitaplätzen „massiv gefährdet“. Fröbel habe sich deswegen mit einem Brandbrief an die Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhauses und die Bezirksbürgermeisterinnen und -bürgermeister gewandt, teilte Geschäftsführer Spieker mit: Die freien Träger hoffen jetzt auf den Nachtragshaushalt.
Einige Einrichtungen bei Fröbel könnten jetzt schon für das Kitajahr 2021/2022 keine neuen Kinder mehr aufnehmen, da alle freiwerdenden Plätze an Geschwisterkinder der bereits betreuten Kinder vergeben werden, schildert Spieker die Lage.
Auch Verdrängungseffekte seien spürbar: „Eltern, die im Zweifelsfall ihre Anwälte einen Brief an das Bezirksamt schreiben lassen, erhalten sofort einen Platz zugewiesen. Alle, die ihre Rechte nicht kennen oder nicht auf diese Weise wahrnehmen, fallen aus dem System", mahnte der Träger. Leidtragende seien neben den Eltern vor allem die Kinder, die von der Bildung und Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen besonders profitieren würden. Hier drohe eine „bildungspolitische Misere“.
Ohne Kitaplatz keine Sprachförderung
Auch die IHK reagierte alarmiert. Das Land Berlin habe „offensichtlich sein Rezept für den schnellen und an die Bevölkerungsprognose angepassten Kitaausbau noch nicht gefunden und hinkt den eigenen Ansprüchen sowie dem Bedarf seit Jahren deutlich hinterher“, hieß es in einer Mitteilung am Mittwoch.
Wie berichtet, war der Senat 2019 dabei gescheitert, selbst rasch eine große Menge Kitaplätze durch Modulbauten zu schaffen: Es fanden sich keine Bewerber, die die Landesbauten errichten wollten. Ein Teil der Gelder ging daher an die freien Träger, die zudem viel preiswerter bauen als das Land.
Informationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zum Kitausbau HIER zum Herunterladen