3000 Schulplätze für Berlin: Elternschaft begrüßt Angebot der freien Schulen
Eigentlich ist die Koalition gegen die Expansion der freien Schulen. Der Schulplatzmangel bringt diesen Vorsatz ins Wanken. Nun melden sich die Eltern zu Wort.
Die rot-rot-grüne Koalition steckt in der Klemme: Sie braucht dringend 9500 zusätzliche Schulplätze, will aber gleichzeitig eine Expansion der Privatschulen verhindern. Jüngstes Ergebnis dieses Dilemmas: Ein vierwöchiges rot-rotes Schweigen zu dem Angebot der freien Schulen, bis 2025 über 3000 neue Plätze zu schaffen.
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Am Donnerstag meldete sich aber der Landeselternausschuss (LEA) zu Wort: "Der LEA Berlin begrüßt die Initiative der AG Freie Schulen und sieht hierin eine wichtige Ergänzung zur Berliner Schulbauoffensive", hieß es in einer Mitteilung, die am späten Abend von Landeselternsprecher Norman Heise verschickt wurde.
Der LEA bezieht sich auf Artikel 94 des Berliner Schulgesetzes, wonach die freien Schulen "das Schulwesen des Landes Berlin durch besondere Inhalte und Formen der Erziehung und des Unterrichts bereichern" und die Zusammenarbeit zwischen freien und öffentlichen Schulen zu unterstützen sei.
Schon jetzt sei die Lage schwierig, mahnen die Eltern
In Zeiten der weiter ansteigenden Geburtenrate und von mindestens 9.500 fehlenden Schulplätzen dürfe keine Chance ungenutzt bleiben, "die ohnehin schwierige Lernumgebung vieler Berliner Schüler mit fortlaufend erhöhten Klassenstärken, ausgeprägtem Raum- und Lehrermangel in Zukunft noch weiter zu verschärfen", lautet der Appell des höchsten Elterngremiums.
Daher fordere der Landeselternausschuss die "politisch verantwortlichen Koalitionäre" auf, das Angebot der freien Schulen "im Sinne der Berliner Schülerschaft zu prüfen". Solidarität und Weltoffenheit dürften keine bloßen Schlagworte des Koalitionsvertrages bleiben, schließt der LEA sein Statement.
Freie Schulen wollen mehr bedürftige Schüler aufnehmen
Die Arbeitsgemeinschaft der Freien Schulen (AGFS) hatte ihrem Angebot am Dienstag das Motto der Koalitionsvereinbarung vorangestellt: „Berlin gemeinsam gestalten. Solidarisch. Nachhaltig. Weltoffen“ und gleichzeitig zugesagt, ein Fünftel der neuen Schulplätze einkommensschwachen Familien vorzubehalten. Damit will man dem Vorwurf der sozialen Entmischung begegnen.
In dem flankierenden Schreiben wird zudem ausgeführt, unter welchen Bedingungen die Ausweitung möglich wäre. Dazu gehört,
- dass es eine Investitionszulage von 15.000 Euro je Platz geben müsste – „ein Drittel dessen, was es bei öffentlichen Schulen kostet“, wie die AGFS am Mittwoch ergänzte
- Zudem fordert sie eine Ausgleichszahlung von monatlich 100 Euro, wenn Schüler aus bedürftigen Familien aufgenommen werden.
- Im Gegenzug könne deren Schulgeld auf 25 Euro reduziert werden
- Da die freien Schulen keine Lehrkräfte ausbilden dürfen, wollen sie zumindest den gleichberechtigten Zugang ihrer Quereinsteiger zu den öffentlichen Ausbildungsangeboten.
- Auch die Ausgrenzung der freien Träger bei Sonderprogrammen müsse ein Ende haben.
Jahrelang kein Cent - und auch keine rückwirkende Erstattung
Die Gründung neuer Freier Schulen war zuletzt zum Erliegen gekommen, weil sie drei bis fünf Jahre lang keinen Cent Zuschuss vom Land erhalten. Daher möchte die AGFS erreichen, dass die Schulkosten nach erfolgreicher Beendigung der Wartefrist zumindest teilweise rückwirkend erstattet werden. Andernfalls bleibt es dabei, dass sie auf ihren sechs- bis siebenstelligen Schulden sitzen bleiben und dadurch existenzgefährdet sind - wie zuletzt die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin: Sie gehört zu den Schulen, die bewusst auch um einkommensschwächere Familien werben.
Plötzlich wird Gesprächsbereitschaft signalisiert
Kaum war die AGFS – ob des rot-roten Schweigens – mit ihrem Angebot an die Öffentlichkeit getreten, kamen die Reaktionen: Bildungs-Staatssekretärin Beate Stoffers (SPD) lobte „die Bereitschaft, sich den Herausforderungen der wachsenden Stadt zu stellen,“ und lud zeitnah zum Gespräch. Und nach den Grünen, die sich längst bei der AGFS gemeldet hatten, äußerte auch die Linke „Gesprächsbereitschaft“: Sie sei für einen „proportionalen Aufwuchs“ der freien Schulen, teilte die bildungspolitische Sprecherin Regina Kittler auf Anfrage mit.
Die Koalitionsvereinbarung gibt einen engen Rahmen vor
Das sind neue Töne. Noch in der Koalitionsvereinbarung 2016 ging Rot-Rot-Grün davon aus, dass es keinen Aufwuchs geben würde. Der Finanzrahmen müsse "im Rahmen der bisher zur Verfügung stehenden Zuschüsse" bleiben, hatte man sich vorgenommen: Ganze sechs Zeilen waren Berlins weit über 100 freie Schulen den Koalitionären wert. Seither ringt die Koalition um die Frage, wie man den freien Schulen einerseits mehr Geld für die Aufnahme bedürftiger Kinder geben, ohne andererseits die Gesumme der Zuschüsse zu erhöhen: ein gordischer Knoten, der angesichts des 3000-Plätze-Angebots noch dicker wird.
Dabei wird die Koalition vor allem vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) in Berlin kritisch beäugt: "Die Schulplätze stehen vielen nicht offen, das ausgerechnet die Linke das unterstützt, ist erstaunlich", twitterte am Donnerstag aus dem WZB Michael Wrase, der seit Jahren die "soziale Segregation" anprangert.
Bald gibt es 6000 Erstklässler pro Jahr zusätzlich
Dass selbst die Linke sich einen "proportionalem Aufwuchs" bei den freien Schulen vorstellen kann, hängt mit dem Schulplatzmangel zusammen: Zurzeit gibt es 34.000 Erstklässler, bald werden es 40.000 sein. Die Unruhe angesichts solcher Zahlen ist groß, weil in einer Prognose der Bildungsverwaltung im August sogar von 25.000 zusätzlich benötigten Plätzen bis 2021/22 die Rede war. Zwar wurde diese Prognose wenig später auf besagte 9500 Plätze reduziert, aber der Glaube an die Zuverlässigkeit der Zahlen aus dem Haus der Bildungssenatorin ist seither erschüttert. Zu genau haben die Abgeordneten und die Öffentlichkeit noch den Mai 2019 in Erinnerung, als plötzlich in Treptow-Köpenick 100 Plätze für künftige Siebtklässler fehlten.
Schulplätze versus Ideologie?
Die Stimmung zwischen Senat und den betroffenen Bezirken war derart schlecht und die Aufregung der betroffenen Eltern derart groß, dass sich die Koalition gar nicht ausmalen möchte, was erst passiert, wenn 1000 Plätze oder mehr fehlen. Umso fataler wäre der Eindruck, der entstünde, wenn die Koalition das jetzige Angebot der freien Schulen ausschlagen würde. "Dann würde jeder sagen, dass die Koalition aus ideologischen Gründen lieber provisorische Schulplätze und große Klassen akzeptiert als die freien Schulen zu fördern", sagt ein besorgter Koalitionär.
Jetzt sind die Haushälter gefragt
Den Vorwurf der Privatschulfeindlichkeit will sich SPD-Fraktionschef Raed Saleh nicht gefallen lassen. Lieber weist er darauf hin, dass er es war, der dabei half, den freien Schulen den Zugang zum Bonusprogramm und zum kostenlosen Grundschüleressen ebnete. Er sei "permanent" mit den freien Schulen im Gespräch, betont Saleh.
Das 3000-Plätze-Angebot der AGFS blieb dennoch seitens der SPD-Fraktion erstmal unbeantwortet. Es heißt, dass erstmal die Haushaltsverhandlungen zu Ende geführt werden müssten. In ein paar Tagen wisse man mehr.
Klar ist schon jetzt, dass die Bildungsverwaltung Bedingungen stellen wird. Es sei "wichtig zu wissen, wo genau sich die neu zu schaffenden Plätze befinden sollen", betonte Stoffers am Mittwoch. Dazu lägen noch keine genauen Angaben vor. Für Grundschülerinnen und Grundschülern müsse das Prinzip ‚kurze Beine, kurze Wege‘ gelten".
Möglicherweise schwebt Stoffers der Konflikt um die geplante neue evangelische Grundschule in Zehlendorf vor, die auf Wunsch des Kirchenkreises gebaut werden soll, obwohl es in der direkten Umgebung bisher keinen Platzmangel gibt. Ob der Senat nur dort Investitionsmittel hingeben will, wo akute Not herrscht, gehört zu den Fragen, die zu klären sind.
Die Forderungen der Arbeitsgemeinschaft der Freien Schulen finden Sie HIER.
HIER erläutern die freien Schulen, wie die 3000 Schulplätze entstehen sollen.
Durch ein Gutachten ließen die freien Schulen klären, welche Ansprüche sie erheben können. HIER lässt sich das Papier herunterladen.
Susanne Vieth-Entus