10.316 Tage mit und ohne Berliner Mauer: Eine Radtour an der alten Grenze entlang
An der alten Grenze trifft man Leute, die ihre Zukunft anpacken, weil sie ihre Geschichte kennen. Und entdeckt Berlins vielfältige Gegenwart.
„Entenschnabel? Nie gehört.“ Jedenfalls nicht, als die Mauer stand – Bernd Roth, 61 Jahre alt, Bewohner des Entenschnabels seit den frühen Achtzigern, ist sich da sicher. War eben wohl doch nur, ihm als DDR-Bürger unbekannt, ein despektierlicher West-Berliner Schnack, Beispiel für den dortigen Galgenhumor, spöttelnde Antwort auf das trotz aller Gewöhnung nie ganz erloschene Gefühl des Eingemauertseins.
Obwohl, fühlten sich nicht auch Bernd Roth und die anderen Bewohner des Entenschnabels wie eingesperrt? Ein schmaler, nur etwa 500 Meter langer Streifen DDR, der zwischen Frohnau und Hermsdorf von Osten nach West-Berlin hereinragte, in dessen Form man mit etwas Fantasie einen Entenschnabel erkennen konnte. In der Mitte die Stichstraße Am Sandkrug, zu beiden Seiten bescheidene Häuschen im Schatten der Mauer, das war’s.
Eingemauert? Nein, so habe er sich nie gefühlt, versichert Roth. Eher fand er es spannend, so nah an West-Berlin zu wohnen, überlegte nur manchmal, was die drüben wohl über die doch etwas ärmlichen Häuser jenseits der Mauer denken mochten. Klar, Besuche, seien es Freunde oder Handwerker, gingen nur mit Anmeldung und Passierschein, waren aber nie ein Problem.
Und anfangs der Umzug in den Entenschnabel auch nicht, obwohl er nicht in der Partei war. Nur einmal, erzählt Roth, habe er zur Befragung nach Oranienburg fahren müssen, weil ein Mann auf der Westseite nach ihm gerufen hatte, da sei wohl sein Onkel gewesen. Und man habe wissen wollen, warum er sich mit seinen Nachbarn jenseits der Mauer immer aus der Ferne grüße. Schwierigkeiten habe es deswegen keine gegeben, nur sei danach alle vier Wochen ein Mann vorbeigekommen, habe nach West-Kontakten gefragt.
Den Häusern sieht man die DDR-Geschichte noch an
Heute ist der alten Grenzstreifen, der den Entenschnabel wie ein schmales langgezogenes U einschloss, längst zugewuchert oder bebaut, allenfalls ein paar verwitterte Zementpfosten an der B 96, die dort Oranienburger Chaussee heißt, zeugen noch von der Vergangenheit. Und am Silvesterweg, der von Süden her im Nichts endete, hat man nachträglich zwei von Kinderhand buntbemalte Mauersegmente wieder aufgestellt.
Noch immer aber sieht man vielen der Häuschen Am Sandkrug an, dass dies nicht West-Berlin war. Fassaden in grauverwittertem Rauhputz, rostige Zäune, wie aus Metallresten zusammengeschweißt, dazwischen aber hier und dort schmucke Neubauten, Einfamilienhäuser oder sogar Stadtvillen, allesamt von Leuten aus dem Westen, wie Bernd Roth weiß.
Probleme mit den Zuzüglern? Nein, das seien alles „vernünftige Leute“, zu denen man ein „wunderbares Verhältnis“ habe. Es sei ja hier nach der Wende niemand von Vorbesitzern aus seinem Haus vertrieben worden.
Die Normalität der Gemeinsamkeit ist eingezogen
Alles prima an der alten Grenze also? Auch Rudolf Fehr, fast 90, der im Hermsdorfer Silvesterweg direkt neben der ehemaligen Staatsgrenze der DDR wohnt, ist mit den Nachbarn im Osten zufrieden, glaubt sie nur weiterhin daran erkennen zu können, wie sie sich kleiden, was sie kaufen. Und allenfalls klagt er darüber, dass die Grundsteuer für ihn höher sei als die ein paar Meter weiter.
Hier ist also längst die Normalität der Gemeinsamkeit eingezogen in den Gebietsstreifen rund um West-Berlin, wo Ost und West, nur durch hohe Metallzäune und Betonwände getrennt, direkt aufeinanderstießen, antifaschistischer Schutzwall den einen, Schandmauer den anderen.
Eine Gegenwart, durch die das Vergangene, der Riss, der einst beide Seiten trennte, aber noch immer durchscheint – gerade in der Innenstadt vielfach sehr deutlich, in den Randzonen verwaschener, mitunter kaum zu erkennen.
So auch an der nördlichsten Stelle der ehemaligen innerstädtischen Grenze, einen knappen Kilometer nordöstlich von Lübars. Der Mauerweg um das alte West-Berlin, der meist gut ausgebaut zur Spurensuche einlädt, überquert hier nach wenigen Metern das Tegeler Fließ, einst eine Art Grenzfluss zwischen den Welten.
Eine idyllische, bei Joggern beliebte Strecke durch viel Grün, Wald, Hecken, Wiesen, Schilf, sogar ein kleiner See. Wenn man es nicht wüsste und nicht Schilder und Karten regelmäßig daran erinnerten, man käme nie auf den Gedanken, dass hier einmal die Mauer stand, an dieser Stelle noch in Form einer doppelten Matallzaunreihe.
Die Pfosten versanken hier im Morast
Selbst diese Leichtbauweise bereitete den DDR-Grenztruppen erhebliche Mühe. Wiederholt hätten sie versucht, die Pfosten schon knapp hinter dem Fließ aufzustellen, doch immer wieder seien diese im morastigen Grund versunken oder umgefallen, erinnert sich Christian Qualitz, Landwirt und Eigentümer eines Reiterhofs in Alt-Lübars, laut Kirchenbuch im Familienbesitz seit 340 Jahren.
Mit der alten Grenze ist er in besonderer Weise verbunden, was sich in dieser entlegenen Ecke der Stadt sogar im Sprachgebrauch niederschlug: Den Übergang von der Blankenfelder Chaussee in Lübars zur Bahnhofsstraße von Blankenfelde nennen Ansässige scherzhaft gerne Checkpoint Qualitz, in Erinnerung an den 16. Juni 1990, als endlich auch dort die Mauer fiel.
Das waren dicke, aufeinandergestapelte Betonblöcke, lediglich eine Tür für Fußgänger hatten die Grenzer bis dahin in den Zaun montiert. Dem Vater von Christian Qualitz dauerte das zu lange, und so bestieg er an besagtem Tag mit Sohn und Freund seinen Traktor, fuhr zur Grenze und schob die Betonblöcke kurzerhand in den dortigen Panzergraben, Sand drauf und fertig. Die Grenzer seien einfach zur Seite getreten, aber ein mulmiges Gefühl sei es schon gewesen, erinnert sich der Sohn.
Wurde in Lübars die falsche Straße geöffnet?
Heute liegen dort längs zur Fahrbahn wieder zwei Betonblöcke, zur Erinnerung an den historischen Tag, und auch der damals benutzte Traktor, ein MB-Trac, den Mercedes-Benz schon lange nicht mehr baut, tut auf Qualitz' Hof weiterhin seinen Dienst. Die Euphorie von damals ist allerdings passé, ja, Qualitz meint sogar, man habe die falsche Straße geöffnet.
Der Alte Bernauer Heerweg etwas südlich wäre besser gewesen, der Durchgangsverkehr verlagert worden, poltert nun aber lautstark übers grobe Pflaster von Alt-Lübars, „für die Anwohner eine Katastrophe“. Und noch aus anderem Grund, erzählt Qualitz, hätten sich die Lübarser Landwirte rasch als die „Verlierer der Wiedervereinigung“ gefühlt.
Die Reitkunden liefen ihnen weg, nutzten die neuen Hallen im Umland, während sie in Lübars – Denkmalschutz! – keine bauen durften. Erst Mitte der neunziger Jahre hatten Berlins Behörden ein Einsehen, und mittlerweile habe sich die Lage für die sechs Lübarser Reiterhöfe normalisiert. Viele der alten Kunden seien zurückgekehrt, berichtet Qualitz. Aus Ost-Berlin komme etwa ein Viertel, was auch daran liege, dass es eben nur den Bus aus Richtung Westen gebe.
Im Norden fehlt die Doppelreihe Pflastersteine
Einige Lücken aus der Vergangenheit sind dem über die Stadt geknüpften Verkehrsnetz offenbar geblieben, erinnern an die Jahrzehnte der Teilung, während die an den Mauerverlauf gemahnende Doppelreihe von Pflastersteinen, wie man sie auf den der Innenstadt näheren Straßen überall findet, hier im hohen Norden noch fehlt.
Auf sie stößt man erst auf der Quickborner Straße, die das Märkische Viertel, dieses die bescheidenen Häuschen jenseits des Mauerweges noch immer seltsam kontrastierende Wohngebirge, Richtung Wilhelmsruh durchstößt. Beim Wilhelmsruher Damm ist das doppelt gepflasterte Gedenken sogar durch ein originales Betonsegment und den „Berlin Bird“ des schottischen Künstlers George Wyllie ergänzt, eine erstmals 1988 aufgestellte Metallskulptur, damals misstrauisch beäugt von den DDR-Grenzern.
Bei anderen Überraschungen, auf die man entlang der alten Scheidelinie stößt, helfen nur Fragen an Ortskundige weiter, und mit etwas Glück ist der, den man beim zufälligen nebeneinander Herradeln anspricht, mit dem betreffenden Ort sogar eng verbunden.
Der riesenhafte backsteinerne Industriebau an der entlang des Nordgrabens führenden Heinz-Brandt-Straße? Der 76-jährige Horst Laue aus Wilhelmsruh hat hier, im ehemaligen VEB Bergmann-Borsig, bis in die siebziger Jahre gearbeitet, baute mit seinen Kollegen Generatoren und Turbinen, suchte sich erst etwas anderes, als der große Bruder in Moskau den Bau noch größerer Maschinen für sich beanspruchte.
Ein Holzkreuz erinnert an den Mauertoten
Das als spitzes Dreieck zwischen Nordgraben und S-Bahntrasse eingeklemmte Betriebsgelände habe unmittelbar an die Mauer gegrenzt, erzählt Laue. Die das Areal jetzt erschließende Straße entlang des alten Postenweges samt neuer S-Bahn-Brücke seien aber erst nach der Wende angelegt worden, als es auf dem 1998 fast geschlossenen, dann von der ABB AG erworbenen Industriestandort wieder zu brummen begann, immer mehr Firmen sich ansiedelten, doch auch immer mehr tonnenschwere Lastzüge durch die engen Wilhelmsruher Straßen donnerten, den Asphalt ruinierten und die Anwohner nervten.
Man kann sich das gut vorstellen, wenn man auf dem hier recht matschigen Mauerweg, immer die S-Bahn-Trasse entlang, an Riesenfenstern vorbeiradelt, hinter denen Schienenfahrzeuge der Stadler Pankow GmbH ihrer Fertigstellung entgegensehen. Zu Mauerzeiten angesichts der Bedürfnisse des Grenzregimes schon architektonisch eine Unding.
Dessen tödliche Folgen sind an der rüber nach Schönholz führenden Klemkestraße unterhalb der S-Bahn-Brücke zu sehen: ein schlichtes Holzkreuz, das an den am 29. April 1962 erschossenen Horst Frank erinnert. Das weißgetünchte Mauerwerk dahinter ist mit Graffiti bedeckt, Sprayer kennen keinen Respekt.
Auf solche und ähnliche Geschichten stößt man, der Stadtmitte sich nähernd, jetzt öfter. Etwa nahe dem S-Bahnhof Wollankstraße, zu Mauerzeiten ein für Ortsfremde gruseliges Kuriosum, da sie sich dort auf West-Territorium wähnten, während der Bahnhof doch schon, allerdings diesseits der Mauer, in Ost-Berlin lag, von dort freilich nicht erreichbar.
Dieter Grüber, der in der Schulzestraße in einer ehemaligen Schlosserei „Erlebnis(t)räume nach Maß“ wie Holzlandschaften, Kletterwelten, Baumhäuser und ähnlich schöne Dinge baut, kann da einiges erzählen. Und vor allem kennt er, seit Jahrzehnten gleich um die Ecke mit Blick auf die ehemaligen Grenze wohnend, noch deren genauen Verlauf.
Von anderen Anwohnern kann man das nicht immer sagen, erhält oft, stets unter dem Hinweis, dass man hier noch nicht so lange wohne, nur sehr ungefähre Auskünfte oder ein knappes „Weiß ich nicht“.
Er sah vom Fenster aus die Wachablösung
Nicht so der 65-jährige Grüber, der sich noch genau erinnert, wie er – es muss so um 1984 gewesen sein – mit zwei bewaffneten Grenzwächtern in den zur Mauer hin gelegenen Häusern der Schulzestraße die Dachfenster ausbruchssicher verschließen musste, nachdem von dort eine Flucht geglückt war.
Und er weiß auch noch, dass die nur per Passierschein zu betretende Straße in den sechziger und siebziger Jahren durch einen bewachten Zaun mit Türen zu den Häusern auf der dem Westen zugewandten Seite geteilt gewesen sei, „an kleinen Vertiefungen im Asphalt kann man das noch immer sehen“.
Später wurden die Grenzanlagen verstärkt, die Baulücken durch eine erste Mauer verschlossen, und hinter den Häusern staffelten sich der heute von Spaziergängern genutzte Postenweg, die Hinterland- und die Hauptmauer.
Früher blickte Grüber von seiner Wohnung in der Wilhelm-Kuhr-Straße auf mehrere Wachtürme, sah morgens unter sich die zur Wachablösung versammelten Grenzsoldaten frieren. Heute liegt vor ihm das neue Überlaufbecken der nahen Panke, ein kleines Naturidyll, in dem sich sogar Eisvögel ihr Frühstück holen.
Auch die Schulzestraße selbst ist kaum wiederzuerkennen. Die im Bombenkrieg gerissenen Lücken sind fast ausnahmslos geschlossen. Der alte Kohlenhof ist einer Seniorenresidenz gewichen, das Außenlager des Impfstoffinstituts Dessau einem Rewe-Markt.
Alles eine Spätfolge des 9. November 1989, der eher versehentlichen Öffnung der Mauer, die auf der Bösebrücke, am Übergang Bornholmer Straße, begann. Dort erinnert heute eine kleine Gedenkstätte an den Tag, mit Wänden voller Bilder, Karten und Texten, dazu einer Reihe von Stahlbändern, auf denen die Stationen des historischen Abends nachzulesen sind, Günter Schabowskis „sofort, unverzüglich“, die „Tagesschau“-Schlagzeile „DDR öffnet Grenze“, die resignierte Anweisung Harald Jägers, des Kommandanten an der Bornholmer Straße, „Wir fluten jetzt.“
Die Jahrzehnte der „Grenzverletzer“ und Mauertoten, der geglückten und gescheiterten Fluchten waren damit endgültig vorbei, auch die Zeit der Fluchttunnel wie dem von 1963, der unlängst am südlichen Ende des Mauerparks bei Erdarbeiten der Wasserbetriebe aufgetaucht war und ähnliches Aufsehen erregte wie das vermeintliche Stück Ur-Mauer nahe dem S-Bahnhof Schönholz, das gerade erst der Öffentlichkeit bekannt wurde.
„Man kam sich da vor wie im Zoo"
Der Mauerpark – besonders jetzt im Winter ein Euphemismus –, der auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Kopenhagener und Bernauer Straße entstanden ist, hat sich über die Jahre zu einem der beliebtesten Tummelplätze der amüsierlustigen Jugend der Welt, aber nicht nur ihr gemausert.
Marlies Schröder, die damals ganz in der Nähe, im Ostteil der Wolliner Straße wohnte, hat den Wandel der Gegend miterlebt und erinnert sich noch gut an die vielgenutzte Aussichtsplattform auf der Westseite. „Man kam sich da vor wie im Zoo, das war nicht schön“, erzählt sie. Immerhin sei ihr Gemüsehändler wegen der ständigen West-Beobachtung immer gut mit Ware versorgt worden, habe so stets eine volle Auslage gehabt.
Eine interessante Zeit sei das schon gewesen, versichert die 68-Jährige, die noch immer in der Gegend, nun auf der ehemaligen Westseite wohnt und wohl nie auf die Idee käme wegzuziehen, so wie sie von ihrem Viertel und vor allem vom Mauerpark und dem nahen Trödelmarkt schwärmt, den Scharen junger Leute, die im Sommer dorthin kämen – was sei dagegen schon das Brandenburger Tor mit den zahllosen Touristen?
Da dürfte sie sich auch an der offiziellen Gedenkstätte Berliner Mauer, die Bernauer Straße ein Stückchen runter, nicht recht wohlfühlen, wo sich die Reisegruppen unterschiedlichsten Zungenschlags ein Bild von der jüngeren Berliner Geschichte zu machen versuchen. Hier Spanisch, dort Japanisch, dazwischen deutsche Jugendliche auf der Suche nach der nächstbesten Selfie-Gelegenheit.
Einer der ehemals düstersten Orte der Teilung, der hier mit stilisierten und originalen Mauerabschnitten gedacht wird, mit echtem Wachturm, Panzersperrenresten, Riesenfotos an den Fassaden, Dokumentationszentrum – durchaus gelungene, notgedrungen etwas museale Vergangenheitsbewältigung, wovon einige Cafés auf der gegenüberliegenden Straßenseite mittels realsozialistischer Dekoration zu profitieren versuchen.
An der Liesenstraße steht noch ein Mauerstummel
Das westliche Ende der Bernauer Straße, dort wo sie am Besucherzentrum der Gedenkstätte auf die Gartenstraße stößt, hatte bei West-Berlinern zuletzt einen makabren Ruf. Immer mal wieder war es vorgekommen, dass sich Menschen dort das Leben nahmen, indem sie mit ihrem Auto oder Motorrad gegen die Mauer rasten.
Erst nach Verhandlungen mit den DDR-Grenztruppen durfte das Wrack dann zurückgezogen werden. 1987 hatte es fünf solcher tragischen Vorfälle gegeben. Nur wenige dürften sich heute daran noch erinnern, man mag es angesichts des veränderten Stadtbildes auch kaum mehr glauben.
Mitunter aber findet man überdeutliche Spuren der Vergangenheit, auf dem Mauerweg nur weiter Richtung Süden, sogar auf der grünen Wiese. An der Liesenstraße, im Schatten der verrosteten Liesebrücken, steht noch immer ein Mauerstummel, der den West-Berlinern, wenn sie mit der S-Bahn aus Frohnau kamen, den Beginn von Ost-Berlin signalisierte.
Im weiteren Verlauf der Liesenstraße stößt man auf drei Friedhöfe, darunter den der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin, denen eine Merkwürdigkeit gemeinsam ist: Direkt an der Straße, auf einem vielleicht 50 Meter breiten Streifen, findet sich kein einziges Grab.
Eine Spätfolge des Grenzregimes, wie in der Friedhofsverwaltung der Domgemeinde bestätigt wird. Etwa dort, wo das alte, 2008 ersetzte Kuppelkreuz des Berliner Doms aufgestellt wurde, habe sich die Hinterlandmauer befunden und direkt an der Straße die Hauptmauer, dort wo jetzt die rekonstruierte Friedhofsmauer steht. Dazwischen lag der sandige, von Gräbern leergeräumte Todesstreifen, heute eben Wiese, Paradies für Schmetterlinge und anderes Getier.
Ebenso sind die Grenztruppen mit dem Invalidenfriedhof verfahren. Der Weg dorthin führt an sehr neuen Wohnblöcken vorbei, eingekeilt dazwischen, in der Kieler Straße und kurz vor dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, ein ergrauter Wachturm, die ehemalige Führungsstelle Kieler Eck, Gedenkstätte für den Mauertoten Günter Litfin.
Er war am 24. August 1961 ganz in der Nähe ums Leben gekommen, beim Versuch, den Kanals zu durchschwimmen – der erste Flüchtling, der an der Mauer erschossen wurde. Auch auf dem Invalidenfriedhof wird seiner durch eine Infotafel gedacht, wo es, außer der kargen Leere des freigeräumten Todesstreifens, als weitere, sehr konkrete Erinnerung 150 Meter originale Hinterlandmauer gibt.
Mahnende Kunst im Schatten der Mauer
Südlich des Humboldthafens folgte die Grenze für einen knappen Kilometer dem Verlauf der Spree, was sich Ortsfremde wie Neu-Berliner beim Blick auf das Neubaulabyrinth am Ostufer und das den Fluss überspannende Band des Bundes kaum mehr vorstellen können. Aber nicht die ganze ehemalige Todeszone ist davon besetzt.
Ein seltsamer, an ein kleines gallisches Dorf erinnernder Mauerstreifen, knapp 100 Meter entlang des Schiffbauerdamms, hat sich trotz der anbrandenden Moderne erhalten, steht seit kurzem sogar unter Denkmalschutz: das „Parlament der Bäume“ des Berliner Aktionskünstlers und Baumpaten Ben Wagin. Es ist ein originales Teilstück der Hinterlandmauer, dahinter ein zweites, das sich ursprünglich nach Süden anschloss und beim Bau des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses umgesetzt werden musste.
Den schmalen Raum zwischen den beiden Betonwänden hat der heute 87-jährige Wagin durch Eisentore verschlossen, hinter denen die Grenzsoldaten einst ihre Wachhunde weggesperrt hatten. Weitere Mauerteile, von ihm als Jahreskalender des Todes mit der jeweiligen Zahl der Maueropfer gestaltet, wurden in den 2003 eröffneten Bundestagsbau integriert.
Damals gab es das Parlament der Bäume schon 14 Jahre, angeregt durch Willy Brandt, ohne dass der davon etwas ahnte. In seiner Rede vom 10. November 1989 hatte er angeregt, „ein Stück von jenem scheußlichen Bauwerk“ könne man „als ein geschichtliches Monstrum stehen lassen“. Ben Wagin fühlte sich persönlich angesprochen, wie er Besuchern gern erzählt:„Der meint mich.“
Gegen Krieg und Gewalt mahnen, das war seit jeher sein Thema, und so rief er gleich „den Dieter“ an, Generalmajor Teichmann, den letzten Kommandeur der Grenztruppen, nun mit dem Abbau der Mauer beauftragt. Den kannte er von einer Baumpflanzaktion an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, fand ein offenes Ohr und bekam seinen Mauerstreifen.
Johannes Rau pflanzte Maulbeerbäume
Unterstützt von anderen Künstlern, schuf er ihn zum mahnenden Gesamtkunstwerk um, bemalte und beschrieb die Betonwände, pflanzte Bäume oder ließ pflanzen, schuf auch die stählerne Doppelskulptur „Todes Mauer Bruch“, eine Version für sein Parlament der Bäume, das Gegenstück jenseits der Spree im Tiergarten, bei den Steinskulpturen des „Mauersymposions“ internationaler Bildhauer, das dort 1961 bis 1963 stattgefunden hatte.
Die Namen der Unterstützer, die Wagin beim Gang durch den bizarren Mauergarten in seine Erläuterungen einstreut, gleichen einem „Who is who?“ der jüngeren deutschen Politik. Diese beiden Maulbeerbäume da habe „der Johannes“ gepflanzt, also der Rau, bei jenen Findlingen ihm „der Klaus“, der frühere Bundesbauminister Töpfer, geholfen, Richard von Weizsäcker habe eine Ladung Obstbäume geschickt, und den Gorbi habe er im Adlon getroffen. Die Kunst, andere für sich und seine Arbeit einzunehmen, beherrscht Wagin besonders gut.
Auch die Entführung der nahen Gedenkkreuze am westlichen Spreeufers vor vier Jahren, zum 25. Mauerfalljubiläum, war von den Aktivisten des „Zentrums für politische Schönheit“ zur Kunst erklärt worden, was damals nicht jedem einleuchtete. Die Kreuze sind wieder da, eine der ausgesparten Silhouetten am Geländer aber ist frei geblieben.
Ein romantisches Pärchen hat sich genau diese Stelle für sein Vorhängeschloss, Symbol unverbrüchlicher Treue, ausgesucht. Liebe kennt eben keine Grenzen – anders als die Sicherheitsbeauftragten des Bundestages: Vor 1989 konnte man ungehindert hinter dem Reichstag die Mauer entlang spazieren, heute ist dieser Abschnitt des alten Grenzverlaufs fürs gemeine Volk gesperrt.
Aber die meisten Besucher nähern sich dem Brandenburger Tor, diesem Symbol der deutschen Teilung wie der Einheit, ohnehin auf anderen Wegen. Hier am Pariser Platz, vor dem Mauerfall ein Ort von trostloser Leere, beginnt die unter Touristen populärste, sich über den Potsdamer Platz bis zum Checkpoint Charlie hinziehende Geschichtsmeile Berlins, auch wenn von der Mauer, auf Fahrbahn und Trottoir durch eine doppelt gepflasterte, an der Ebert- und der Stresemannstraße durch Neubauten immer wieder unterbrochene Linie nachgezeichnet, kaum noch etwas zu sehen ist.
Zumindest stehen am Potsdamer Platz einige Mauersegmente, angesichts der zahllosen daran entsorgten Kaugummireste ein recht ekliger Anblick. Wer sehen will, wie es wirklich war, steigt lieber hinab zur S-Bahn-Station, wo große Fotos vom Maueralltag erzählen. Er versteht dann vielleicht auch, warum sich über den Leipziger Platz eine zweite Pflastermarkierung zieht: Dort stand die Hinterlandmauer.
In der Erna-Berger-Straße, einer Sackgasse südlich des Leipziger Platzes, ist tatsächlich noch ein originaler Wachturm der Grenztruppen zu besichtigen, sogar intakt, anders als der von Mauerspechten zernagte Rest des antifaschistischen Schutzwalls entlang der „Topographie des Terrors“ in der Niederkirchnerstraße.
Gegenüber am massiven Zaun des Finanzministeriums schildern im Comicstil gehaltene Informationstafeln die Flucht einer Familie am 28. Juli 1965 vom Dach des damaligen Hauses der Ministerien.
Blumen an der Stele für Peter Fechter
Der alten Zeiten wird im weiteren Verlauf des Mauerstreifens überwiegend in sehr kommerzieller Form gedacht, mit dem Checkpoint Charlie als Höhepunkt, dieser Disney-Version der Erinnerung. Der Nachbau eines alliierten Wachhäuschens mit falschen Soldaten, Trabi-Safari, Trabi-Shop, Trabi-Museum – Peter Unsicker, seit 1986 Betreiber der Wall Street Gallery in der Zimmerstraße, dürfte sich mittlerweile selbst ein wenig fühlen wie die Bewohner des erwähnten gallischen Dorfes.
Früher blickte er direkt auf Beton, patrouillierten abwechselnd DDR-Grenzer und alliierte Soldaten in Kampfausrüstung am Schaufenster seiner eher nicht aufs breite Publikum zielenden Bildhauer-Galerie vorbei.
Jetzt sind es die in Kompaniestärke vorbeitrottenden Touristen aus aller Welt, die dem früheren alliierten Grenzübergang, dem Mauerpanorama des Künstlers Ydegar Asisi, der „BlackBox Kalter Krieg“ oder dem Museum „Haus am Checkpoint Charlie“ zustreben – und schon weniger, aber immer noch recht viele auch dem nahen Mahnmal für den am 17. August 1962 beim Fluchtversuch erschossenen Peter Fechter.
Die Wagen der Trabi-Safari fahren hier langsamer, Schulklassen und Reisegruppen kommen vorbei, und im Sommer liegen oft Blumen an der eisernen Stele, erzählt eine junge Angestellte im nahen Friseurgeschäft.
Die Skulptur „Balanceakt“ von Stephan Balkenhol, umgeworfene Mauersegmente und eine bemalte Bronzefigur, ist am Mauerweg vorerst das letzte in Beton geformte Stück Erinnerung. Auf Anregung der „Bild“-Zeitung war sie 2009 auf dem Grundstück des Springer-Hochhauses entstanden, 50 Jahre nach der Grundsteinlegung dieses – so der erläuternde Text –„Leuchtturms des freien Westens“ direkt an der Sektorengrenze.
Die Architektur erzählt ihre eigene Geschichte
Die den Mauerverlauf andeutende Pflasterlinie schlängelt sich nun mitten auf den Straßen zwischen Kreuzberg und Mitte, später Neukölln und Treptow hindurch. Oft sind die beiden Stadthälften durch Neubauten rechts und links nicht mehr voreinander zu unterscheiden – meist aber, wie in der Sebastianstraße, durch deutliche Alters- und Qualitätsunterschiede der Bebauung: auf Kreuzberger Seite die ergrauten Wohnsilos der Kahlschlagsanierung, in Mitte hochpreisige Neubauten kurz vor der Vollendung.
Dort noch bezahlbare Atelierräume finden? Unmöglich, auf der Westseite dagegen schon. Manfred Moorkamp ist erst vor wenigen Monaten mit einem Kollegen fündig geworden, nutzt jetzt Räume im Erdgeschoss für seine Kunst, er selbst mit West-Biografie, während das Material, aus dem der 60-Jährige kunstvolle Lampenschirme entwirft, Lochbänder und dicke Stromleitungen aus Aluminium, von den nach der Wende gut gefüllten Schrottplätzen des Ostens stammt.
Eine Vermischung der lange strikt getrennten Stadthälften, auf die man, in dieser oder jener Form, entlang des alten Mauerstreifens häufig trifft, während die so unterschiedliche Architektur hüben wie drüben eine ganz andere Geschichte erzählt.
Ein Experte für die Schrecken des Mauerregimes
Zum Beispiel am Engelbecken und dem nördlichen Teilstück des Luisenstädtischen Kanals: Einst Todeszone, heute grüne Oase in der Steinwüste aus schicken neuen Blocks voller Eigentumswohnungen im Osten und dem traditionellen Kreuzberger Altbauambiente mit festverwurzelter Einwohnerschaft im Westen. Leuten wie dem im Jahr nach dem Mauerbau geborenen, aus Jena stammenden Henry Leuschner, der doch tatsächlich – es gibt solche Zufälle – am Leuschnerdamm wohnt.
Ein Experte für die Schrecken des DDR-Mauerregimes, wie er sich selbst gleich vorstellt, er muss zum Beweis nur ein Hosenbein hochkrempeln: Großflächige Narben erinnern an jene Nacht Ende März 1981, als der junge freiheitsdurstige Mann mit einem Kumpel die Flucht über die innerdeutsche Grenze versuchte und beide in den Splitterregen einer detonierenden Selbstschussanlage gerieten.
21 Monate im Haftkrankenhaus Hohenschönhausen und weiteren Haftanstalten folgten, dann kam er frei, wurde 1983 in den Westen abgeschoben und ist heute als Zeitzeuge Besucherreferent in der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen. Und nebenbei, trotz gelegentlicher Unsicherheiten bezüglich des früheren Grenzverlaufs („War das noch Westen?“), ein Sachkundiger für die Veränderungen im Kiez, obwohl er lieber von der Kontinuität auf der Kreuzberger Seite erzählt, dem 1981 gegründeten, von einem Verein getragenen „Kinderbauernhof am Mauerplatz“ vor allem, der an der Ecke Bethaniendamm/Adalbertstraße mit seinen alten Bauwagen, Schuppen und Tiergehegen wie aus der Zeit gefallen wirkt – jedenfalls der Zeit, die auf der anderen Seite des alten Kanalbetts sich ausgebreitet hat.
Das "Baumhaus an der Mauer" steht noch
Dort strahlt selbst das altehrwürdige Backsteingebäude am Engeldamm 62-64, um 1900 das erste Gewerkschaftshaus Deutschlands, wie ein frischpoliertes Schmuckstück. Zu DDR-Zeiten ein etwas heruntergekommenes Krankenhaus, birgt es heute hochpreisige Eigentumswohnungen und im Erdgeschoss zwei Ladengeschäfte für edles Maßschuhwerk („Schuhe und Einlagen aus Leidenschaft“) und individuelle Tische („Holz in Höchstform“).
Ein größerer Gegensatz wie der zwischen dieser Nobeladresse und dem „Baumhaus an der Mauer“, nördlich des Mariannenplatzes, ist kaum denkbar: Eine von dem türkischstämmigen Kreuzberger Osman Kalin aus Sperrmüll um einen Baum herumgebaute Hütte, entstanden auf vermülltem Brachgelände, das außerhalb der Mauer lag, aber noch zu Ost-Berlin gehörte, Unterbaugebiet also, wie es damals hieß.
Die Grenzer guckten erst misstrauisch, als Kalin einen Gemüsegarten anlegte, akzeptierten diesen dann jedoch und sogar eine erste kleine Hütte. Die DDR ist untergegangen, auch Osman Kalin lebt nicht mehr, aber das Baumhaus an der Mauer, nun sogar zweistöckig, gibt es noch immer.
An der jahrzehntelang geschlossenen, erst 1990 wieder geöffneten Schillingbrücke wechselten die Grenzanlagen die Flussseite, folgten der Spree bis kurz hinter der Oberbaumbrücke. Als East Side Gallery zieht dort das längste noch erhaltene Mauerstück mit seiner Bilderwelt nach wie vor Touristen magisch an – und auch schon mal Prominente wie Roger Waters und David Hasselhoff, zwecks Verteidigung gegen Luxusprojekte wie das dann doch gebaute „Living Levels“.
Auch in der Spree selbst, nahe der Einmündung des Landwehrkanals, findet sich noch ein Andenken an die DDR: eine knapp 500 Meter lange Steganlage für die Grenz- und Zollkontrolle, um Fluchten übers Wasser wie die mit dem Ausflugsschiff „Friedrich Wolf“ am 6. Juni 1962 zu verhindern.
Mehr noch vertraute man aber auf Wachtürme wie am Schlesischen Busch, heute vom Verein Flutgraben für Ausstellungen genutzt. Die Mauer verlief hier auf eine kurze Strecke im Grünen, entlang des Kanals, tauchte erst an der Harzer Straße wieder ins Häusermeer ein, diesmal zwischen Neukölln und Treptow, zerlegte Wohnstraßen in eine West- und eine Ostseite, heute auch hier markiert durch die doppelte Pflasterreihe.
Die erste Mauer habe direkt vor seiner Haustür, die zweite kurz vor dem West-Bürgersteig gestanden, erzählt ein älterer Mann, der seit 1987 in der Bouchestraße wohnt. Ob die Teilung noch spürbar sei? Kopfschütteln, nein, für ihn kein Problem. Man begegne sich ja täglich im nahen Edeka-Supermarkt, sagt er noch, bevor er in der Haustür verschwindet.
Das Gemeinschaftsgefühl der Kleingärtner ist geblieben
Es wird von hier an wieder schwieriger, sich die einst geteilte Stadtlandschaft noch vorzustellen, trotz aller Mauerweg-Markierungen. Erst zerpflügt die Baustelle der A 100 das alte Grenzterrain, dann verläuft der Mauerstreifen, zunächst entlang der Kiefholzstraße und dann nach Südwesten abknickend, durch Kleingärten, die sich auf beiden Seiten nun wirklich nicht unterscheiden.
In der Erinnerung der älteren Nutzer aber schon. Wahrscheinlich waren die Grenzsoldaten, die auf dem schmalen Streifen zwischen der Mauer und dem Zaun der Kolonie Neuköllnische Wiesen patrouillierten, sogar dieselben, die am grünen Idyll auf der Treptower Seite, im Schatten des Dammweges, entlangstiefelten, nach Dienstschluss schon mal bei den dort feiernden Laubenpiepern vorbeischauten, sich zu einer Bratwurst einladen ließen oder auch zur Polonaise, während an ihren Hüften noch die Funkgeräte baumelten, wie ein älteres Ehepaar erzählt. Diebstähle, Einbrüche? Die habe es, anders als jetzt, nicht gegeben.
Selbstverständlich habe man einen Passierschein benötigt, um aufs Gelände zu gelangen, und eine Leiter ungesichert herumliegen lassen, das habe erheblichen Ärger gegeben. Viel sei damals bei den Gartenhäuschen improvisiert, durch Nachbarschaftshilfe organisiert worden. Zurückgeblieben sei aus der Zeit des Mangels noch die Gewohnheit, jedes Brett aufzuheben.
Doch auch das Gemeinschaftsgefühl habe sich von damals her erhalten, obwohl nur noch etwa ein Drittel der alten Pächter zur Kolonie gehöre, viele aus dem Westen dazu gekommen seien, auch Ausländer, Türken vor allem, die meist mehr am Grillen als am Pflanzen interessiert seien. Aber egal, alle hätten sich gut integriert, vielleicht liege das an der verbindenden Mentalität der Kleingärtner.
Die Erinnerung franst aus
Der Übergang Sonnenallee hat durch Leander Haußmanns Film von 1999 nachträglich eine Aufmerksamkeit erhalten, die ihm zu Mauerzeiten nie zuteil wurde, wie auch auf dem erläuternden Schild am Wegesrand klargestellt wird. Schon angesichts des unentwegt hin und her rauschenden Verkehrs ist das kein Ort für ostalgische oder sonstwie rückwärts gerichtete Gefühle.
Und ohnehin beginnt hier bald der langweiligste Abschnitt des ehemaligen innerstädtischen Grenzstreifens. Noch nicht am Britzer Zweigkanal, an dem eine schlichte Stele, davor niedergelegt ein kleines Erinnerungsherz samt Blumenstrauß, an Chris Gueffroy erinnert, den letzten Mauertoten, hier erschossen in der Nacht auf den 6. Februar 1989.
Aber kurz danach, an der Einmündung in den Teltowkanal, schwenkt die BAB 113 in den Verlauf des alten Todesstreifens ein, und es geht für Kilometer geradeaus, immer an der Wand entlang, links das durch Mauerwerk und Holzwände nur unzureichend gedämpfte Brausen des Verkehrs, rechts der Kanal, dahinter abwechselnd Kleingärten, Wohnsiedlungen, Gewerbe.
Wie einst der Grenzstreifen wechselt die Autobahn nördlich der Rudower Straße die Kanalseite, als eingezäunte Erinnerung an die Vergangenheit teilt dort in spitzem Winkel ein langes Stück Hinterlandmauer noch immer Rudow von Altglienicke, auch wenn eine alteingesessene Spaziergängerin versichert, dies sei die Hauptmauer gewesen. Nun ja, nach über 28 Jahren franst die Erinnerung aus.
Zwischen grünen Wiesen
Nahe der Rudower Höhe – die Autobahn ist kurz im Tunnel verschwunden – hat man die beiden Ortsteile durch einen Landschaftspark zu verknüpfen versucht. Noch vor dem Mauerbau war das ein Hot Spot des Kalten Krieges. Amerikaner und Briten hatte sich 1955 unter der Sektorengrenze zur Schönefelder Chaussee durchgebuddelt, um dort sowjetische Fernmeldeleitungen anzuzapfen.
Durch den britischen Doppelagenten George Blake wusste Moskau von Anfang an Bescheid, musste die West-Spione aber gewähren lassen, um seinen Maulwurf nicht zu gefährden. Erst nach elf Monaten, bei einer günstigen Gelegenheit, wurde der Spionagetunnel, an den eine Informationstafel erinnert, „zufällig“ entdeckt. Das Propagandagewitter war gewaltig.
Kurz danach endet die alte Scheidelinie zwischen Ost- und West-Berlin im Süden ähnlich, wie sie begonnen hatte. Zwar in Sichtnähe von Besiedlung, Einfamilienhäuschen hüben, Plattenbauten drüben, doch dazwischen, wie hoch im Norden, viel Grün, Wiesen vor allem, Sträucher, Gebüsch, mit Tümpeln zu beiden Seiten des Weges, in denen sich, wie Informationstafeln verkünden, im Sommer wiederkäuende Paarhufer wohlfühlen. Wie hatte doch der Genosse Honecker in einer voreiligen Prophezeiung gemeint? „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“ An Wasserbüffel hatte er nicht gedacht.