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Im Parlament der Bäume. Der 90-jährige Künstler und Umweltaktivist Ben Wagin an dem von ihm geschaffenen Gedenkort.
© Doris Spiekermann-Klaas

Gemeinsame Sache in Berlin-Mitte 2017: Aktivist pflanzte Bäume am ehemaligen Todesstreifen

Der Umweltaktivist und Künstler Ben Wagin hat nach dem Mauerfall das Parlament der Bäume im Todesstreifen gepflanzt – heute ist es bedroht.

Nahe dem Schiffbauerdamm, direkt hinter dem lang gestreckten Elisabeth-Lüders-Haus, in dem die Ausschüsse des Bundestages tagen, liegt ein ganz besonderer Garten und ein ungewöhnliches Denkmal. Wo heute Kastanien stehen, verlief bis 1989 die deutsch-deutsche Grenze, wurden Menschen an der Mauer erschossen. Heute steht hier das „Parlament der Bäume“: 58 authentische Mauerteile und Steinplatten mit eingravierten Namen, Gedichten und Zitaten erinnern an die Mauertoten.

Vor dem Eingangstor steht Ben Wagin, Künstler, Umweltaktivist, Baumpate und Erschaffer dieses Ortes. In Berlin ist der Künstler eine Legende. Mit seinem khakifarbenen Hemd und der Kappe mit dem roten Stern sieht der putzmuntere 90-Jährige aus wie ein in die Jahre gekommener Guerillakämpfer. Auf dem Bürgersteig vor dem „Parlament der Bäume“ liegt eine Fahrkarte der BVG. Wagin hebt sie auf, betrachtet sie, geht weiter, steckt sie wieder ein und betrachtet sie erneut.

So viel Zeit wie für dieses kleine Stück Unrat nimmt er sich hier für alles auf diesem Gelände. Diese beiläufige Geste sagt nicht nur viel über Wagin, sondern auch über das „Parlament der Bäume“. Nichts hier ist einfach konsumierbar. Alles braucht Zeit. „Wozu habe ich das alles gemacht, wenn die Leute nur schnell vorbeikommen und klick machen?“, fragt Wagin.

Bäume auf dem ehemaligen Todesstreifen

In der Nacht vor den ersten demokratischen Volkskammerwahlen am 18. März 1990 hat der Künstler Teile der Mauer auf dem ehemaligen Todesstreifen eingerissen. An ihrer Stelle pflanzte er Bäume und schuf über die Jahre eine 400 Quadratmeter große Gedenkstätte mit Kirschbäumen, Kastanien, Eichen und Linden. 16 deutsche Ministerpräsidenten und andere Staatsmänner spendeten Bäume, darunter Richard von Weizsäcker. Auch Hollywoodstar Michael Douglas stiftete einen Ginkgobaum.

Heute ist die Zukunft dieses unbequemen Orts des Gedenkens ungewiss. Nicht weit entfernt hört man die Autos über die Friedrichstraße rauschen, am „ Baum-Parlament“ vorbei eilen Abgeordnete zum Reichstag. Im „Parlament der Bäume“ aber ist es still. Wagin sitzt mit seiner Assistentin Dafne B. – pinkes Jeanskleid, Cowboyhut und Stiefel – in der Galerie, die Sonne scheint durchs Plexiglas. Er schenkt sich Tee aus einer Thermoskanne ein und knabbert Erdnüsse.

„Die Offenheit der Besucher ist eine Voraussetzung, es braucht genug Schublade da oben“, sagt Wagin und deutet auf seinen Kopf. Gerne wollen sie hier Schulklassen durchführen, den Ort wieder für den Publikumsverkehr öffnen – es fehlt nur am Geld. Am Aktionstag soll er erst einmal darum gehen, das Gelände auf Vordermann zu bringen. Am Freitag, dem 8. September, soll umgegraben, am Samstag Blumenzwiebeln gesetzt werden. „Und wer weiß, vielleicht kommt von den Freiwilligen ja einer öfter?“, hofft Wagin.

Mahnmal für den Frieden

Die Pflanzen sind für ihn vor allem ein Mahnmal für den Frieden. 50 000 Ginkgobäume hat er in seinem Leben gepflanzt. Hier sollen sie aber auch ein grünes Zeichen sein, inmitten der Stadt. „In Berlin wird alles strukturiert, aber hier regiert die Natur“, sagt Wagin.

Auf einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1997 sieht man ganz deutlich, was er damit meint. Da wird gebaut, überall ist es betongrau zwischen Kanzleramt und Charité – und dazwischen gibt es nur ein grünes Fleckchen, dass wie ein gallisches Dorf inmitten der Baustelle steht. Damals wären seine Bäume fast verdurstet, sagt Wagin. Aus einem Nachbarhaus wurde heimlich ein Schlauch gelegt – der Helfer durfte dafür im „Parlament der Bäume“ heiraten.

Die Galerie besteht auch aus Bildern seiner verstorbenen Künstlerkollegen und Weggefährten, der Gruppe der „Baumpaten“. Wie er so umringt von ihren Werken dasitzt, wird es umso deutlicher: Er ist an diesem Ort der letzte Verteidiger einer Gedenkkultur, die sich nicht in ein Instagramfoto pressen lässt. Wagin selbst beschreibt es so: „Die subjektive Aufmerksamkeit muss Grund in einem selbst haben.“ Oder einfacher gesprochen: Wer ins „Parlament der Bäume“ kommt, dem wird nichts präsentiert, der bekommt keine vorgefertigte Idee mit nach Hause. Er muss sich selbst interessieren für den „jahrhundertelang geprägten Ort“, wie ihn Wagin nennt. Die Mauer – sie ist nur ein Kapitel dieser Geschichte. Es geht um viel mehr: um Ideologien, um Nationalismus, um den Tod. Dafne sagt: „Dieser Ort erinnert daran, dass man nicht alles wegschieben kann.“

So fing es 1991 an: Ben Wagin (l.), Sowjet-Oberst Jurij Samylkin und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (r.).
So fing es 1991 an: Ben Wagin (l.), Sowjet-Oberst Jurij Samylkin und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (r.).
© S. Müller

Doch weggeschoben wurde über die Jahre auch das „Parlament der Bäume“. Erst musste mit dem Bau des Bundespressehauses am Schiffbauerdamm das Denkmal „Europa Erde Werde“ weichen, das zum Gesamtkonzept dazugehörte, dann nahm der Neubau des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses den Bäumen den Platz. Heute sind von 400 nur noch 100 übrig geblieben. Auf Google Maps hat längst die graue Fläche gesiegt, hier erinnert nur ein kleines Baum-Icon an die Natur.

„Das Parlament der Bäume hat keinen Präsidenten, kein Plenum und keine Parteien“ – so steht es auf der Plakette. Doch einen Platz, in der Stadt, in der Gedenkkultur Berlins, den hat es nicht. Seit 26 Jahren ist es bloß geduldet. Bereits 2010 sollte es, anlässlich des 20. Jahrestages der Deutschen Wiedervereinigung, zum Kulturdenkmal erklärt werden. Doch im Parlament der Politiker scheiterte ein fraktionsübergreifend abgestimmter Gruppenantrag an CDU und SPD.

Der Denkmalschutz sei wichtig, sagt Wagin, fast wichtiger aber sei der Impuls von außen. Er ist der letzte lebende Baumpate. Wenn es ihn einmal nicht mehr gibt, was wird dann aus dem „Parlament der Bäume“? Das fragt sich auch der Künstler, doch: „Ich bin so lange, bis dieser Ort ist, wie er sein soll. Das habe ich schon einigen angedroht.“

Am Freitag, 8. September, von 10 bis 14 Uhr und Sonnabend von 12 bis 17 Uhr sind HelferInnen herzlich willkommen im „Parlament der Bäume“. Ort: Schiffbauerdamm/Adele-Schreiber-Krieger-Straße.

Pascale Müller

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