Rechtsextreme Anschlagsserie in Neukölln: Polizei überprüfte hunderte Personen als potenzielle Ausspäh-Opfer
Im Innenausschuss werden weitere Details zur Anschlagsserie bekannt. Offenbar hatten die Tatverdächtigen mehr potenzielle Opfer im Visier als angenommen.
Im Zuge der rechtsextremen Anschlagsserie in Berlin-Neukölln ging die Polizei davon aus, dass die Täter offenbar weitaus mehr potenzielle Opfer im Visier hatten als bislang bekannt. Das wurde am Montagvormittag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses in Berlin bekannt. Dort äußerte sich Polizeipräsidentin Barbara Slowik zu den Taten. Anfang 2017 habe die Polizei „hunderte“ Personen überprüft, die von Ausspähung durch die tatverdächtigen Neonazis betroffen gewesen sein könnten.
Zunächst hatte sich Slowik vor dem Ausschuss unklar ausgedrückt. Es kam zu einem Missverständnis. Die Polizeipräsidentin war von den anwesenden Journalisten so verstanden worden, dass tatsächlich „hunderte“ Personen von den Neonazis ausspäht worden sind. Später korrigierte Slowiks Sprecher die Aussagen am Rande der Ausschusssitzung. Demnach sind hunderte Personen von der Polizei daraufhin überprüft worden, ob sie ein potenzielles Ausspäh-Opfer der Neonazis waren.
[Auch der Tagesspiegel hatte zunächst die Überschrift dieses Artikels entsprechend der ersten Aussage der Polizeipräsidentin gewählt und diese nachträglich korrigiert.]
Zu den ausgespähten Personen gehörte auch der Neuköllner Linke-Politiker Ferat Kocak, auf dessen Auto am 1. Februar 2018 ein Brandanschlag verübt worden war. Bei Kocak seien aber von den Ermittlern die vorliegenden Informationen nicht zeitgerecht zusammengeführt worden, es habe eine lückenhafte Bewertung gegeben.
Zugleich warnte die Polizeipräsidentin davor, die Berliner Polizei wegen der Pannen im Fall Kocak und der fehlende Ermittlungserfolge unter einen Pauschalverdacht zu stellen. Gerade die Beamten, die beim Landeskriminalamt (LKA) für politische motivierte Kriminalität von Rechts zuständig sind, seien mit Leidenschaft dabei und hätten ihr Herz dem Kampf gegen Rechts verschrieben. „Die Ermittler wollen Erfolge“, sagte Slowik. Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass jemand in der Polizei den Erfolg im Neuköllner Ermittlungskomplex unterdrücken wollte.
Die Sitzung des Innenausschusses findet zum Teil in einem abhörsicheren Raum ohne Öffentlichkeit statt. Das war bereits am Ende der letzten Sitzung angekündigt worden.
Bereits vor zwei Wochen hat der Vizechef des Landeskriminalamtes Berlin, Oliver Stepien, Fehler und Pannen im Umgang der Polizei mit der rechtsextremistischen Anschlagsserie in Neukölln eingeräumt. Es seien bei einzelnen Ermittlungen nicht die Ergebnisse erbracht worden, die möglich gewesen wären.
Polizeipräsidentin Slowik ging am Montag nochmals in Detail. Demnach sei einer der Tatverdächtigen in der Anschlagsserie im Februar 2017 im Zuge einer verdeckten Maßnahme am Wohnort des Linke-Politikers Kocak aufgefallen. „Die Ausspähung betraf auch andere“, sagte Slowik. Sie sprach von hunderten potenziell Ausgespähten.
Damals sei aber keine konkrete Gefährdung festgestellt worden, die Daten seien auch nicht systematisch in die Auswertesoftware eingegeben worden, erklärte Slowik. Wäre diese geschehen, hätte dies möglicherweise mit späteren Informationen leichter abgeglichen werden können.
Beamte notierten „Kotschak“ statt Kocak
Im September 2017 hätten die Tatverdächtigen in einem Telefonat erneut über Kocak gesprochen. Nach dem abgehörte Gespräch notierte ein Beamten auch denen Namen des Linke-Politikers - jedoch mit falscher Schreibweise: Kotschak statt Kocak. Auch deshalb gab es im System keinen neuen Treffer, zu einem phonetischen Abgleich ist das System bislang nicht in der Lage, hieß es.
LKA-Chef Christian Steiof sagte, die technischen Möglichkeiten seien aktuell begrenzt, die Abhöranlage veraltet. Das LKA werde künftig auf neue technischen Lösungen setzen.
Der Verfassungsschutz hat dann am 15. Januar 2018 ein Gespräch zweier Tatverdächtiger abgehört. In dem Gespräch ging es darum, wie einer der beiden Männer eine Person, die einen roten Smart fährt, ausgespäht und verfolgt hat. Am 17. Januar informierte der Verfassungsschutz die Staatsschutzabteilung des LKA. Die Polizei filterte binnen zwei Wochen aus fast 1500 möglichen Fahrzeugen dann 180 Fahrzeuge heraus und stufte drei Halter als potenzielle Opfer ein – darunter war auch Kocak.
Der Verfassungsschutz hatte jedoch in seinem Behördenzeugnis die Auflage erteilt, dass die Informationen nicht für Gefährderansprachen oder für Sicherheitsgespräche mit potenziellen Opfern genutzt werden dürften. Diese Praxis ist inzwischen auf Weisung von Innensenator Andreas Geisel (SPD) aufgehoben werden, Quellenschutz geht nicht mehr vor Opferschutz.
Abhörmaßnahmen sollten entscheidende Informationen bringen
Von 2016 bis 2019 hatte der Verfassungsschutz 35 Behördenzeugnisse zu Rechtsextremisten an das LKA geschickt, 20 davon durften nicht in Ermittlungsakten auftauchen und in vier Fällen durften die Informationen nicht für Gefährderansprachen oder Sicherheitsgespräche mit gefährdeten Personen genutzt werden – dabei soll es genau in diesen Fällen ein eindeutige Bedrohungslage gegeben haben.
Der Verfassungsschutz versprach sich damals entscheidende Informationen von den Abhörmaßnahmen. Die Behörden hofften auf einen Durchbruch. Mit dem Nachweis, dass die Neonazis andere Personen ausgespäht haben, hätten sich weitere Maßnahmen wie Durchsuchungsbeschlüsse oder Abhörmaßnahmen durch die Polizei begründen lassen.
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Am 30. Januar standen die drei Namen der potenziellen Opfer fest. Aus Sicht der Ermittler ging es aber nicht um mögliche Opfer eines Anschlags, sondern um Verdacht, sie könnten von Neonazis ausgespäht werden. Kocak geriet aber zumindest teilweise aus dem Fokus, weil die Polizei angeblich nicht wusste, dass dieser sich gegen Rechts und für Flüchtlinge engagiert. Genau das aber waren die Merkmale für potenzielle Opfer. Doch es habe keinen Hinweis auf eine konkrete Gefährdung gegeben, sagte LKA-Chef Christian Steiof am Montag.
Am 31. Januar 2018 habe es dann weitere Gespräche zwischen LKA und Verfassungsschutz gegeben. Ziel sei es gewesen, die Verwendungssperre aufzuheben. Schließlich sei es auch um Hinweis gegangen, dass Kocak doch gegen Rechts engagiert sei. Dies sollte dann überprüft werden. Weitere Informationen sollten am 1. Februar folgen. In der Nacht zum 1. Februar wurde das Auto von Kocak dann in Brand gesetzt. Nur durch Glück griff das Feuer nicht auf das Haus seiner Eltern über.
Zu den Pannen erklärte Slowik weiter, mehrere Beamte seien aus heutiger Sicher „zu einer lückenhaften Bewertung“ des Falls gekommen, „ohne dies wissentlich getan zu haben“.
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Vor zwei Wochen hatten die zuständigen Sicherheitsbehörden Ermittlungsfehler eingeräumt und bedauert, dass den beiden Hauptverdächtigen bisher nichts nachgewiesen werden konnte. Innensenator Andreas Geisel (SPD), die Kriminalpolizei und ein Oberstaatsanwalt versicherten, dass sie alles nur Mögliche zur Aufklärung unternehmen würden. Demnächst soll ein Bericht der Anfang des Jahres eingesetzten Ermittlungsgruppe „Fokus“ vorgelegt werden.
In Neukölln hatten mutmaßlich rechtsextremistische Täter in den vergangenen Jahren Autos von bekannten Mitgliedern linker Parteien und Einrichtungen angezündet, Drohungen verschickt und linke Treffpunkte beschädigt. Die Linkspartei verlangt einen Untersuchungsausschuss des Parlaments zu dem Thema.
Ausschusssitzung in abhörsicheren Geheimschutzraum
Die Ausschusssitzung fand zum Teil in einem abhörsicheren Geheimschutzraum ohne Öffentlichkeit statt. Dabei ging es um darum, dass ein LKA-Beamter in einer rechten Szenekneipe in Rudow einen der Tatverdächtigen getroffen haben soll. Jedenfalls hatte das der Verfassungsschutz im März 2018 notiert. Der Beamte wurde durchleuchtet, der Verdacht hat sich nicht bestätigt, möglicherweise lag eine Verwechslung vor.
Den Fehler nehme der Verfassungsschutz auf seine Kappe, hieß es nach der Sitzung. Laut LKA-Chef Steiof gibt es auch keine Hinweise darauf, dass im Neukölln-Komplex interne Polizeidaten an die Tatverdächtigen durchgestochen wurden.