Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus: Czaja: Ex-Innenministerium nicht für Flüchtlinge nutzbar
Das Abgeordnetenhaus diskutierte über Notunterkünfte auf dem Tempelhofer Feld und einen möglichen Winterabschiebestopp. Beide Debatten wurden in Ausschüsse verwiesen.
- Bodo Straub
- Sabine Beikler
- Ronja Ringelstein
Das Berliner Abgeordnetenhaus diskutiert am heutigen Donnerstag darüber, ob das Tempelhof-Gesetz geändert werden soll - und ob die Abschiebungen im Winter ausgesetzt werden. Außerdem geht es um Air Berlin und einiges mehr. Wir begleiten den Tag in unserem Newsblog.
Die Diskussion im Abgeordnetenhaus zum Thema Tempelhof-Gesetz ist beendet - und soll nun in mehreren Ausschüssen beraten werden. Wann ist unklar. Neben dem Tempelhofer Feld sucht der Senat auch weitere Unterkünfte für Flüchtlinge. So erklärte Sozialsenator Mario Czaja (CDU), man habe beim Bundesinnenministerium einen Antrag gestellt, dessen altes Gebäude in Moabit nutzen zu dürfen, aber wohl erfolglos: Der Eigentümer will offenbar lieber die Büroflächen vermieten.
Im Anschluss an die Tempelhof-Debatte lieferten sich Robbin Juhnke (CDU) und Canan Bayram (Grüne) einen Schlagabtausch zum Thema Winterabschiebestopp. Die Oppositionsfraktion hatte den Antrag gestellt.
Juhnke: "Alle Jahre wieder kommt der Antrag gegen die Abschiebung"
Robbin Juhnke (CDU) verteidigte die Abschiebung als wichtiges Instrument: "Die meisten, die keinen Aufenthaltsstatus bekommen, gehen deshalb freiwillig, weil die Abschiebung droht. Also hat sie Signalwirkung. Ich frage mich, warum sie den Antrag immer wieder stellen. Der Antrag kommt grundsätzlich immer zu spät. Auch im Grün regierten Baden-Württemberg und im Roten Thüringen gibt es keinen Winterabschiebestopp."
Hakan Tas von den Linken kritisierte, Innensenator Frank Henkel würde sich mit der Abschiebung brüsten: "Henkel und die CDU haben ein merkwürdiges Verständnis in Sachen Geflüchtete. Wir haben ja hier einen Innensenator, der sich damit rühmt, die Abschiebezahlen erhöht zu haben. Wenn das kein Skandal ist!"
Evers: "Der Volkswille konnte nicht von der heutigen Lage ausgehen"
Der Wilmersdorfer Stefan Evers (CDU) relativiert. Es sei zwar viel von einem Volksgesetz die Rede, aber: "Der Volkswille konnte nicht von einer Lage, wie wir sie heute haben, ausgehen. Wer das behauptet, der lügt." Allerdings dürfe das Tempelhofer Feld nicht die erste Wahl sein, sondern das letzte Mittel bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Er fordert eine "stadtweite Debatte mit allen wichtigen Beteiligten." Die "unglückliche Kommunikation" der vergangenen Tage und Wochen habe "Misstrauen in der Bevölkerung geschürt".
Kapek: "Wenn dort 12.000 Menschen untergebracht werden, bedeutet das eine Gefahr für uns alle"
Antje Kapek, Fraktionsvorsitzende Sprecherin für Stadtentwicklung der Grünen, sagte vor dem Plenum, die Gesetzesänderung sei kein respektvoller Umgang mit direkter Demokratie: "Man will hier den Volksentscheid durch die Hintertür aushebeln. Es geht vor allem um die Dimension der Unterbringung." Bei einem Treffen mit den Bezirken sei, so Kapek, bekannt geworden, dass sogar 12.000 bis 15.000 Menschen auf dem Tempelhofer Feld untergebracht werden sollen. "Diese 10.000 Menschen extra sollen dann nicht nur in Hangars, sondern an den Rändern des Feldes untergebracht werden. Dort gibt es aber keine Infrastruktur. Die Versorgung der jetzt dort Untergebrachten ist schon sehr bedenklich. Die Dixie-Klos stehen unter freiem Himmel und sind deshalb häufig gar nicht nutzbar. Das sind katastrophale hygienische Rahmenbedingungen - wenn dort 12.000 Menschen untergebracht werden, bedeutet das eine Gefahr für uns alle", sagte Kapek.
Wolf: "Es gibt keine wirkliche Begründung, dass das Feld alternativlos ist."
Die SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill sagt zu Lederer: "Sie instrumentalisieren die Not der Geflüchteten und verwenden Begriffe wie 'Lager'." Er betreibe Wahlkampf auf dem Rücken der Flüchtlinge. Der Linken-Fraktionschef Udo Wolf entgegnet: „Es gibt immer noch keine wirkliche Begründung dafür, dass das Tempelhofer Feld alternativlos ist.“ Die einfache Behauptung sei unangemessen, wenn es darum gehe, ein Volksgesetz zu ändern. Doch immer noch kenne das Parlament nicht die anderen möglichen Standorte.
Lederer: "Die Anlage hat Lagercharakter mit Industrieatmosphäre"
Der Berliner Vorsitzende der Linkspartei, Klaus Lederer, gerät in Rage: "Ich habe nicht damit gerechnet, dass uns keine zwei Wochen nach einer ambitionierten Regierungserklärung nicht mehr als die Revision eines von 700.00 Berlinerinnen und Berlinern beschlossenen Gesetzes vorgelegt wird." Schon die jetzige Unterkunft auf dem Tempelhofer Feld sei die schlechteste Notunterkunft, die Berlin aktuell betreibt, sie habe "Lagercharakter mit Industrieatmosphäre". Und an Bausenator Andreas Geisel gerichtet sagt er: "Es mag ja sein, dass Sie gerne so leben, ziehen Sie doch dort ein!" Er vermutet, dem Senat ginge es nicht nur um die Unterbringung von Flüchtlingen: "Wir haben mehr als ein schlechtes Gefühl, wir ahnen die Absicht. Deshalb werden wir das Gesetz ablehnen."
Geisel: "Zügig und solidarisch handeln"
Es gehe auch darum, nicht noch mehr Sporthallen belegen zu müssen, sagt Andreas Geisel: Eine Traglufthalle habe die Größe von drei Schulsporthallen. "Wir brauchen ein zügiges und solidarisches Handeln", sagt er. "Wir diskutieren nicht die Abschaffung des Tempelhof-Gesetzes, sondern seine Ergänzung." Damit es der Senat nur einmal anfassen müsse, habe er sich entschlossen, einzelne Flächen auf Neuköllner Seite mit aufzunehmen, um Vorsorge zu treffen. Geisel sagt: "Mir ist klar, dass es viel Misstrauen gibt, und wenn wir es uns ersparen könnten, würden wir diese Diskussion nicht führen." Aber es müsse geholfen werden. Geisel: "Es geht nicht um Revanche für einen verlorenen Volksentscheid."
Geisel: "Vermeidung von Obdachlosigkeit in den Jahren 2016 bis 2019"
Bausenator Andreas Geisel (SPD) plädiert jetzt dafür, das Tempelhof-Gesetz zu ändern. Es gehe um die temporäre Nutzung des Tempelhofer Feldes zur Vermeidung von Obdachlosigkeit in den Jahren 2016 bis 2019. Aktuell beschreibt er die Situation so: Morgens trifft sich der Koordinierungsstab und sucht eine Unterkunft für die Flüchtlinge, die an dem Tag in Berlin ankommen. Aber der Stab laufe der Situation hinterher. Nach dem Tempelhof-Gesetz, so Geisel, ist eine Bebauung nicht zulässig. Über den Tagesspiegel-Bericht über den Streit in der Koalition sagt Geisel: "Diese Artikel entsprechen nicht den Tatsachen." Das Vorfeld sei ungeeignet - wenn es regne, werde es überschwemmt, außerdem: "Zu große Zusammenballungen von Menschen sind nicht sinnvoll." 5000 Menschen im Gebäude des Flughafen Tempelhof unterzubringen sei eine Größenordnung, die er vor Monaten noch ausgeschlossen habe. Kleinere Unterkünfte seien natürlich besser, doch die Größenordnungen der Zahl der ankommenden Flüchtlinge zwängen den Senat dazu, nicht nur dezentrale Lösungen zu suchen.
Los geht's: Das Thema ist dringlich
Zu Beginn der Debatte um das Tempelhof-Gesetz ging es um den Dringlichkeitsantrag. Die Opposition warb dafür, es nicht als dringlich zu behandeln. Benedikt Lux (Grüne) nannte das Tempelhofgesetz ein "Volksgesetz" und sagte: "Sie verlieren einen Monat Zeit, aber sie gewinnen Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit." Dennoch stimmte das Parlament mit den Stimmen von SPD und CDU dem Dringlichkeitsantrag zu.
Dr. Motte: "Da wird Demokratievernichtung durchgewinkt"
Draußen in der Nähe des Abgeordnetenhauses steht eine kleine Gruppe von Leuten, die gegen die geplante Gesetzesänderung protestieren. Einer von ihnen: Der Loveparade-Erfinder Dr. Motte. Er sagt im Tagesspiegel-Gespräch: "Da wird Demokratievernichtung durchgewinkt."
Canan Bayram: "Warum ist Herr Czaja eigentlich noch zuständig?"
Vor den Prioritäten läuft die Fragestunde. Unter anderem ging es um die Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge und die Sicherheitssituation am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), insbesondere den umstrittenen Wachdienst Gegenbauer. Sozialsenator Mario Czaja (CDU) stellte klar: Nicht das Lageso, sondern die Bundesanstalt für Immobilien (BIM) ist Vertragspartner von Gegenbauer, und nur die BIM könne den Mietvertrag kündigen. Seine Antwort zur Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge reichte jedoch der Grünen-Abgeordneten Canan Bayram nicht. Sie sagte: "Herr Czaja, ich muss mich echt beherrschen, nicht auszuflippen!" Als sie ermahnt wurde, dass sie in der Fragestunde kein Statement abgeben könne, sondern eine Frage zu stellen habe, fragte sie: "Warum ist Herr Czaja eigentlich noch zuständig, wenn er nichts weiß?" Czaja entgegnete: Er sei bei allen Sitzungen dabei.
Schulturnhalle in Neukölln beschlagnahmt
Während das Abgeordnetenhaus diskutiert, geht die Suche nach Notunterkünften für Flüchtlinge weiter. Am Mittwochabend hat das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) eine weitere Schulturnhalle in Neukölln beschlagnahmt. Das Schreiben des Lageso ging nach Angaben des Bezirksamtes am Mittwochabend um 20 Uhr ein, um 22 Uhr beendeten die Vereine ihr Training, gegen 0:30 sei die Halle mit 100 Flüchtlingen belegt worden.
"Die Luft zum Atmen"
Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt hat sich in seinem Dienstags-Kommentar bei Radio Eins ebenfalls mit der geplanten Bebauung des Tempelhofer Feldes beschäftigt (hier nachzuhören). Er meint: "Wir sollten nicht leichtfertig auf den vermeintlichen Luxus verzichten und sollten uns in einer immer dichteren, volleren Stadt die Luft zum Atmen, die Luft zum Leben noch leisten."
Um 11 geht's los - mit Investitionen
Die Einladung zur 72. Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses können Sie übrigens hier nachlesen, den Livestream gibt's auf der Seite des Abgeordnetenhauses. Ums Tempelhofer Feld geht's erst ab 14.30 Uhr. Vorher geht's um Investitionen und den Nachtragshaushalt. Nebenbei will das Abgeordnetenhaus auch noch die Zukunft von Air Berlin sichern, ab 13.30 Uhr.
"Berlins großer Feldversuch"
Einer der meistgelesenen Texte auf unserer Website heute: Der Leitartikel von unserem Reporter Ralf Schönball über das Tempelhofer Feld. Er schreibt: "Wie eine Revanche der Regierenden an ihrem Volk, so nimmt sich das unwürdige Tauziehen um die Zukunft des Tempelhofer Feldes aus. Niemand hat die Absicht, das Feld zu bebauen, versicherte die Verwaltung zunächst, nur eine Blumenhalle müsse aufgestellt werden, Platz für Flüchtlinge. Schritt für Schritt kommt dann ans Licht: Ausnahmegenehmigungen für Notunterkünfte soll es an vielen Rändern des Parks geben, da, wo der damalige Bausenator Michael Müller Siebengeschosser in Beton gießen wollte." Den ganzen Kommentar lesen Sie hier.
Demo vor dem Abgeordnetenhaus
Seit halb elf soll eine Kundgebung unter dem Motto: "Gegen Änderung des Tempelhof-Gesetzes" vor dem Berliner Parlament stattfinden. Eine Einzelperson hat die Kundgebung mit 50 Menschen angemeldet. Daneben will übrigens der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) mit Aktivistinnen von "Terre des Femmes" eine Flagge hissen, anlässlich des gestrigen Gedenktages „Nein zu Gewalt an Frauen“.
Was ist nun mit dem Tempelhofer Feld?
Soll das Tempelhof-Gesetz geändert werden? Die Koalition will das, zieht aber nicht an einem Strang - während die SPD das Gesetz zeitnah verabschieden will, sieht die CDU keine Eile. Wie der Tagesspiegel erfuhr, will Sozialsenator Mario Czaja (CDU) die eigentlich fürs Tempelhofer Feld gedachte IGA-Blumenhalle nun in Prenzlauer Berg aufstellen. Mehr dazu lesen Sie hier. Die Debatte verspricht jedenfalls, interessant zu werden - die Grünen-Abgeordnete Antje Kapek freut sich schon.
Piraten, Linke, Grüne wollen Abschiebestopp im Winter - und eigentlich auch die SPD
Piraten, Linke und Grüne fordern einen sofortigen generellen Winterabschiebestopp bis zum 31. März 2016, um winterbedingt humanitäre Härten zu vermeiden. Insbesondere schutzbedürftige Minderheiten sollten nicht in die Balkanstaaten sowie in andere Regionen „mit entsprechend menschenunwürdigen Lebensbedingungen“ in den Wintermonaten abgeschoben werden. Der Antrag wird heute im Parlament beraten und voraussichtlich in den Innenausschuss verwiesen. Die CDU lehnt einen Abschiebestopp ab. Auch SPD-Innenpolitiker Frank Zimmermann lehnt einen „förmlichen Abschiebestopp“ ab. Der SPD-Landesparteitag allerdings verabschiedete mehrheitlich einen Antrag der Jusos, einen Winterabschiebestopp in Berlin zu erlassen. Bisher gibt es in keinem Bundesland einen Winterabschiebestopp: Nur noch in Einzelfällen soll darauf verzichtet werden. Noch im vergangenen Winter hatten Thüringen und Schleswig-Holstein einen Abschiebestopp.