Wahl-Serie: Gesundheit: Berlin darf Ärzte in arme Kieze umverteilen
Berlin ist das Zentrum der deutschen Gesundheitsbranche, doch viele Berliner spüren im Alltag nichts davon. Ein Urteil des Bundessozialgerichts kann das nun ändern.
An dieser Stelle könnte man von globalen Pharmafirmen erzählen, die in Berlin forschen. Von der Hightechmedizin in Europas größter Universitätsklinik, der Charité. Von den 300 Pflegeheimen, die schicker aussehen denn je. Oder den vielen Ärzten in der Stadt, die das Brandenburger Umland gleich mitversorgen. Sicher auch davon, dass jeder achte Berliner Beschäftigte in der wachsenden Gesundheitswirtschaft tätig ist.
Vielleicht aber erzählt man lieber von Ulrike Müller. Die frühere Verwaltungsangestellte, 65 Jahre, sagt: „Bis ich beim Arzt bin, dauert es ewig. Und das in der Hauptstadt. Außerdem ist es ein Unding, dass meine Tochter so wenig verdient!“ Müller spricht zwei Sorgen an, die so oder ähnlich seit Jahren zu hören sind. Vor allem beim Facharzt sind zeitnahe Termine kaum zu bekommen. Und während Müller eine vergleichsweise gut versorgte Rentnerin ist, empört sie sich über das Gehalt ihrer Tochter: Die 39-Jährige bekommt als ausgebildete, erfahrene Altenpflegerin rund 15 Euro brutto die Stunde – und das, obwohl in diesem Job dringend Fachkräfte gesucht werden.
Müller wohnt an der Grenze zwischen Treptow und Neukölln. Viele Senioren leben dort, trotzdem ist der Südosten eine gesundheitspolitische Problemzone: Wer hier zum niedergelassenen Frauenarzt will, muss oft lange warten.
Eigentlich hat Berlin genug Praxen, auf 100 000 Einwohner kommen 220 niedergelassene Mediziner, im Bundesschnitt sind es 180 Ärzte. Doch die Praxen sind sehr ungleich verteilt. Vor allem Augenärzte, Gynäkologen, Dermatologen – Mediziner, die Müller braucht – fehlen im Südosten, während sie in Steglitz geballt residieren.
Praxen dürfen nur noch in schlecht versorgten Bezirken eröffnen
Was Müller noch nicht, aber absehbar zugutekommen wird: Die Lage, das sagen auch Patientenvertreter, bessert sich. Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) hatte dazu mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) verhandelt. Der öffentlich-rechtlichen KV müssen alle 9000 in Berlin niedergelassenen Mediziner angehören, sie verteilt Praxiszulassungen. Czaja einigte sich 2013 mit der KV darauf, dass Praxen nur in Bezirke umziehen dürfen, die schlechter mit Ärzten versorgt sind. Insgesamt wurden seitdem 158 Praxen verlegt. Wohlgemerkt: Nicht wenige Ärzte, die sich ja als Freiberufler sehen, lehnten die KV-Vorschrift ab. Doch das Bundessozialgericht hat an diesem Donnerstag entschieden, dass die Vorschrift rechtens ist. Und immerhin, es sind auch sieben Frauenarztpraxen verlegt worden. Reicht das?
Noch nicht. Der Senator verschärfte die Regel. Neue Praxen dürfen künftig nur noch in den drei am schlechtesten versorgten Bezirken eröffnen. Für Gynäkologen wären dies aktuell Reinickendorf, Treptow-Köpenick, Neukölln. Entstehen neue Frauenarztpraxen, dann wohl also in der Nähe von Ulrike Müllers Wohnung.
Die Einigung mit den mächtigen Kassenärzten gilt als Erfolg. Überhaupt galt Czaja als Hoffnung der CDU. In seinem Mahlsdorfer Wahlkreis erhielt er als Direktkandidat 2011 auch Erststimmen von Wählern, die mit der Zweitstimme für die Linke votierten. Doch mit dem Flüchtlingschaos im Sommer 2015 büßte Czaja viele Sympathien ein. Seine Kritiker sagen, dass er auch in anderen Fragen ein Ankündiger geblieben sei. Immer noch, heißt es, fehle Fachpersonal und seien viele Bauten marode.
Czaja kennt die Klagen. Der Senator hat im neuen Krankenhausplan festschreiben lassen, dass auf Intensivstationen eine Pflegekraft nur noch zwei Patienten pro Schicht zu versorgen hat, bislang sind es oft vier Kranke. Außerdem gibt es mehr Geld. Wurden 2013 noch 3800 Euro pro Berliner Krankenbett investiert, sollen es bald mehr als 6000 Euro im Jahr sein. Für die in einigen Fällen sogar denkmalgeschützten Klinikbauten reicht das nicht. Hamburg etwa gibt 10 000 Euro im Jahr pro Krankenbett aus (siehe Kasten).
Charité-Beschäftigte streikten für mehr Kollegen
Krankenkassenexperten äußern sich nur vorsichtig optimistisch, Patientenfürsprecher warten ab, die Opposition bleibt kritisch. Der Senator, sagt der Linken-Gesundheitsexperte Wolfgang Albers, biete viel Lyrik, wenig Substanz. Das Personal reiche nicht, die Mindestvorgaben für die Stationen seien allenfalls vage Empfehlungen. Das weiß Czaja, er fände eine bundesweite Vorschrift für einen Personalschlüssel auf den Stationen besser. Das fordern auch die Gewerkschaften, drohe doch sonst, dass die Personalbesetzung nach Kassenlage der Klinik entschieden werde. Die Pflegekräfte an der Charité wollten nicht warten – denn mit einer bundesweiten Regelung ist erst ab 2018 zu rechnen. Und so streikten die Charité-Beschäftigten nicht für mehr Lohn, sondern für mehr Kollegen. Kürzlich wurde ein Tarifvertrag unterzeichnet, die landeseigene Klinik muss nun 200 Zusatzpflegekräfte anstellen. Das ist der bundesweit erste Tarifvertrag dieser Art.
Der neue Senat wird in größeren Dimensionen handeln müssen: Berlin wächst durch Zuzügler aus ganz Europa und Flüchtlinge aus der halben Welt. Vor allem aber gibt es künftig mehr Berliner, die Hilfe im Alltag brauchen: Heute sind 170 000 Bewohner älter als 80 Jahre, 2030 werden es 265 000 sein. Die meisten Bedürftigen werden von ihren Angehörigen versorgt, Pflegepersonal gebe es ohnehin nicht genug.
Czaja hat die Ausbildung zum Pflegehelfer verkürzen lassen, zudem soll das Schulgeld für die Altenpflegeschule wegfallen. „Das ändert nichts daran“, sagt Ulrike Müller, „dass meine Tochter 15 Euro brutto die Stunde bekommt.“ Kein Wunder, dass sie nun – nach zehn Jahren im Job – über eine neue Stelle nachdenke. Viele Fachkräfte bleiben nur wenige Jahre in der Pflege. Der Senat jedoch kann nur schwer etwas an den Löhnen ändern, denn die handeln Gewerkschaften und Arbeitgeber weitgehend allein aus. Helfen aber würde, wenn Pflegekräfte generell mit mehr Selbstbewusstsein auftreten. Doch woher nehmen?
Senator Czaja will, dass Schwestern und Pfleger eine Kammer gründen. Wie die Mediziner mit der Ärztekammer hätten die Pflegekräfte dann eine Institution, die mit quasihoheitlichen Befugnissen für ihre Zunft streiten kann. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe unterstützt die Idee. Allerdings haben nur 59 Prozent der befragten Berliner Pflegekräfte – so wie Müllers Tochter – für eine Kammer gestimmt. Eine Kammergründung wäre eine mehrjährige Aufgabe für den Senat, schließlich gibt der Staat dabei Befugnisse an die jeweiligen Berufsvertreter ab. Einer Kammer müssen dafür alle Fachkräfte der Zunft angehören. Erfolgsaussichten? Unklar. Die Berliner SPD ist schon mal dagegen.
Dieser Text ist Teil unserer Serie zur Berlin-Wahl 2016. In der zweiten Folge diskutierten wir Wahlfragen rund um das Thema Kinder, den Text können Sie hier nachlesen. Welche Maßnahmen der rot-schwarze Senat in der ablaufende Legislaturperiode für bessere Kinderbetreuung und Schulen getroffen hat, ist hier aufgeschrieben. Was Bildungs-Experten empfehlen, lesen Sie hier.
Die nächsten Folgen: Klima, 7.8., Verkehr, 9.8., Sicherheit, 11.8., Integration, 13.8., Wirtschaft, 15.8., Ämter, 17.8., Demokratie, 19.8.