Flüchtlinge in Berlin: Mario Czaja nimmt jetzt keine Rücksicht mehr?
Mario Czaja soll das drängendste Problem der Stadt lösen. Der Sozialsenator bekommt wegen der Flüchtlinge seit Monaten Ärger von allen Seiten. Den 39-Jährigen hat das verändert. Er versucht nicht mehr, es jedem recht zu machen.
Auf dieses Zeichen hat Mario Czaja lange gewartet. Darauf, dass sich der Senat, der Regierende Bürgermeister, ja, die ganze Stadt hinter ihn stellt, dass sie sich zu ihm, seiner Arbeit und seinen Ideen bekennen. Fast, möchte man meinen, schmunzelt Czaja erleichtert, als Michael Müller (SPD) an diesem Dienstag im Roten Rathaus etwas sperrig formuliert: „Wir müssen weg vom Denken in Geschäftsverteilungsplänen und Zuständigkeiten.“ Die „Gesamtinteressen des Landes“ seien tangiert.
Und dann sagt der Regierende Bürgermeister, worauf Sozialsenator Czaja wartet: Ihn, CDU-Mann Czaja, stattet Müller nun mit weitreichenden Vollmachten aus. Czaja leitet ab sofort einen Krisenstab, wie es ihn in Berlin seit der Wende nicht gegeben hat.
Für Czaja geht es um alles. Ausgerechnet er, mit 39 Jahren der Jüngste im Senat, steht jetzt vor dieser gewaltigen Herausforderung. Er, der einst auffallend oft Lächelnde aus dem beschaulichen Mahlsdorf. Er, den die CDU wegen Kooperation mit dem politischen Gegner – der Linken – 1999 ausschließen wollte.
Ist er der Richtige für diesen Job, wird er Ordnung schaffen?
Der Mann, der die Stadt aus dem Chaos führen soll, hat in der Nacht vor seinem bislang wichtigsten Auftritt kaum geschlafen. Seit sechs Uhr früh arbeitet sich Mario Czaja durch E-Mails, checkt Zahlen, verabschiedet Frau und Tochter, bespricht sich dann im Amtssitz mit seinen Mitarbeitern. Um 10 Uhr trifft er Müller, den er seit Wochen um Hilfe bittet.
Zur selben Zeit stehen wieder 500 Männer, Frauen und Kinder vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso, in der Turmstraße in Moabit und wollen einen Asylantrag stellen. Seit Monaten, wenn nicht Jahren fehlen Personal und Unterkünfte – sowie ein Plan, der nicht nur für einige Tage funktioniert. Unter den Flüchtlingen wird die Stimmung angesichts der Hitze aggressiver, unter Anwohnern der 61 Heime auch.
Was Müller und Czaja dann verkünden, könnte tatsächlich zum Befreiungsschlag taugen. Einerseits für die Flüchtlinge. Andererseits für Czaja selbst.
Czaja bekommt mehr Macht
Der Sozialsenator darf nun auf das Personal anderer Senatoren zurückgreifen. „Und zwar nicht nur freiwillig“, sagt Czaja, „sondern, wo nötig, auch verpflichtend.“ Im austarierten Machtgefüge der SPD-CDU-Koalition war das bisher undenkbar, zumal sich die Senatoren schon im Wahlkampf befinden. Mit den „regulären Abläufen“ aber sei die Versorgung eben nicht mehr zu leisten, sagt Czaja. Müller will nun sogar pensionierte Beamte fragen, ob sie wieder dabei sind.
Noch nie zog es seit dem Zweiten Weltkrieg so viele Flüchtlinge nach Deutschland. Dieses Jahr werden es 700 000 sein, 35 000 muss Berlin unterbringen – so sehen es die Verteilungsregeln des Bundes vor. Innerhalb einer Woche kommen nun so viele wie 2007 im ganzen Jahr. Am Abend vor dem großen Auftritt sitzt Czaja bei einem Bier und sieben Zigaretten in der Nähe des RBB-Sendeturms ganz im Westen der Stadt. „Ich habe viel bewegt“, sagt er. Gerade ist er in der „Abendschau“ zum Chaos vor dem Lageso befragt worden. Czaja nimmt seine Armbanduhr ab, steckt sich eine neue Zigarette an, guckt nach der Zeit. „Ich hätte vielleicht gleich mehr Druck machen können.“ Seit 2012 kommen wieder mehr Flüchtlinge in die Hauptstadt. Zunächst kamen vor allem Roma vom Balkan, dann Asylsuchende aus Afrika, zuletzt Iraker, Syrer, Afghanen. Als das Lageso schon vergangenen Sommer für einige Tage schließen musste, weil Personal und Räume fehlten, hätte klar sein müssen: Führung und Behörden dieser Stadt sind überfordert. „Wir sind von der Weltlage eingeholt worden“, sagt Czaja. Doch werden Senatoren nicht genau dafür gewählt: die Lage eher zu erkennen als andere? „Es kamen viel mehr Menschen, als jeder, als Kanzleramt oder Außenministerium oder EU prognostiziert haben.“
Czaja hat wenig Zeit - auch wegen der Wahl 2016
Czaja ist nun, nachdem Müller ihn zum Notstandsgeneral ernannt hat, mehr ein Getriebener denn je. Jeden Tag werden nicht nur seine Beamten zügige Entscheidungen fordern, sondern auch Mitarbeiter der anderen Senatoren. In welche Häuser sollen die Flüchtlinge, was sagen wir den Anwohnern, welcher Wohlfahrtsverband zieht mit? Außerdem wird Czaja von der Zeit getrieben. Er hat noch ein Jahr, dann wird in Berlin gewählt. Alles deutet darauf hin, dass SPD-Mann Müller nach 2016 auf Rot-Rot setzt. Czaja ist seit 1993 in der CDU, seit 1999 Abgeordneter, seit 2011 Senator für Gesundheit und Soziales – er löste Probleme bislang, bevor sie für ihn persönlich zur Krise wurden. Dabei blieb er freundlich, einige sagen: aalglatt. Und er hatte Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Als sich die Chefs der Kassenärztlichen Vereinigung, die über die Praxen der Stadt wachen, eine Prämie gönnten, ordnete er unter Applaus der Opposition an, das Geld zurückzuzahlen. Und als sich die CDU-Senatoren mit ihren SPD-Kollegen derart über die Rekommunalisierung stritten, dass einige dachten, die Koalition zerbreche, hielt Czaja sich raus. Doch je größer die Krisen, desto weniger hilft Vorsicht, desto eher wirkt sie wie Zögern. Ob er versagt oder alles richtig gemacht habe, sagt Czaja, müssten am Ende andere beurteilen. Wieder sehr vorsichtig gibt er zu: „Ich habe mich mit Ergebnissen zufrieden gegeben, die wenig später unzureichend waren.“
Wohncontainer, Favelas, Lager?
Mit dem, was die Opposition gern „Flickschusterei“ nennt, ist der Senator kaum weiter gekommen: Traglufthallen hier, umgebaute Ex-Schulen da. Wenn ein Bezirksamt leere Häuser nicht freigeben wollte, hat er noch 2014 – als schon massenhaft Familien aus dem Nahen Osten flohen – erst mal das nächste gefragt. Doch wer nicht bereit ist, harte Ansagen zu machen, kommt in der Politik nicht weit. Und in Berlin schon gar nicht. Vor allem im CDU-geführten Westen der Stadt hatte Czaja wenig Erfolg. Man kann sagen, dass er zunächst an den Lokalfürsten der Berliner Politik gescheitert ist. Als immer mehr Flüchtlinge kamen, ließ er Wohncontainer errichten.
Das ging vergleichsweise schnell, aber provozierte Ärger von allen Seiten. Anwohner fürchteten Favela-gleiche Blechhütten, Flüchtlingshelfer sprachen von gefängnisähnlichen Lagern. Beides stimmt nicht, die Wohncontainer sind moderner, freundlicher, geräumiger als viele Altbauten. Czaja glaubte, damit komme er durch, so lasse sich das Problem lösen, denn in die Wohncontainer – die letzten drei Siedlungen werden nun fertig – passen 2400 Menschen. Inzwischen jedoch kommen 2400 neue Flüchtlinge alle zwei, maximal drei Wochen in die Stadt.
Neues Heim in Karlshorst
Czaja hat üble Tage hinter sich. Allerdings waren die nicht so übel wie für die Flüchtlinge und die Lageso-Mitarbeiter. Hunderte Asylbewerber campierten vor dem Amt: fast 40 Grad, kaum Wasser, verdreckte Toilettenhäuschen, tagelang kein Heimplatz. Die Piraten sprachen von „humanitärer Krise“. Noch im Urlaub beschloss Czaja, dass ein Ex-Telekom-Gebäude in Karlshorst zur Notunterkunft wurde. Dort zogen 300 Flüchtlinge ein, Czaja besuchte das Heim am Samstag.
An diesem Montag schlenderte ein junger Iraker durch die Gartenhaussiedlung, in der das Telekom-Haus wie eine Raumstation steht. „Das war ein Minister? So jung?“, wunderte sich der Mann. „Kommt der öfter?“ Ein paar Mal sicher noch. Czaja hat die meisten Unterkünfte besichtigt. In Hellersdorf spielte er Tischtennis mit Roma-Jungen aus Bosnien. Vor einigen Wochen besuchte er die Traglufthallen am Poststadion. Eigentlich gilt der Senator als eitel, vor Auftritten geht er gern zum Friseur, seit zwei, drei Jahren achtet er stärker auf seine Figur. In der Traglufthalle aber sah man einen Czaja, der sich auch dann mit Flüchtlingen unterhielt, wenn die Presse nicht dabei war. In passablem Englisch fragte er in der Küche der Halle einen zufällig umherstehenden Mann: Wo kommen Sie her, sind Sie mit Ihrer Familie da, was ist Ihr Beruf? Tunesien, sagte der Mann, die Familie sei noch dort. Dann standen beide schweigend in der Küche, wussten zwar nicht weiter, freuten sich aber darüber, dass der junge Mann einen Schlafplatz bekommen hatte.
„Sparen, bis es quietscht“
Dass die Stadt schlecht auf die Flüchtlinge vorbereitet war, die danach kamen, hat mit den Einzelinteressen in zwölf Bezirken, der Konkurrenz zwischen den Senatsverwaltungen und auch dem Zögern Czajas zu tun. Vor allem aber, das sagen sie parteiübergreifend, wurde bis hin zum Verschleiß gespart – und das rächt sich, wenn mehr Menschen kommen. Der rot-rote Senat verordnete der Stadt 2001 ein striktes Spardiktat. „Sparen, bis es quietscht“, kündigte Klaus Wowereit (SPD) an. Die Schulden sollten weg, bis 2014 wurden wohl 35 000 Stellen gestrichen. Allein im Lageso arbeiten nun 200 Mitarbeiter weniger. „Erst hatten die Leute den Eindruck, der Senat spare bloß“, sagt Czaja. „Inzwischen quietscht es enorm.“ Auf Kindergeld, Führerschein oder Reisepass müssen Bürger manchmal Monate warten. Termine bei den Bürgerämtern werden schwarz gehandelt. Von Flüchtlingen wollte Wowereit eher wenig wissen. Czaja regte schon 2014 an, der Senat solle die Frage zur Chefsache machen. Sinngemäß soll Wowereit gesagt haben: Flüchtlingsheime seien Czajas Aufgabe – schaffe er das nicht, sei er wohl überfordert.
Fühlt sich Czaja verraten?
Das mag stimmen, nur liegt das nicht an Czaja allein. Neben den Flüchtlingen drängt es pro Jahr fast 40 000 Neuankömmlinge aus Deutschland, Italien oder Bulgarien nach Berlin. Zur selben Zeit werden aber nur 10 000 Wohnungen gebaut. Fühlt Czaja sich allein gelassen, gar vom Koalitionspartner, von den eigenen Parteifreunden verraten? Czaja antwortet salomonisch: „Es war nicht einfach, von allen Unterstützung zu bekommen.“ Czaja sei – so sagt es ein Oppositionspolitiker – „authentisch daran gelegen“, dass die Flüchtlinge unterkommen, dass sie ein faires Asylverfahren erhielten, dass die Stadt funktioniere.
Czaja selbst wohnt zwischen zwei Heimen, dem in der Maxie-Wander-Straße in Hellersdorf, gegen das lange protestiert wurde, und dem neuen in der Köpenicker Allee in Karlshorst, das nun ausgebaut wird. Nächstes Jahr sollen die Modulbauten fertig werden, die Czaja in Auftrag gegeben hat. Neu daran ist, dass die Häuser dem Land gehören, der Senat sich also die Betreiber selbst aussuchen kann. Einen fertigen Bauentwurf gibt es schon, 2016 könnten in den Häusern 7000 Menschen unterkommen. Bis dahin gilt es durchzuhalten. Senatschef Müller hat alle Verwaltungen angewiesen, Wohnplätze zu besorgen. Das Lageso bekommt noch mal 100 neue Mitarbeiter, außerdem sollen die Flüchtlinge in den Heimen registriert werden, damit sie nicht auf dem Rasen in der Turmstraße campieren müssen.
Gesundheits- und Sozialpolitik wollen nicht viele machen. Als Hardliner zu punkten, wie es Innenpolitiker mit Verboten und Razzien können, fällt hier aus. Czaja sagt, er mache seinen Job gern. In der Opposition erkennen sie immerhin an, dass Czaja kleine Erfolge mitzuteilen weiß. Heiko Thomas von den Grünen, einer seiner Kritiker im Abgeordnetenhaus, sagt: „Er ist ein guter Kommunikator.“ Czajas Vater ist Elektriker, seine Mutter Krankenschwester. Er selbst war katholischer Messdiener, Versicherungskaufmann, arbeitete bei Gegenbauer, schaffte 2010 das Diplom in Betriebswirtschaftslehre. Mahlsdorf, wo Czaja aufwuchs, gehört zu Marzahn-Hellersdorf. Dort bekam die Linke doppelt so viele Stimmen wie die CDU. In Kneipen, beim Sport, auf Festen redeten sie lieber über Gregor Gysi als über Angela Merkel. Aber Mahlsdorf ist auch ein kleinbürgerliches Idyll. Neben Czajas Wahlkreisbüro gibt es einen winzigen Buchladen, im Café in der Nähe finden Lesungen statt. Wenn CDU im Osten, dann hier. „Mit Spreewasser getauft“, sagte CDU-Landeschef Frank Henkel einst über Czaja. Und dass jener eines der seltenen „politischen Talente“ sei. Weil Czaja die Nähe zur damaligen PDS nicht scheute, wollte ihn die Partei ausschließen. Das Verfahren endete erst, als er 1999 seinen Wahlkreis gewann.
Man kennt sich aus Mahlsdorf: Geburtstag bei Gregor Gysi
Später holte Gregor Gysi dort das Direktmandat – und war doch beeindruckt, dass einer wie er kommen musste, um Czaja zu schlagen. Der Senator spricht seitdem von „Gregor“, der ihn zu seinem 65. Geburtstag eingeladen hatte. Zur Abgeordnetenhauswahl 2011 bekam die CDU dann rund 30 Prozent, Czaja selbst fast 42 Prozent. Seitdem kennen sie ihn. Nicht weit von seinem Wahlkreisbüro stehen zwei Mütter vor einem Café: der Senator? Der sei doch – ein Lob! – von hier. Am Taxistand beim Bahnhof: Czaja? Netter Mann! Und vor dem Buchladen erklärt ein Paar: Czaja habe seine Tochter in derselben Kirche taufen lassen – und dass er zum FC Union ins Stadion gehe, finden hier alle gut. Wenn sein Plan funktioniert, wenn er die Flüchtlinge bis 2016 in Wohncontainern, Modulbauten und Mietwohnungen unterbringen kann, wird sich Czaja nicht nur in der CDU für Höheres qualifiziert haben. Selbst wenn seine Partei dem Senat dann nicht mehr angehört, hat Czaja Zeit. Doch wenn noch viel mehr Flüchtlinge kommen, wenn das Lageso tatsächlich zusammenbricht, könnten in einem Jahr ganz andere Gefahren drohen. Es könnten diejenigen den Wahlkampf dominieren, die immer schon vor Überfremdung, Chaos und schwachem Staat warnten. „Ich denke“, sagt der Sozialsenator, „ich bin der richtige Mann.“