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Ein männlicher Jugendlicher und eine weibliche Jugendliche stehen in einer Küche und kochen gemeinsam.
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Zum Denken anregen: Was gute Schulbücher auszeichnet

Modern und vielfältig: Auf der Leipziger Buchmesse wurden die Schulbücher des Jahres ausgezeichnet. Sie holen Schüler in ihrem Alltag ab, statt sich allein an der Logik des Faches zu orientieren. Doch es gibt Nachholbedarf.

Fragt man Simone Lässig nach den Schulbüchern ihrer Kindheit, schmunzelt sie. Mit den öden Bleiwüsten aus den siebziger Jahren, mit denen sie einst geschichtliche Jahreszahlen und chemische Formeln büffelte, hätten die Schulbücher von heute nichts mehr zu tun. „Moderne Schulbücher machen eindeutig mehr Lust aufs Lernen“, sagt die Direktorin des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung (GEI). Am Freitag prämierte das GEI zum vierten Mal die Schulbücher des Jahres, gemeinsam mit der Leipziger Buchmesse. Dieses Jahr wurden herausragende Bücher der Sekundarstufe I ausgezeichnet.

Doch was macht ein herausragendes Schulbuch überhaupt aus? Welche didaktischen Methoden sind heute en vogue, was gilt als absolut veraltet? Blättert man durch die farbenfrohen Seiten von „Mathe live“, Preisträger in der Kategorie MINT, erfährt man mehr: Statt typographischer Einöde in Schwarz-Weiß überwiegen bunte Bilder und übersichtliche Layout-Elemente, die den Schüler leiten.

Was kostet der Wellensichttich, wie schnell vermehrt sich das Kanninchen?

Überzeugt haben die Jury vor allem die Schülernähe des Buchkonzeptes: Im Kapitel „Rund um Haustiere“ etwa errechnen Schüler die Anschaffungskosten für einen Wellensittich – vom Messingglöckchen bis zum Vogelsand; auf der nächsten Seite potenzieren die Fünftklässler den Nachwuchs des paarungsfreudigen Wildkaninchens. Im Kapitel „Klassenkameraden besuchen“ lernen die Schüler das Koordinatensystem kennen, um sich besser am Stadtplan orientieren zu können. „In älteren Büchern wurden all diese Kenntnisse nacheinander gelernt“, sagt Simone Lässig. Moderne Schulbücher folgen aber nicht nur der Logik des Faches, sondern vor allem den Fragen der Schüler. „Sie holen Schüler in ihrer Lebenswelt ab.“

Beeindruckt hat die Jury außerdem die klar gekennzeichnete Aufgabendifferenzierung in „Mathe live“: Auf den Test-Seiten gibt es einfache, mittlere und schwierigere Aufgaben. „Das geht in Richtung Inklusion“, sagt die Expertin. Ähnlich urteilte die Jury bei „À toi!“, dem Sieger in der Kategorie Sprachen: Geschichten aus dem Alltag der Jugendlichen bieten einen einfachen Zugang zur französischen Kultur, daneben gibt es anspruchsvollere Vertiefungsaufgaben.

Der Alltag von Migranten wird noch nicht richtig abgebildet

Schulbücher sind stets auch ein Politikum. Schließlich bilden sie die Gesellschaft ab, wie sie ist, im besten Fall in all ihrer Unterschiedlichkeit und Wandelbarkeit. Die Geschlechterbilder haben sich in vielen Schulbuchtexten bereits geändert: Auch Frauen dürfen in den Textaufgaben Ingenieure sein, Männer erledigen die Einkäufe und Jungen sind nicht automatisch wild und vorlaut. Es gelinge aber noch nicht, die gesellschaftliche Vielfalt, etwa den Alltag von Familien mit Migrationsgeschichte abzubilden, sagt Lässig. Viele Autoren seien hier noch unsicher. Zwar hat sich die Namenswahl gewandelt: Waren früher Peter und Sabine die Casting-Stars der Textbeispiele, lösen Schüler in „Mathe live“ auch Aufgaben mit Ali und Aische. Doch nur selten gehen die Experimente darüber hinaus.

Lässigs Kritik verweist auf eine Studie des Georg-Eckert-Instituts, die am kommenden Dienstag in Berlin veröffentlicht wird: Für die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz hat das GEI untersucht, wie Migration und Integration in aktuellen Schulbüchern der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer dargestellt werden.

Das Schulbuch „Plan L., Leben bewusst gestalten“, Preisträger in der Kategorie Geschichte und Gesellschaft, ist auf diesem Gebiet zwar auch nicht wegweisend, ein paar Weichen wurden aber bereits gestellt. Im Buch dreht sich alles um Ernährung, Konsum und Gesundheit. Dabei achten die Autoren darauf, den Herausforderungen eines multikulturellen Klassenzimmers gerecht zu werden: Warum essen Hindus kein Rindfleisch? Welche Nahrungsmittel sind im muslimischem Glauben halal (erlaubt) oder haram (verboten)? Statt schnöder Hauswirtschaftslehre erwarten die Schüler lebensnahe Themen, die in einen globalen Zusammenhang gerückt werden: Was steckt in einem Döner? Was hat es mit veganen Schuhläden auf sich? Woher kommen meine Jeans? Das frische Layout mit den zahlreichen Fotos und gut recherchierten Infoboxen macht Lust aufs Schmökern. Die Schüler lernen, kritisch zu denken, ihre eigenen Lebensgewohnheiten zur reflektieren und Neues auszuprobieren. „Uns hat begeistert, wie toll scheinbar banale Themen aufbereitet wurden“, fasst Lässig das Urteil der Jury zusammen.

Was fehlt: Die Aufgabe, in der Herr und Herr Müller einen Fernseher kaufen

Die Themenauswahl in „Plan L.“ kommt zeitgemäß und aktuell daher. „Schulbücher müssen komprimieren und auswählen, was das relevante Wissen unserer Zeit ist“, sagt Lässig. Das sei oft gar nicht so einfach. Denn die Verlage müssen unterschiedlichen Erwartungen gerecht werden: Politiker pochen auf die Erfüllung der Lehrpläne, Wissenschaftler wünschen sich die neuesten Erkenntnisse ihres Faches, Eltern wollen bezahlbare und leichte Bücher, Schüler vor allem abwechslungsreiche Schulliteratur. In diesem Spannungsfeld müssen Verlage wirtschaftliche Entscheidungen treffen. Viel zu oft werde dabei übersehen, wie viele gute Ansätze es bereits gebe. Mit dem Schulbuch-Preis will die GEI-Direktorin zeigen, wie hoch die Qualität vieler Schulbücher in Deutschland sei – auch wenn es gerade in punkto Diversität noch Nachholbedarf gebe. Ein wenig wird es eben noch dauern, bis Schüler über einer Textaufgabe brüten, in der Herr und Herr Müller gemeinsam einen Fernseher kaufen.

Anja Reiter

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