zum Hauptinhalt
Schüler in Deutschland um 1950.
© akg-images

Geschichte von Lehrmitteln: Das Schulbuch als Politikum

Bis heute dienen Schulbücher als Instrumente nationaler Erziehung. Sie können Konflikte verschärfen oder Frieden vermitteln. Die Schulbuchrevision in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gilt international als Vorbild - doch taugt das Modell auch für die vielen aktuellen Konfliktherde?

Wer in Atlanten blättert, sucht eigentlich nach Klarheit, Orientierung und Objektivität. Doch gerade mit Karten lässt sich Politik machen. Die Methoden sind so subtil wie wirkungsvoll: Grenzen werden durch unterschiedliche Kennzeichnung in der Wahrnehmung verändert und als durchlässig oder feststehend markiert, wo sie es gar nicht (mehr) waren. Auch Farbgebungen können ein Politikum werden: Sie signalisieren Macht. Großbritannien stellte sein Empire gern in leuchtendem Rot dar – als Inszenierung einer Weltmacht. Und in den Beratungen der gemeinsamen Schulbuchkommission bemängelten polnische Teilnehmer die gelbe Färbung polnischer Gebiete in deutschen Lehrwerken der 1970er Jahre, denn die Farbe Gelb erwecke den Eindruck von Neid und Missgunst.

Der Frieden von Versailles fand sich nur unzureichend wieder

Beispiele für die Macht von Schulbuchkarten gibt es jedenfalls unzählige, über Kontinente und Zeiten hinweg. Nach dem Ersten Weltkrieg fand sich etwa der Versailler Friedensvertrag von 1919 in deutschen Schulatlanten der Weimarer Republik nur in der territorialen Farbgebung, aber nicht in der Grenzziehung wieder. Diese folgte weiter den Vorkriegsgrenzen von 1910, die polnischen Namen der Städte in den ehemals deutschen Gebieten wurden nicht erwähnt. Das hatte die preußische Schulverwaltung so erlassen. Schlagen heute indische und pakistanische Schüler in ihren Atlanten das zwischen den beiden Ländern geteilte, von beiden aber zur Gänze beanspruchte Kaschmir nach, finden sie völlig unterschiedliche Darstellungen. In einem indischen Schulbuch von 2002 erscheint Kaschmir komplett als Teil Nordindiens. Ein pakistanisches Pendant von 2005 dagegen suggeriert andersherum, die zu Indien gehörenden Provinzen der Regionen seien ein – wenngleich teils umstrittener – Teil Pakistans.

In diesem deutschen Schulatlas von 1925 findet sich der Versailler Friedensvertrag von 1919 nur in der territorialen Farbgebung, aber nicht in der roten Grenzziehung wieder: Diese folgt weiter den Vorkriegsgrenzen.
In diesem deutschen Schulatlas von 1925 findet sich der Versailler Friedensvertrag von 1919 nur in der territorialen Farbgebung, aber nicht in der roten Grenzziehung wieder: Diese folgt weiter den Vorkriegsgrenzen.
©  Westermann

Auch jenseits von Grenzziehungen steht in Schulbüchern immer wieder das Selbstverständnis von Nationen zur Debatte, wie ein Blick nach Griechenland zeigt. Dort erregte ein 2006 erschienenes Geschichtsbuch für die sechsten Klassen so sehr die Gemüter, dass es sogar Wahlkampfthema wurde. Das Buch, vom Bildungsministerium in Auftrag gegeben, verzichtete nicht nur darauf, die Türkei zum Erzfeind zu stilisieren. Vor allem wurde der Mythos der griechisch-orthodoxen Kirche als Retterin und Identitätsstifterin der Nation nicht mehr fortgeschrieben. Rechte Gruppen verbrannten das Buch öffentlich. Die Bildungsministerin verlor nach den Wahlen ihr Amt, ihr Nachfolger schaffte das Buch wieder ab.

Schulbücher als "Weapons of mass instruction"

Schulbücher sind also weit mehr als nur ein Lehrmittel – sie sind in nahezu allen politischen Systemen auch ein Politikum, auf das Nationalisten wie Pazifisten, Demokraten wie Diktatoren ihre Vorstellungen von Gesellschaft projiziert haben und immer noch projizieren. Seit der Ausformung des modernen Schulsystems im 19. Jahrhundert dienten Lehrbücher, insbesondere die für Geschichte, als bevorzugte Instrumente staatsbürgerlicher Bildung und nationaler Erziehung. Für Millionen von Menschen waren dies die ersten und oft auch die einzigen säkularen Druckwerke, mit denen sie direkt in Kontakt kamen. „Weapons of mass instruction“ (Waffen der Massenerziehung) nennt der amerikanische Historiker Charles Ingrao Schulbücher.

Denn Schulbuchwissen ist immer höchst selektiv, was vielfach bedeutet: besonders eingängig. Es ist – direkt oder indirekt – durch den Staat autorisiert und wird deshalb von den einen als ausgesprochen objektiv und relevant wahrgenommen und von den anderen aus Prinzip mit Misstrauen belegt. Vielfach spiegeln sich in Schulbüchern solche Orientierungen wider, die politische Eliten ins kulturelle Gedächtnis der Nation einschreiben wollen. In offeneren Gesellschaften reflektieren Schulbücher aber auch den Zeitgeist. Lehrbücher verweisen hier darauf, was für eine Mehrheit akzeptabel ist und was gesellschaftlich verhandelt wird. Deshalb können auch widerstreitende Positionen im Schulbuch durchscheinen.

Schon vor Ende des Zweiten Weltkriegs prüften die Alliierten deutsche Lehrmittel

Konsens gestiftet haben Geschichtsbücher ohnehin nur selten. Als Instrumente staatlicher Geschichtspolitik zeigen sie an, wo kulturelle Grenzen von Gemeinschaften gezogen werden. Daraus erwachsen nicht selten gravierende Konflikte. Andererseits sind es aber gerade diese Charakteristika und die weite Verbreitung von Schulbüchern, die bereits in der Zwischenkriegszeit die Überzeugung reifen ließen, dass Geschichtsbücher auch Verständigungsräume schaffen und damit Friedenserziehung fördern können. Und so finden sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts vielfältige Initiativen, Schulbücher zur „Versöhnung“ zu nutzen.

Ein gutes Beispiel ist die Bundesrepublik nach 1945. Bei Kriegsende waren es die Besatzungsmächte gewesen, die das Thema auf die Agenda setzten. In London hatte ein „Textbook Officer“ schon seit Oktober 1944 Schulbücher der Weimarer Republik geprüft. Für das Fach Geschichte vergebens – nicht ein einziges erhielt eine Zulassung. So unternahmen die englischen und bald auch amerikanischen Behörden erhebliche Anstrengungen, um qualifizierte deutsche Autoren mit Materialien zu versorgen, die für die Erarbeitung neuer Bücher unverzichtbar schienen. Terence Leonhardt, Leiter der Britischen „Textbook Section“ in Bünde, sah in der Schulbuchreform ein strategisch zentrales Anliegen – wichtiger noch als die Umerziehung der Lehrer. „Säubere den Text im Schulbuch“, notierte er 1948, „und alle Schulmeister werden als pflichtbewusste Männer den neuen Inhalt an ihre Schüler weitergeben!“ Und so stießen die Besatzungsbehörden – wie die Unesco in der Nachfolge des Völkerbundes – bilaterale Historiker- und Schulbuchkonferenzen an.

Was Schulbücher bei neuen Krisenherden leisten können

1949 fand das erste von mehreren britisch-deutschen Treffen in Braunschweig statt. Ein Jahr zuvor hatten sich französische und deutsche Historiker auf Anregung der Militärregierung in Speyer getroffen. Bereits 1951 erschienen gemeinsame Empfehlungen. Diese konzentrierten sich auf Themen, zu denen die Teilnehmer ähnliche und schon überwiegend europäisch ausgerichtete Positionen zu formulieren vermochten. Noch kontroverse oder gesellschaftlich beschwiegene Fragen wie Kriegsverbrechen, Judenvernichtung, Okkupation oder Kollaboration wurden zunächst ausgespart.

Die Schulbuchkommission mit Polen ging bei der Versöhnung voran

Ungleich schwieriger waren ähnliche Bemühungen mit Polen. Hier war es erst die neue Ostpolitik, die den Rahmen für eine reguläre Schulbuchkommission schuf. Gegründet wurde sie 1972. Bereits vier Jahre später publizierte sie 26 Empfehlungen zur Behandlung der deutsch-polnischen Geschichte.

Obwohl Verlage und Ministerien völlig frei waren, diese zu nutzen, entspann sich sofort eine politische Kontroverse. Gegner der Ostpolitik gifteten pauschal gegen die Empfehlungen. Ihre Befürworter lasen – oft nicht weniger undifferenziert – die Empfehlungen als direkte Fortsetzung des Kniefalls von Warschau und luden sie mit teils unrealistischen Erwartungen bezüglich „Versöhnung“ auf. Zweifellos hat die noch heute aktive Kommission erinnerungspolitische Akzente gesetzt, die die bundesrepublikanische Gesellschaft und viele Politiker erst ein Jahrzehnt später aufnahmen.

In Ostasien ist Deutschland Vorbild

Das deutsche Modell wurde auch außerhalb Europas als erfolgreich wahrgenommen. Vor allem in Ostasien, wo immer wieder Geschichtskonflikte aufflammen und historisch-geografische Darstellungen im Schulbuch zwischenstaatliche Irritationen auslösen, wo aber auch viele zivilgesellschaftliche Gruppen auf Verständigung hinarbeiten und Schulbüchern eine wichtige Rolle dafür zusprechen, fragt man sich, wie das europäische Modell der Schulbuchrevision Früchte tragen konnte.

Dabei stellt sich freilich generell die Frage, ob dieses Modell auch für jene neuen Konfliktlagen, die sich nach Ende des Kalten Krieges ausformten, funktionieren kann. Fest steht: Überall dort, wo sich – wie in vielen postsozialistischen Ländern – gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Hegemonien (abrupt) geändert haben, überall dort wurde der Ruf nach der Revision von Geschichtsbüchern besonders laut.

Auf den ersten Blick erinnerte dies an die Nachkriegssituation in Deutschland. Auf den zweiten aber wird sichtbar, dass wir es mit markant veränderten Rahmenbedingungen zu tun haben. Erinnerungskonflikte entzündeten sich seit 1990 immer häufiger zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft. Schulbuchreform bedeutete in einigen postsozialistischen Ländern eben nicht De-Nationalisierung, sondern die Wiederkehr von nationalistischen und ethnisch codierten Sichtweisen.

Was tun in Israel und Palästina?

Es ist fraglich, ob es bei solchen Rahmenbedingungen ein angemessenes Ziel sein kann, konsensuale Sichtweisen zu erarbeiten. Womöglich sollten sich Geschichtsbücher hier an dem Modell orientieren, wie es das Peace Research Institute in the Middle East in Zusammenarbeit mit dem Georg-Eckert-Institut für die Darstellung der israelischen und palästinensischen Zeitgeschichte entwickelt hat. Anders als die in beiden Gesellschaften staatlich zugelassenen Schulbücher ermöglicht dieses Lehrwerk, das zwischen 2002 und 2008 entstanden ist, den Zugang zu Sichtweisen und zentralen Deutungen der jeweils anderen Seite. „Learning each other’s historical narrative“ – das ist kein triviales Ziel, sondern die Vorbedingung jeder Friedensbildung: Schüler werden ermuntert, fremde und für sie verstörende historische Deutungen mit den eigenen, vertrauten in Beziehung zu setzen, beides kritisch zu reflektieren. Im besten Fall verstehen sie so, dass es eine absolut gesetzte historische „Wahrheit“ nicht geben kann und kein Politiker der Welt sich auf selbige berufen sollte.

Die deutsche Konstellation war für eine kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte und für Verständigung durch Schulbuchgespräche nach 1945 nahezu ideal. Besatzungspolitik und europäische Integration, politische Stabilität und soziale Sicherheit, eine zunehmend engagierte, aber wissenschaftliche Unabhängigkeit respektierende Politik und vor allem eine Bevölkerung, die zwar lange verdrängen wollte, die aber im Angesicht deutscher Vernichtungspolitik und der Shoah ein dauerhaft gebrochenes Verhältnis zur eigenen Nation entwickelte. Das gilt im Großen und Ganzen für beide deutsche Staaten wie für die neue Bundesrepublik seit 1990. Solche Bedingungen aber finden sich im internationalen Maßstab eher selten. Insofern werden Geschichtsbücher auch künftig beides sein – Konfliktgegenstand und Hoffnungsträger für alle, die Aussöhnung und Verständigung fördern wollen.

- Die Autorin ist Direktorin des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig.

Simone Lässig

Zur Startseite