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Gender gap. Viele Schülerinnen und Schüler haben Angst vor schlechten Mathe-Noten. Unter den Mädchen sind es aber noch mehr.
© Thilo Rückeis

Neues Gender-Pisa: Mathe ist „männlich“, gute Schulleistungen „weiblich“

OECD-Studie: Wie Rollenklischees Schülerinnen und Schüler daran hindern, ihre Potenziale auszuschöpfen.

Deutschland gehört international zu den Ländern, in denen Mädchen sich in Mathe deutlich weniger zutrauen als Jungen: „Ich bin einfach nicht gut in Mathe“, sagen weit mehr Mädchen in Deutschland von sich als Jungen - sogar dann, wenn sie bei Pisa so gut abschneiden wie ihre Mitschüler. Jungen in Deutschland glauben hingegen deutlich häufiger, Mathe-Aufgaben schnell begreifen zu können. Das geht aus dem ersten Bildungsbericht der OECD hervor, der sich alleine den Geschlechtern widmet. Die Studie „The ABC of Gender Equality in Education: Aptitude, Behaviour and Confidence“, in die bereits bekannte Pisa-Ergebnisse und zahlreiche andere wissenschaftliche Publikationen eingeflossen sind, wurde am Donnerstag veröffentlicht.

„Wir haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Unterschiede in der Bildung von Mädchen und Jungen, Männern und Frauen enorm verringert“, erklärte Andreas Schleicher, der OECD-Bildungsdirektor bei der Vorstellung des Berichts. „Aber wir dürfen nicht aufhören, unsere Kinder dazu zu motivieren, ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen.“ Dazu brauche es keine langwierigen Bildungsreformen. „Es reicht, wenn Eltern, Lehrer und Arbeitgeber an einem Strang ziehen.“

Mehr Mädchen als Jungen können in  Mathematik ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Im Lesen bleiben international aber mehr Jungen zurück. Auch liegt der Anteil von Jungen an der „Risikogruppe“, also an jenen Schülern, die im Lesen, Mathematik und den Naturwissenschaften nicht die niedrigste Kompetenzstufe erreichen, im OECD-Schnitt bei 14 Prozent. Mädchen sind in der „Risikogruppe“ zu neun Prozent vertreten.

Mädchen liegen in Mathe hinten - aber nicht in allen Ländern

In 38 OECD-Staaten haben Jungen beim letzten Pisa-Test im Schnitt um elf Punkte besser abgeschnitten als Mädchen. Betrachtet man nur die Gruppe der Spitzenschüler sind Jungen dort mit einem Anteil von sechs Prozent doppelt so häufig vertreten wie Mädchen. In ihrer Leistung liegen sie im Schnitt sogar um 20 Pisa-Punkte vorn. In Deutschland sind die Unterschiede geringer – der Vorsprung von 14 Punkten bei den Jungen  geht besonders auf ihr höheres Niveau in der Spitzengruppe zurück.

In den Naturwissenschaften hängt die Lage vom Land ab: In 16 Ländern liegen Mädchen im Schnitt vorn, in zehn Jungen. Ein Gender gap gibt es in den Naturwissenschaften in der Spitzengruppe: Dort schneiden die Jungen im Schnitt um elf Punkte besser ab. Anders ist es nur in Jordanien und Quatar, wo die Mädchen in der Spitzengruppe noch bessere Leistungen zeigen als die Jungen.

Dass Mädchen im Schnitt schlechtere Matheleistungen als Jungen zeigen, ist biologisch nicht zu erklären, schreiben die Forscher. Schon eine durchschnittlich gute Mathe-Schülerin in Shanghai erreicht auf der Pisa-Skala 610 Punkte – also deutlich mehr als der durchschnittliche Junge in allen anderen Ländern und genau so viel wie der durchschnittliche Junge in Shanghai. In Island bringen Mädchen bessere Matheleistungen als Jungen. Wer stark in Mathe ist, wird in Deutschland keineswegs nur vom Geschlecht beeinflusst, sondern zu 15 Prozent von der sozialen Herkunft eines Mädchens oder eines Jungen.

 Klischees führen zu fehlendem Selbstbewusstsein

Die Autoren der Studie nehmen an, dass in vielen Ländern Geschlechterklischees dazu führen, dass Mädchen weniger Vertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten haben. Viele Jungen und Mädchen berichten bei Pisa von negativen Gefühlen wie Hilflosigkeit und Stress gegenüber Mathematik. Doch sind diese Gefühle unter Mädchen noch stärker verbreitet. „Ich befürchte, dass ich schlechte Mathe-Noten bekomme“, sagen 55 Prozent der Jungen in OECD-Staaten, aber 70 Prozent der Mädchen. Sogar Schülerinnen in der Spitzengruppe berichten häufiger als Jungen, dass sie sich wenig in Mathe zutrauen.

Wiederum scheiden biologische Ursachen aus, schreiben die Forscher. Denn in neun Ländern, darunter Albanien, Bulgarien, Serbien, Rumänien und die Türkei, haben Mädchen nicht mehr Angst vor Mathe als Jungen.  In Jordanien, Katar und den Emiraten haben umgekehrt Jungen mehr Angst vor Mathe als Mädchen.

Selbstbewusste Schüler haben weniger Angst vor Fehlern

Die Forscher gehen davon aus, dass viele Mädchen sich Fehler so übel nehmen, dass sie sich unter hemmenden Leistungsdruck setzen. Selbstbewusste Schüler hätten keine Angst, Fehler zu machen und im trial-and-error-Verfahren vorzugehen.

Wie stark Rollenklischees die Leistung beeinflussen, zeigt ein Versuch mit asiatisch-amerikanischen Mädchen. Die Schülerinnen schnitten in einem Mathe-Test erfolgreicher ab, wenn man ihnen im Vorfeld gesagt hatte, es gehe darum, ethnische Unterschiede bei den Mathe-Leistungen zu ermitteln. Beflügelt von dem Stereotyp, Asiaten seien in Mathe besser als andere ethnische Gruppen, erreichten die Schülerinnen hohe Punktzahlen. Der Vergleichsgruppe asiatisch-amerikanischer Mädchen wurde gesagt, es gehe darum, Geschlechterunterschiede in der Mathe-Kompetenz zu ermitteln. Das Bewusstsein, als Frau in Mathe nicht so gut wie Männer abzuschneiden, führte zu schwächeren Ergebnissen.

 Unter den Jungen sind mehr schlechte Leser

Im OECD-Schnitt lesen Mädchen um 37 Pisa-Punkte besser als Jungen (Deutschland: 44 Punkte). In Deutschland sind Jungen auf den unteren Kompetenzstufen mit 20 Prozent vertreten, Mädchen nur mit knapp neun Prozent. Zur Spitzengruppe gehören 13 Prozent der Mädchen, aber nur gut fünf Prozent der Jungen. Seit Pisa 2000 verzeichnen die Forscher in Deutschland einen Aufwärtstrend, an dem die Jungen aber weniger stark beteiligt sind.

Zwischen Pisa 2000 und Pisa 2009 nahm in vielen OECD-Staaten der Anteil der Jugendlichen ab, die lesen, weil es ihnen Spaß macht. Aber unter den Jungen ging der Anteil noch weiter zurück. In Deutschland blieb er konstant bei etwa 45 Prozent, bei den Mädchen bei 70 Prozent.

Da Lesekompetenz aber die Schlüsselqualifikation für alle anderen Fächer ist, bringen schwache Leser oft auch schwache Leistungen in anderen Fächern.

Wie gut Jungen oder Mädchen lesen können, hängt im OECD-Schnitt aber weit stärker von dem Land ab, in dem sie zur Schule gehen als von ihrem Geschlecht, schreiben die Autoren. Zwischen den Jungen in OECD-Ländern und zwischen den Mädchen in OECD-Ländern sei die Kluft weit größer als im Schnitt zwischen Mädchen und Jungen. Jungen, die in einem bei Pisa erfolgreichen Land in die Schule gehen, können weit besser lesen als Mädchen in Ländern mit schlechteren Schulsystemen.

Erstaunlich häufig geben Jungen und Mädchen an, sie würden gerne Zeitungen lesen. Bei den Jungen sagen das OECD-weit 66 Prozent, bei den Mädchen 59 Prozent. Weit weniger werden demnach Comics gelesen (Jungen 27 Prozent, Mädchen 18 Prozent). Mehr Mädchen als Jungen sagen, dass sie Romane lesen (40 Prozent gegenüber 22 Prozent).

Warum mehr Jungen als Mädchen schlecht abschneiden

Dafür gibt es viele Ursachen, schreiben die Autoren. Jungen würden sich womöglich emotional und kognitiv langsamer entwickeln und sie seien Geschlechterklischees ausgesetzt, die für den Schulerfolg nachteilig sind. Gesellschaftliche Normen für „maskulines“ oder „feminines“ Verhalten spielten dabei eine große Rolle. Mehreren Studien nach halten es viele männliche Jugendliche für unmännlich, sich an der Schule interessiert zu zeigen und Autoritäten zu folgen. So würden Jungen im Schnitt eine Stunde weniger mit Hausarbeiten verbringen als Mädchen. Doch jede Stunde Hausarbeit pro Woche schlage sich positiv mit vier Punkten auf der Pisa-Skala im Lesen, Naturwissenschaften und Mathematik nieder. Mädchen hingegen würden in ihrer peer group auch akzeptiert, wenn sie sich in der Schule anstrengen – so lange sie in der Freizeit als „cool“ gelten.

Schüler, die bei Pisa gut abschneiden,  seien hingegen vor allem solche solche, die diszipliniert sind, sich an die Regeln halten, respektvoll mit ihren Lehrern und Mitschülern umgehen und lange ruhig sitzen können, also Schüler, die in der Lage sind, ihr Verhalten steuern zu können. Ob das gelingt, hänge von angeborenen Merkmalen wie auch von der Umwelt ab. Schüler, die stören und chaotisch sind, könnten aber davon profitieren, wenn die Lehrer die Klasse gut führen.

Lehrer würden schlechtes Betragen häufig mit schlechteren Noten und Sitzenbleiben sanktionieren. Betroffen seien vor allem Jungen. Es sei aber möglich, dass diese Strafen die Entfremdung von der Schule nur weiter verstärkten.

 Im Beruf holen Männer komplett auf

Nach der Schule ist die Welt eine andere. Der Vorsprung der Mädchen beim Lesen verschwindet im Berufsleben.  Im Erwachsenen-Pisa „Survey of Adult Skills“ ist davon unter den 16- 29 Jährigen nichts mehr zu erkennen. Die Männer lesen dann im Schnitt genauso gut oder sogar besser als Frauen. Denn unter den Berufstätigen lesen sie häufiger Fachpublikationen, schreiben häufiger Berichte und rechnen mehr als Frauen. Frauen holen Rückstände in Mathematik aus der Schulzeit im Beruf hingegen nicht mehr auf.

Frauen streben noch bei guten Schulnoten in MINT-Fächern deutlich seltener ein Studium in einem solchen Fach an als Männer (im OECD-Schnitt nur 14 Prozent, Männer 39 Prozent).

 Was geschehen muss

Die Autoren empfehlen, schwache Leser in der Schule nicht zu überfordern. Am Ende sei es besser für sie, Comics, Magazine oder Zeitungen zu lesen als gar nichts.

Um die Angst der Mädchen vor Mathe abzubauen, sollten Lehrer Situationen herstellen, in denen die Schüler ohne sanktionierende Noten üben können. Schulbücher sollten keine Geschlechterklischees transportieren. Häufig seien Männer dort als Berufstätige dargestellt, Frauen aber in häuslicher oder „romantischer“ Rolle. Lehrer müssten sich der Tatsache bewusst werden, dass sie Jungen und Mädchen womöglich unbewusst anders behandeln.

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