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Papa und Papa. In den Schulbüchern ist Familie hingegen immer hetero.
© picture alliance / PhotoAlto

Stereotype: Homos kennt die Schule nicht

Lehrbücher reproduzieren Geschlechterklischees und entwerfen eine Welt, in der es nur Heterosexuelle gibt, kritisieren Experten.

Sympathisch sieht sie aus, die gezeichnete Figur auf Seite 9 des Englisch-Schulbuchs „Notting Hill Gate 1“. Sie trägt einen weiten Pulli und robuste Stiefel, dazu einen knappen Rock und Ohrringe. In ihrer Hand hält die Figur einen Fußball, sie hat kurze orange Strubbelhaare und lacht. Das fußballbegeisterte Mädchen heißt Vanessa und ist offensichtlich ein Versuch der Autoren, die Geschlechterklischees von Jungen und Mädchen zu durchbrechen. Von diesen Versuchen gibt es in deutschen Schulbüchern nur ganz wenige. Zu wenige, meinen Erziehungswissenschaftler und Lehrer.

Schon länger haben Entwicklungsforscher erkannt, dass bereits Kinder im Vorschulalter stereotype Geschlechterbilder entwickeln, weil die Erwachsenen ihnen Rollen zuweisen. Das enge Korsett von „typisch männlichem“ und „typisch weiblichem“ Benehmen hemmt Kinder bei der Entwicklung. Es führt etwa dazu, dass Jungs seltener zu einem Buch greifen, weil Lesen ihnen als unmännlich erscheint.

Die Erziehungswissenschaftlerin Melanie Bittner hat 23 Schulbücher der Fächer Englisch und Biologie auf die Frage hin untersucht, wie dort mit Geschlechterstereotypen umgegangenen wird und welche Informationen die Bücher den Schülern zu verschiedenen sexuellen Orientierungen geben. Bittners Studie mit dem Titel „Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans und Inter (LSBTI) in Schulbüchern“ zeigt: Die gesellschaftliche Realität ist der Darstellung in Schulbüchern oft weit voraus. Fremdsprachliche Lehrbücher sind oft so aufgebaut, dass die Schüler mehrere Figuren durch ihren Alltag begleiten. Eigentlich eine gute Möglichkeit, den Horizont der Schüler zu erweitern und klarzumachen, dass es nicht nur Familien gibt, die aus Vater, Mutter und zwei Kindern bestehen, dass nicht nur Jungs gut rechnen können und nicht nur Frauen den Haushalt schmeißen.

Aber in den allermeisten Englischbüchern werden genau diese Stereotype vermittelt: So zeigt etwa „Camden Town I“ bei der Hausarbeit ausschließlich Frauen. „Regenbogenfamilien“, in denen gleichgeschlechtliche Partner Kinder großziehen, kommen gar nicht vor. Homo-, Trans- und Intersexualität sind auch in Biologiebüchern kein Thema. Die Bio-Bücher vermittelten „ein Modell, in dem es ausschließlich Frauen und Männer gibt und in dem immer klar ist, wer weiblich und wer männlich ist“. Nur ein einziges Buch, „Prisma Biologie“, erklärt in seinem Glossar den Begriff „Intersexualität“.

Die Pubertät wird in den Biologiebüchern als Lebensphase beschrieben, in der man sich aus einem gleichgeschlechtlichen Freundeskreis heraus für „das andere Geschlecht“ zu interessieren beginnt. Homosexuelle Gefühle werden, wenn überhaupt, eher als Abweichung von der Norm erwähnt. Auch wenn es um Freizeitaktivitäten geht, zementieren manche Biologiebücher Klischees. So stellt „Biologie heute entdecken“ die Frage: „Welche Spiele werden gerne von Mädchen, welche häufig von Jungen gespielt?“ Melanie Bittner ist sich sicher: Solche Fragen klären nichts, sondern verwirren die Schüler in ihrer Selbstfindung.

Wie sollten Lehrerinnen und Lehrer auf diese Befunde reagieren? Sollten sie die oft antiquierten Schulbücher aus dem Unterricht verbannen und stattdessen Materialien aus Zeitschriften und aus dem Internet verwenden? Im Alltag könnte das zu aufwendig sein, wie Marcus Schotte, Deutschdidaktiker an der Freien Universität, unlängst bei einer Diskussion zu dem Thema an der Friedrich-Ebert-Stiftung sagte. Schulbücher müssten daher sukzessive von alten Klischees befreit werden.

Ruth Schwabe von der GEW Baden-Württemberg nennt ein weiteres Argument für die Weiterentwicklung der Schulbücher: „Was zwischen zwei Buchdeckeln steht, lässt sich vor den Eltern besser legitimieren.“ Grundlage für die Schulbuchentwicklung sind die Rahmenlehrpläne der einzelnen Fächer. Darin schreiben eigentlich viele Bundesländer eine Auseinandersetzung mit Homosexualität im Unterricht vor und geben damit schon jetzt die Chance zur Verbesserung der Schulbücher.

Dennoch hängt es immer noch viel zu sehr vom Engagement der Lehrerinnen und Lehrer ab, ob Homosexualität im Unterricht thematisiert wird. Christoph R. Alms, Lehramtsstudent an der Uni Potsdam, sagt: Auch Lehrer, die nicht lesbisch oder schwul sind, müssen sich dem Thema stellen. Den Vorwurf, einige könnten sich überfordert fühlen, lässt er nicht gelten: „Ich thematisiere schließlich auch heterosexuelle Lebensformen im Unterricht – obwohl ich damit überfordert bin.“ Florian Urschel-Sochaczewski

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