„Flut von Coronavirus-Notfallpatienten“: Zerbricht es oder hält es? Das Kliniksystem steht vor seiner härtesten Probe
Die deutschen Kliniken bereiten sich auf einen Ansturm von Covid-19-Erkrankten vor. Ist der Mangel an Betten und Ärzten noch abzuwenden?
Man kann sich wundern. Während Menschen in Quarantäne gehen, wenn sie nachweislich längeren Kontakt mit einem Sars-CoV-2-Infizierten hatten, gilt dies in Krankenhäusern inzwischen nicht mehr. Der Verband der Universitätsklinika hatte schon Anfang März kritisiert, diese Quarantäne sei nicht praktikabel.
Sonst müssten ganze Abteilungen schließen und die Versorgung schwerkranker Patienten wäre nicht mehr sicherzustellen. „Das betrifft im Grunde alle Häuser“, sagt Michael Albrecht, Vorsitzender des Verbands der Universitätsklinika Deutschland. Das Uniklinikum Aachen, die Charité und Arztpraxen im besonders betroffenen Landkreis Heinsberg hatten lediglich den Anfang gemacht.
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In Wuhan waren 14 Behelfskliniken und 50.000 zusätzliche Ärzte nötig, um den Ansturm der Patienten, sowohl der Covid-19-Infizierten als auch all jener mit anderen Erkrankungen, bewältigen zu können. Diese Elastizität bräuchte auch das deutsche Krankenhauswesen jetzt. Doch darauf ist es nicht ausgerichtet. Im Gegenteil: Es wurde in den vergangenen Jahrzehnten auf wirtschaftliche Effizienz ausgerichtet.
Niemand weiß, mit wie vielen Covid-19-Patienten die Kliniken rechnen müssen
Es ist nicht auszuschließen, dass Krankenhäuser in den kommenden Wochen keine Notfallpatienten – etwa die Oma mit Schlaganfall, das kompliziert gebrochene Bein – mehr aufnehmen können, weil sie mit Covid-19-Kranken voll sind. In Italiens Kliniken gilt inzwischen die „Triage“ – Ärzte sind gezwungen auszuwählen, welche Patienten sie noch behandeln können (mehr zur „Triage“ lesen Sie hier).
Schulschließungen, Versammlungsverbote, Konzertabsagen - all diese Einschnitte ins normale Leben dienen nur dem einen Zweck: eine solche humanitäre Katastrophe zu vermeiden.
Den Erfahrungen in China und Italien nach, wissen Ärzte hierzulande, was auf sie zukommen könnte: Covid-19 verläuft bei etwa einem von fünf Patienten in einer Weise, dass er oder sie medizinische Behandlung braucht. Das kann eine Sauerstoffmaske sein, um eine ausreichende Versorgung bei Atemnot sicherzustellen, oder eine künstliche Beatmung. Sechs von achtzehn Patienten in Singapur zum Beispiel benötigten Sauerstoff. Patienten mit einer unkomplizierten Lungenentzündung lägen bisherigen Erfahrungen zufolge üblicherweise zwei, drei Wochen auf einer Intensivstation, sagt Albrecht. Kompliziertere Verläufe, die seltener sind, dauern länger.
Wann das Gros der Covid-19-Patienten in deutschen Kliniken auflaufen wird, ist offen, wie auch die Gesamtzahl. Denn die Zahl der tatsächlich Infizierten ist hierzulande unklar, weil nur sehr ausgewählte Personen – in erster Linie Erkrankte, die aus Risikogebieten kommen – getestet werden.
Hinzu kommt, dass die Symptome von Covid-19 unspezifisch sind. „Die Dunkelziffer hierzulande ist erheblich“, sagt Albrecht. Und sie schafft für das Gesundheitswesen nun Unsicherheit. „Wir wissen nicht genau, wie groß die Welle wird, auf die wir uns einstellen müssen.“
Mehr Intensivbetten als anderswo
Die gute Nachricht ist, dass Deutschland im internationalen Vergleich viele Intensivbetten hat: 28.000. Zweieinhalb Mal so viele wie Italien. Nur sind diese Betten in der Regel zu etwa 80 Prozent belegt, sagt Gesundheitsökonom Bernd Mühlbauer von der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen.
Mühlbauer warnte früh vor der Fragilität des deutschen Krankenhauswesens. Eine Ausweitung bedarf der Genehmigung und der Finanzierung seitens der Bundesländer. Kurzfristig ließen sich vielleicht ähnlich wie bei Umbaumaßnahmen Container für Intensivbetten aufstellen.
Die Charité plant gar eine Behelfsklinik mit 1000 Betten auf dem Messegelände. Und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn versprach einen Bonus für zusätzliche Intensivbett. Abteilungen, die sonst keine Intensivmedizin praktizieren, können so Betten apparativ aufrüsten und umwidmen.
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„Wir stellen uns auf eine Dreiteilung der Intensivversorgung ein – leichte, mittlere und schwere Fälle“, sagt Albrecht. „Die Herausforderung ist aber, dass wir die Patienten von Anfang an ins richtige Bett bringen müssen.“ Dafür müsse man nun in der Krise loyal und koordiniert zusammenstehen: „Es darf nicht der Tumorpatient im Intensivbett mit Beatmungsgerät liegen, während der Beatmungspatient 100 Kilometer entfernt im Bett ohne Beatmungsgerät gelandet ist. Dann liegen die Falschen am falschen Ort. Die Verteilung der Patienten ist der Schlüssel.“
Eine Herausforderung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Rettungswagen den Kranken bislang einfach ins nächstgelegene Krankenhaus fährt.
Das Personal fehlte und fehlt jetzt erst recht
Das noch größere Problem: Betten alleine reichen nicht. Es braucht Personal, um beatmungspflichtige Kranke zu versorgen – und das ist schon im Normalbetrieb viel zu knapp. Das Deutsche Krankenhausinstitut berechnete, dass 17.000 Pflegekräfte, auch auf Intensivstationen, fehlen.
„Aus diesem Grund sind in der Vergangenheit bereits Intensivbetten gesperrt worden“, sagt Albrecht. „Krankenhäuser haben sich tageweise von der Notfallversorgung abgemeldet.“ In Deutschland kommen im Schnitt 13 Patienten auf eine Pflegekraft, in den Niederlanden dagegen nur sieben. Das war vor Covid-19.
Gesundheitsminister Spahn hat im ersten Schritt die Personaluntergrenzen bis auf Weiteres ausgesetzt. Das heißt, eine Pflegekraft kann nun mehr Patienten betreuen als bisher. Außerdem sollen Kliniken auf Medizinstudierende und berentete Ärzte zurückgreifen.
Zusätzlich sollen Reservisten und Notfallsanitäter in den Bundeswehrkrankenhäusern einspringen. „Wir haben bereits die rund 2000 Medizinstudierenden an unserem Campus des Uniklinikums Dresden registriert“, so Albrecht. „Etwa hundert setzen wir schon ein.“
Auch die Lockerung der Quarantäneauflagen für medizinisches Personal soll die Personalsituation verbessern. „Aber darin liegt eine große Gefahr“, sagt Mühlbauer. Obwohl sie regelmäßig getestet werden sollen, steigt das Infektionsrisiko für Ärzte und Pflegekräfte.
Bis eine Infektion erkannt ist, besteht die Gefahr, Kollegen und Patienten anzustecken. „Wenn das Krankenhaus eigene Laborkapazitäten hat – die wir aktuell ausweiten – dauert es sechs bis sieben Stunden, bis der Befund da ist“, so Albrecht.
Operationen werden verschoben
Das Infektionsrisiko steigt auch durch den Mangel an Schutzmasken und -anzügen. In einer Klinikkette wurde die Weisung erteilt, diese während der Schicht mehrmals zu benutzen, um den Verbrauch herabzusetzen. Das ist unter bestimmten Umständen – gleicher Träger, trockene Aufbewahrung an der Luft – möglich und entsprechend der technischen Regeln sicher. Gewöhnlich müsste aber jede Maske nach jedem Kontakt mit einem Infizierten entsorgt werden.
Derweil dreht man aktuell an einer anderen Schraube des Gesundheitswesens, wie es auch Italiens Kliniken vor rund drei Wochen getan haben. Patienten, die zu einer geplanten OP kommen, müssen bis auf unbestimmte Zeit warten. Die neue Hüfte, das neue Knie, die Gebärmutterentfernung – diese OPs gibt es nicht mehr. Das schafft Kapazitäten. Einerseits.
Andererseits gefährdet es die Wirtschaftlichkeit der Kliniken, die auf die Eingriffe angewiesen sind, um schwarze Zahlen zu schreiben. Operationssäle sind sonst dicht belegt, um maximale Vergütung zu erzielen. 90 Prozent aller Chefarztverträge in hiesigen Krankenhäusern sehen Boni vor, wenn OP-Zielvorgaben eingehalten werden.
Kann so ein System auf Massen von Covid-19–Patienten umstellen, die vergleichsweise wenig lukrativ sind? „Die Krankenkassen müssten ein Zeichen setzen, dass für Covid-19-Patienten eine etwas höhere Fallpauschale abrechenbar ist, auch für Schutzausrüstung“, sagt Mühlbauer. „Die halten aber alle still. Es ist unerträglich.“
Für den Notfall vorsorgen
Politisch bräuchte es ein klares Signal, dass Covid-19-Patienten selbstverständlich auch leerstehende Betten für Privatpatienten zustehen. Albrecht verteidigt zwar die Ärzte: „Die Loyalität, die Krise zu meistern, ist momentan groß, aber wenn kleinere Häuser nun keine Einnahmen aus elektiven Eingriffen erzielen, haben sie in kurzer Zeit, das kann zwei Wochen heißen, Liquiditätsprobleme.“
Zwar stellt Bundesgesundheitsminister Spahn den Kliniken finanzielle Kompensationen in Aussicht, aber es ist völlig offen, ob das reichen wird. „Es mangelt an Weitsicht und Nachdenken“, klagt Mühlbauer. „Das Gesundheitssystem dient der Daseinsvorsorge. Es müsste immer für solche Fälle gewappnet sein.“
Wie auch immer die Kliniken mit der „Flut von Notfallpatienten“ umgehen werden, sagt Albrecht, es werde auf jeden Fall die Zeit fehlen, „Patienten und Angehörige nach ihren Wünschen zu befragen“. Ein Arzt aus einem deutschen Klinikum, der anonym bleiben will, plädiert daher für „Advanced Care Planning“.
Die Patienten sollten vorab in einer Notfallpatientenverfügungen festlegen, ob sie überhaupt ins Krankenhaus oder nur eine lindernde Therapie wollen, und ob sie im Krankenhaus nur Intensivtherapie oder die Maximalversorgung, also auch Beatmung, wollen.
„Wir wissen, dass bei Beatmung über zehn Tage insbesondere ältere Betroffene mit Tod oder Schwerbehinderung nach längerer leidvoller Intensivtherapie rechnen müssen“, so der Arzt. Solche Verfügungen würden schon kursieren und am besten sollten sie Hochbetagte bei sich tragen, wenn sie positiv getestet wurden.
„Wenn wir das jetzt zeitnah einführen, können wir die schlimme Altersdiskriminierung wie in Italien vermeiden, die ansonsten mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf uns zukommt.“
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