Neuer Ansatz in der Tumortherapie: Steckbrief für die Krebsabwehr
Das Erbgutmolekül RNS könnte künftig Tumorpatienten eine persönliche Therapie ermöglichen.
Seit Krebsforscher das Erbgut von Tumorzellen entziffern können, wissen sie: Jeder Krebspatient hat seinen ganz eigenen, individuellen Tumor. So wie der Steckbrief eines Bösewichts Narben und andere Merkmale hervorhebt, so zeichnen Tausende von Mutationen im Erbgut von Krebszellen das einzigartige Profil des Tumors eines Patienten. Doch bislang konzentrierten sich Krebsforscher auf jenen Bruchteil von Gendefekten, der in den Geschwulsten der meisten Krebspatienten identisch ist – um ein Medikament zu finden, das möglichst vielen Tumorpatienten hilft.
Jedem seine eigene Tumortherapie
Ugur Sahin hält das für den falschen Weg. Er dreht den Spieß um. „Anstatt eine Therapie zu suchen, die für alle passt, entwickeln wir für jeden Patienten eine auf seinen Tumor zugeschnittene Behandlung“, sagt Sahin. Der Forscher an der Universität Mainz präsentiert dem Immunsystem eines Patienten einen Steckbrief mit den hervorstechendsten Absonderlichkeiten seines Tumors und hetzt es damit auf die wuchernden Zellen. Dafür verwendet er ein Molekül, das bislang im Schatten der Desoxyribonukleinsäure (DNS) und jetzt im Mittelpunkt einer Konferenz in Berlin stand: RNS.
Ribonukleinsäure, die chemische Verwandte des Erbgutmoleküls DNS, wurde von Molekularbiologen jahrzehntelang nicht ganz für voll genommen. Nachdem in den 1950er und ’60er Jahren der Erbgutcode entschlüsselt wurde, galt RNS nur als langweiliger Zwischenschritt der Übersetzung von Geninformation in Eiweiße. Beim Abschreiben der Gene entsteht „Boten-RNS“, die ins Zellplasma wandert und dort als Bauplan für die Konstruktion der Proteine dient. Im Labor ließen sich die empfindlichen Nukleinsäuren nur schwer untersuchen und mühsam handhaben. Viel einfacher waren die Geheimnisse der robusteren DNS zu enträtseln.
Doch Ende der 1990er stellte sich heraus, dass den Genforschern ein ganzes Universum von RNS-Molekülen unterschiedlicher Größe und Funktion entgangen war, ja dass RNS in der Evolution des Lebens womöglich lange vor DNS als Erbgutmolekül existierte. Immerhin wurde die Entdeckung kurzer RNS-Moleküle (siRNA) 2006 mit dem Nobelpreis belohnt. Doch nur wenige Forscher sahen sich die dröge Boten-RNS noch einmal genauer an. Was sie entdeckten, könnte sich in den nächsten Jahren sowohl für Krebspatienten lohnen als auch eine schnellere Produktion von Impfstoffen ermöglichen.
RNS zeichnet einen Steckbrief des Tumors
„Wenn wir RNS-Moleküle spritzen, gaukeln wir dem Körper eine Infektion vor“, sagt Sahin. Das Erbmaterial vieler Viren besteht aus RNS-Molekülen und wenn plötzlich viele davon im Blut auftauchen, ist das allein schon Signal genug, um das Immunsystem zu mobilisieren. Sahin spritzt aber nicht irgendwelche RNS-Moleküle. Er wählt eine Bausteinabfolge, wie sie für die Mutationen in den Krebszellen des Patienten charakteristisch sind. Dafür wird zuvor sowohl das Erbgut gesunder als auch kranker Zellen des Patienten entziffert und verglichen. Mehrere tausend Mutationen findet der Computer bei einer solchen Analyse. Etwa 500 davon liegen in Genen, die für den Aufbau des Tumors eine Rolle spielen. Rund 50 mutierte Genabschnitte wählt Sahin aus, macht RNS-Abschriften und spritzt sie den Patienten in die Lymphknoten.
Angesichts der RNS-Flut schlagen bestimmte Immunzellen (Dendriten) sofort Alarm. Außerdem schlucken sie die RNS und übersetzen sie in Proteinstücke, die sie dann auf ihrer Zelloberfläche anderen Immunzellen, den T-Zellen, präsentieren. „Das wirkt dann wie ein Steckbrief, auf dem das Profil der Krebszellen dieses Patienten abgebildet ist“, sagt Sahin. Mithilfe des Steckbriefs können die T-Zellen die Krebszellen erkennen und bekämpfen – eine Fähigkeit, die Krebspatienten verloren haben. „Krebszellen sind körpereigene Zellen, deshalb reagiert das Immunsystem normalerweise sehr schwach gegen körpereigene Strukturen“, sagt Sahin.
Wirksamkeitsnachweis nicht vor 2018
Das Therapieprinzip, das Sahin in der von ihm gegründeten Mainzer Biotechfirma Biontech entwickelt, funktioniert. Im Frühjahr erst berichtete Sahin im Fachblatt „Nature“, dass 60 Prozent der so behandelten Mäuse eine künstlich erzeugte Krebserkrankung 100 Tage und mehr überleben – unbehandelte starben nach 70 Tagen. Die weltweit ersten Tests der Therapie bei zehn Patienten mit fortgeschrittenem Hautkrebs machen Sahin ebenfalls zuversichtlich. „Wir wissen, dass der Impfmechanismus funktioniert und dass wir Immunzellen anregen können, Tumorzellen zu erkennen, zu attackieren und abzutöten.“ Bei einer 75-jährigen Patientin sei sogar eine Rückbildung von Metastasen beobachtet worden. „Aber einen Wirksamkeitsnachweis haben wir erst, wenn wir in einer kontrollierten Studie einen statistischen Unterschied im Überleben der Patienten beobachten, die den Impfstoff bekommen haben“, betont Sahin. Damit sei nicht vor 2018 zu rechnen.
Nennenswerte Nebenwirkungen traten bei Sahins Therapieversuch nicht auf. Doch so wie die Wirkung statistisch noch nicht gesichert ist, können auch unerwünschte Reaktionen erst in größeren Studien mit mehr Patienten ausgeschlossen werden. Eine Gefahr ist, dass die RNS-Moleküle eine zu starke Immunantwort auslösen oder die Körperabwehr gar gegen normale Zellen vorgeht. „Wir achten darauf, dass keine überschießende, sondern nur eine angemessene Immunantwort ausgelöst wird“, sagt der Forscher.
Neuland für die Zulassungsbehörden
Für die Arzneimittelbehörden ist der Therapieansatz Neuland. Denn anders als üblich entwickelt Biontech für jeden Patienten ein neues Medikament. Das bedeutet, der RNS-Molekülmix ist bei jedem Patienten anders, sodass auch Nutzen und Risiken variieren könnten. Entsprechend vorsichtig agieren die Zulassungsbehörden. „Wir haben bestimmte Vorgaben zu erfüllen, und das kostet Zeit“, sagt Sahin. Drei Monate dauerte deshalb die Herstellung der je acht Spritzen für eine individuelle RNS-Krebstherapie. Bei den Mäusen dauerte die Prozedur nur zwei Wochen. „Das wird auch irgendwann beim Menschen möglich sein.“ Auch der Preis, bislang etwa 200 000 Euro pro Patient, soll noch sinken.
Biontech ist nicht die einzige Biotechfirma, die Boten-RNS als Wirkstoff entdeckt hat. Eine der ersten Firmen war die Tübinger Curevac, die bereits in einer Phase-II-Studie an 44 Patienten Boten-RNS testet, die das Immunsystem gegen Prostatakrebs mobil machen soll.
Neue Impfstoffe schon nach sechs Wochen
Doch nicht nur Krebs haben die RNS-Spezialisten im Visier. Weil RNS das Immunsystem so gut mobilisiert, eignet es sich auch als Impfstoff gegen Grippe, Tollwut, Ebola oder andere Infektionskrankheiten. Dabei wird der RNS-Bauplan eines Virus- oder Bakterien-Proteins gespritzt, die Dendriten übersetzen es im Körper und zetteln eine Immunreaktion an. Der Vorteil ist, dass sich RNS-Moleküle viel schneller herstellen lassen und selbst unter widrigen Klimabedingungen in Afrika haltbarer sind als bisherige Impfstoffe. Innerhalb von etwa sechs Wochen ließen sich zum Beispiel Millionen Dosen Impfstoff gegen eine neue Influenza-Variante herstellen, sagt Ingmar Hoerr, Gründer und Forschungschef von Curevac. Derzeit dauert der Prozess noch ein halbes Jahr, weil die Viren erst in Hühnereiern gezüchtet werden müssen. „Wir brauchen hingegen nur die Erbgutsequenz des neuen Virus“, sagt Hoerr. Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung unterstützt die Entwicklung von RNA-Impfstoffen seit März mit 45 Millionen Dollar, wie auch Iavi, die Internationale Aids Vakzine Initiative.
Sahins Biontech ist vor Kurzem eine 60-Millionen-Euro-Kooperation mit dem deutsch-französischen Pharmakonzern Sanofi eingegangen. „Ich bin davon überzeugt, dass in zwanzig Jahren 25 bis 30 Prozent aller Biotechnologie-Produkte RNS-Wirkstoffe enthalten werden“, sagt Sahin. So denken nicht viele – die RNS-Therapie ist weit davon entfernt, so überschwänglich umjubelt zu werden wie einst die Gen- oder Stammzelltherapie. Sahin stört das nicht. „So können wir in Ruhe entwickeln und müssen keine unerfüllbaren Versprechen machen.“