Nervenkrankheit Huntington: Wie die Medizin gegen das langsame Absterben des Gehirns kämpft
Wegen einer defekten Erbanlage vergiftet der Körper das Gehirn. Nun scheint die erste Therapie gegen die bislang unheilbare Huntington-Krankheit erfolgreich zu sein.
Dreißig, vierzig Jahre lang läuft alles normal. Dann zuckt ein Armmuskel, ein Bein macht unwillkürlich einen Schritt, das Gesicht zieht plötzlich eine Grimasse. Langsam entgleitet die Kontrolle über den eigenen Körper, die Gefühle verselbständigen sich, das Gedächtnis schwindet und macht Wahnvorstellungen Platz. Die Persönlichkeit verliert sich. Geistesabwesend, jeder Kontrolle von Sprache, Gestik und Mimik beraubt, von mitunter stundenlangen Krampfanfällen geschwächt und kaum noch zu so essentiellen Bewegungen wie dem Schlucken fähig, sterben die Patienten nach etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren Martyriums. Die Angehörigen sehen es und wissen: Das könnte bald ich sein.
Chorea Huntington (Veitstanz) ist ein seltenes Nervenleiden. Für die betroffenen Familien dagegen ist es allgegenwärtig. Der Großvater verstirbt, drei seiner Söhne erkranken. Dann wird seine Tochter von einem Polizisten auf der Straße angeblafft. Sie solle sich schämen, so früh am Morgen betrunken zu sein! Für die Frau bricht in diesem Moment eine Welt zusammen. Sie ist über die Kreuzung gewankt und hat nicht bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ein erstes Anzeichen der Krankheit.
Das war in den 1960er Jahren. Die Frau war die Mutter von Nancy Wexler. Die Wissenschaftlerin von der Columbia-Universität in New York trieb seitdem nur ein Ziel an: Sie wollte Gewissheit, einen Test. Jahrzehnte fahndete sie nach der genetischen Ursache, scharte 58 internationale Forscher um sich. 1993 konnte das Team das Ergebnis verkünden: Es ist eine Mutation im Huntington-Gen auf dem Chromosom 4.
Bei etwa zehn Prozent der rund 30.000 Patienten in Europa entsteht diese Veränderung spontan neu. Bei den meisten jedoch wird sie von einem Elternteil vererbt, was unweigerlich zur Erkrankung führt. Denn den Defekt kann nicht einmal eine gesunde Version des Gens vom anderen Elternteil ausgleichen. Zwar können Ärzte ihn dank Wexler per Gentest schon vor dem Ausbruch der Krankheit feststellen. Heilen oder aufhalten lässt sich der Zerfall des Gehirns bis heute nicht.
Die Schwestern wählten die Ungewissheit
Viele Nachkommen von Huntington- Opfern verzichten daher auf den Test. Sie wollen das Leben lieber leben, als am Unaufhaltsamen zu verzweifeln. Auch Nancy Wexler und ihre Schwester entschieden sich dagegen. „Unser Vater sagte zu uns: Ich weiß nicht, was ich von dem Test halten soll. Es wäre tragisch, euch so zu verlieren“, erzählte sie dem amerikanischen Radiosender NPR. „Das traf uns wie ein Donnerschlag. Wir wollten unbedingt wissen, dass wir die Krankheit nicht haben. Aber was, wenn doch?“ Es sei ein Unterschied, ständig über Huntington nachzudenken oder sein unvermeidliches Schicksal zu kennen. Eine der großen Erfolgsgeschichten der Genforschung war für ihr eigenes Leben nicht mehr viel wert. Die Schwestern wählten die Ungewissheit. Sie blieben vorsichtshalber kinderlos.
Diese Abwägung könnte sich nun ändern. Erstmals haben Huntington-Betroffene Anlass zur Hoffnung. Seit 2015 wurden insgesamt 46 Patienten mit einem experimentellen Medikament (Ionis-HTTRx) behandelt. Jetzt, im Dezember 2017, hat die Leiterin der Studie, Sarah Tabrizi vom University College in London, gegenüber der britischen Presse erklärt, dass die Resultate der neuartigen Therapie besser als alles seien, was sie sich erhofft habe. Trotzdem es sich nur um eine Phase-I-Studie handelt, die nur die Sicherheit der Therapie abklären sollte, und obwohl eine begutachtete Veröffentlichung erst noch für das kommende Jahr ansteht, sagt Tabrizi: "Zum ersten Mal besteht die Möglichkeit, dass wir eine Therapie haben, die die Huntington-Krankheit verzögert oder sogar verhindert."
Neben Briten und Kanadiern nahmen vor allem deutsche Patienten an der Studie der kalifornischen Biotechfirma „Ionis Pharmaceuticals“ (früher Isis) und der Schweizer Pharmafirma Roche teil. „Ulm ist die Zentrale des Europäischen Huntington-Netzwerks“, sagt Bernhard Landwehrmeyer von der Poliklinik für Neurologie der Universität Ulm. Rund ein Drittel aller Patienten in Europa würden dort betreut. Zusammen mit der Bochumer Universitätsklinik, der ältesten Huntington-Spezialklinik in Deutschland, seien hier die nötigen Strukturen für Studien geschaffen worden.
Huntington sei die heilbarste der unheilbaren neurodegenerativen Erkrankungen, sagt der Neurologe, der seit 15 Jahren nach einer Huntington-Therapie sucht. Man kenne die genetische Grundlage sehr gut. Die Krankheit entsteht, weil die Zelle beim Kopieren des Erbguts beim Huntington-Gen ins Stottern gerät. Dort gibt es eine Abfolge von drei DNS-Bausteinen, die bei den meisten Menschen bis zu 20 Mal wiederholt wird: CAG, also Cytosin, Adenin, Guanin. Durch das Stottern des Kopiermechanismus’ können es mehr werden. Ab 36 Wiederholungen bricht die Krankheit aus. Je mehr CAGs, umso früher im Leben.
Die giftige Variante des Eiweißes stoppen
Denn das Huntington-Gen wird in ein für Nervenzellen wichtiges Eiweiß übersetzt, das Huntingtin. Die vielen CAG-Wiederholungen verändern es jedoch so stark, dass das nützliche Protein plötzlich giftig wird. Es ist zu groß, verklumpt. Mit verheerenden Folgen im Gehirn, vor allem in einer Region namens Striatum (Streifenkörper). Das Striatum befähigt zu koordinierten Bewegungen, indem er Impulse anderer Hirnregionen auf die Bewegungszentren dämpft. Bei Huntington-Patienten fällt die Dämpfung weg, wenn diese Nervenzellen absterben. Die Muskeln zucken unwillkürlich.
Wer Huntington heilen will, muss daher verhindern, dass immer mehr giftige Varianten des Eiweißes gebildet werden. Kaum war die genetische Ursache der Chorea Huntington bekannt, schlugen Forscher daher vor, die Übersetzung des defekten Huntington-Gens zu stoppen. Mit „Antisense“-Molekülen wollten sie die Abschriften des Gens, die Huntington-RNS, abfangen. Die Antisense-Moleküle sind so gebaut, dass sie eine spiegelbildliche Abfolge von Erbgutbausteinen zur Huntington-RNS haben. Sie kleben sich daran fest. Und ohne RNS kein Bauplan für das Eiweiß Huntingtin.
Bei ALS funktionierte es nicht. Doch Huntington ist anders
Es gibt nur einen Haken: Der Wirkstoff von Ionis heftet sich sowohl an mutierte als auch an normale Huntington-RNS an. „Beide enthalten die CAG-Wiederholungen“, sagt Patrick Weydt, Landwehrmeyers Mitarbeiter in Ulm. „Und die Antisense-Moleküle sind zu kurz, um zwischen defekter und normaler RNS unterscheiden zu können.“ Für die Behandlung mache das wahrscheinlich keinen Unterschied. Zwar können die Nervenzellen auf das normale Huntingtin nicht verzichten. Doch die Antisense-Moleküle können bestenfalls die Hälfte der Huntington-Übersetzungen verhindern. Damit bleibe zum einen genug normales Huntingtin übrig. Zum anderen werde genug giftiges Huntingtin verhindert.
Ist der Wirkstoff sicher?
Soweit die Theorie, die Praxis ist noch nicht so weit. Und die Patienten wissen, dass sie nicht mit einer unmittelbaren Wirkung rechnen können. „Diese Studie soll zuerst feststellen, ob die Antisense-Wirkstoffe sicher und verträglich sind“, betont Landwehrmeyer. Unterschiedliche Gruppen von Patienten bekommen daher jeweils eine andere Dosis. Einige erhalten gar kein Medikament, damit die Forscher mögliche Nebenwirkungen der Spritze ins Rückenmark (Lumbalpunktion) von denen des Medikaments unterscheiden können. „Der Wirkstoff besteht aus Erbgutbausteinen, die chemisch haltbarer gemacht wurden“, sagt er. Das sei für den Körper ein fremder Stoff. „Wir können nicht ausschließen, dass das Immunsystem einzelner Menschen darauf reagiert. Obwohl das bei den Versuchstieren ausblieb.“
Deshalb werden nur Patienten behandelt, die sich in einer frühen Krankheitsphase befinden. Sie können noch beurteilen, auf welches Risiko sie sich einlassen. Zusätzlich werde die Therapie mit Aufnahmen im Magnetresonanztomographen überwacht. Die Forscher wollen sicher sein, dass es durch die Therapie nicht zu Entzündungsreaktionen im Rückenmark kommt. „Dafür müssen die Patienten in der Lage sein, ruhig liegen zu bleiben“, sagt Landwehrmeyer.
Hinweise, dass die Antisense-Methode sicher und verträglich ist, gibt es nicht nur aus Experimenten mit Mäusen und Rhesusaffen. Antisense-Wirkstoffe wurden bereits bei rund 100 Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) eingesetzt, jener hirnzerstörenden Krankheit, an der der britische Physiker Steven Hawking erkrankt ist. Auch hier produziert die Zelle fehlerhafte Proteine, deren Nachbildung blockiert werden soll. Doch wahrscheinlich wird ALS nicht allein durch ein Eiweiß ausgelöst; die Therapieversuche hatten bislang keinen durchschlagenden Erfolg. Huntington dagegen ist eine Erkrankung, der ein einziger Gendefekt zugrunde liegt.
Behandeln, bevor es zu Schädigungen kommt
„Die Wirkung auf den Krankheitsverlauf hängt davon ab, welche Teile des Gehirns das Mittel erreicht“, sagt Landwehrmeyer. Rückenmark, Hirnstamm und -rinde sollten von den Antisense-Molekülen durchsetzt werden. „Alle Symptome, die auf eine Beeinträchtigung dieser Bereiche zurückzuführen sind, könnten sich bessern.“ Unsicher ist er, ob es das Mittel bis zu den Basalganglien schafft, jenen tief im Gehirn gelegenen Kernen, die die Willkürmotorik steuern. Sie sind bei Huntington besonders gefährdet.
„Von den Versuchen mit Nagern wissen wir, dass es etwa vier bis sechs Wochen dauert, bis die Antisense-Moleküle richtig wirken", sagt Landwehrmeyer. Dann halte die Wirkung aber etwa vier Monate an. Das Mittel wäre also einmal im Vierteljahr nötig. Über einen Preis denke noch niemand nach. Er werde sicher hoch sein, meint der Arzt. „Das ist gerechtfertigt. Schließlich reißt Huntington die Menschen aus der Blüte ihrer Arbeitsfähigkeit und zerstört mitunter ganze Familien.“
Es gibt derzeit noch andere vielversprechende Wirkstoffe. Laquinimod, Pridopinin und PF-02545920, ein Wirkstoff der Firma Pfizer, können zumindest die Symptome lindern, sagt der Neurologe. Das Pfizer-Mittel beispielsweise hemme das Enzym Phosphodiesterase 10, das bei Huntington-Patienten zu aktiv ist und deshalb überschießende Nervenzellimpulse auslöst. „Wenn sie funktionieren, könnten wir sie mit der ursächlichen Antisense-Therapie kombinieren.“ Ob sich die Huntington-Schäden im Gehirn, die sich über Jahrzehnte angehäuft haben, mit einem Wirkstoffcocktail rückgängig machen lassen, weiß der Arzt nicht. „Bei Huntington-Mäusen bilden sich die Symptome teilweise zurück, sowohl im Verhalten als auch auf Ebene der Nervenzellschäden.“ Er hofft, dass das beim Menschen ähnlich ist.
Eine Antisense-Therapie würde am ehesten jenen Patienten nützen, die noch gesund sind. „Etwa zehn Jahre vor dem Ausbruch der Krankheit mit Mitte 40 kommt es zu ersten Schädigungen im Gehirn“, sagt Landwehrmeyer. „Das wäre ein guter Zeitpunkt für den Beginn einer Therapie.“ Mit dieser Perspektive wäre auch Wexlers Gentest für die betroffenen Familien endlich sinnvoll.