Appell von Bildungsforschern: Schulschließungen wegen Corona ja, Unterrichtsausfall nein!
Die Corona-Krise ist eine Chance für mehr digitales Lernen und bessere Elternarbeit. Deutschland darf sie jetzt nicht verpassen, schreiben unsere Gastautoren.
Die 16 Bundesländer haben beschlossen, ihre Kitas und Schulen zunächst bis zu den Osterferien zu schließen. Wie es danach weitergeht, kann heute niemand voraussagen. Vorsichtshalber sollten alle Akteure davon ausgehen, dass der Schulbetrieb sich auch Ende April nicht normalisiert hat, ja möglicherweise die Schulen noch weiter geschlossen bleiben müssen.
Epidemiologen bezeichnen Schulschließungen als einen unangenehmen „Kollateralschaden“, der bei der Bekämpfung der Ausbreitung des Corona-Virus absolut unvermeidbar und notwendig sei. Ihre Argumente sind überzeugend: In den Schulen finden tagtäglich Hunderte und Tausende von Sozialkontakten auf engstem Raum statt, die einer unkontrollierten Ausbreitung des Virus Tür und Tor öffnen.
Deswegen müssen die Schließungen hingenommen werden, obwohl die sozialen und wirtschaftlichen Kosten von unvorstellbarer Höhe sind. Wie hoch – das kann zurzeit niemand sagen. Aber grob abschätzen lässt sich der Schaden bereits.
Sozial: Pro Woche fallen Bildungsprozesse für elf Millionen Schülerinnen und Schüler aus. Die Kinder und Jugendlichen verlieren jedwede zeitliche Tagesstruktur, viele von ihnen rutschen in passiven Medienkonsum ab, viele verlieren ihren Arbeitsrhythmus und werden des Lernens entwöhnt. Zusätzlich werden mit Sicherheit auch Familienkonflikte und -spannungen erheblich zunehmen, zumal das Ganze in einer psychisch angespannten, für alle unberechenbaren Atmosphäre stattfindet.
Ökonomisch: Wenn man einmal annimmt, dass berufstätige Eltern ihre beruflichen Leistungen pro Woche um 25 Prozent einschränken müssen, weil sie ihre Kinder zuhause beaufsichtigen und anleiten, entsteht ein Schaden von 16,5 Mrd. Euro pro Woche. Bis Ende April würden sich die Kosten auf über 100 Milliarden Euro belaufen.
Aber wo steht geschrieben, dass Schulschließungen automatisch auch einen Unterrichtsausfall bedeuten müssen? Und gibt es nicht die Möglichkeit, den Kollateralschaden in Grenzen zu halten oder ihm sogar in einigen Bereichen einen „Kollateralnutzen“ abzugewinnen?
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Es wäre mehr als fahrlässig, die kommenden Wochen der Schulschließung als verlängerte Ferien anzusehen und keinerlei Lernangebote zu unterbreiten. Nicht nachvollziehbar wäre, die 820.000 Lehrerinnen und Lehrer, die im Laufe der Woche keinen Präsenzunterricht mehr geben können, in die Passivität zu schicken.
Wenn diese bisher unvergleichbare Krise für das deutsche Bildungssystem einen Vorteil hat, dann diesen: Es besteht die Gelegenheit, den Wert von Bildung und die Rolle des Lehrerberufs in einer modernen Gesellschaft neu zu bedenken und dabei zwei der größten Schwachpunkte der bisherigen pädagogischen Arbeit zu beheben: Erstens die unzureichende Umstellung der Lernprozesse auf digitale Muster und zweitens die unbefriedigende Kooperation zwischen den professionell ausgebildeten Lehrkräften und den Eltern.
[Über unsere Gastautoren: Dieter Dohmen ist Inhaber und Direktor des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie in Berlin. Klaus Hurrelmann ist Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School, University of Governance in Berlin.]
Müssen Schulen schließen, heißt das noch lange nicht, dass kein Unterricht mehr stattfindet. Gute Schulen haben schon immer darauf geachtet, den Schülern Impulse mitzugeben, die sie außerhalb der Schule vertiefen können. Im digitalen Zeitalter ist das noch einfacher geworden.
Verfügen Schulen über eine ausreichende und funktionierende Infrastruktur, können sie den Unterricht auf eine Lernplattform oder eine App verlagern. Die Schule bleibt geschlossen, aber der Unterricht geht weiter. Die Schüler arbeiten ebenso wie die Lehrer zuhause: neudeutsch home work die einen, home office die anderen.
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Schulschließungen ja, aber Unterrichtsausfall nein – das ist jetzt das Motto der Stunde. Bisher dürfte es in Deutschland aber nur eine kleine Minderheit von zehn oder fünfzehn Prozent der Schulen sein, die dieses Motto umsetzen können.
Die riesige Mehrzahl der Schulen ist weit davon entfernt, den Anforderungen eines Tele-Unterrichts zu genügen – schon gar nicht im Hochlastbetrieb und zu Prüfungszeiten, wie sie gerade anstehen. Das gilt auch für die vielen landesweiten Lernplattformen. Es gibt sie fast 16 Mal, aber ihre Leistungs- und Funktionsfähigkeit ist sehr unterschiedlich und zum Teil auch einfach ungenügend.
Es reicht jetzt nicht mehr, eine Plattform zu haben, sondern sie muss bestimmte Bedingungen erfüllen. Jetzt geht es ums Funktionieren im Real-Betrieb. Zudem erfordert selbst die Nutzung übergreifender Plattformen – von wem auch immer sie entwickelt wurden – eine leistungsfähige IT-Infrastruktur.
[Pädagogik-Professorin Birgit Eickelmann gibt im Interview Tipps, wie Lehrkräfte auch niedrigschwellig weiter unterrichten können]
Das alles wurde in Deutschland in den vergangenen Jahren – genau genommen schon seit Anfang des Jahrtausends – verschlafen. Und das rächt sich nun bitter.
Der vielbeschworene Digitalpakt zwischen Bund und Ländern soll hier zwar grundsätzlich ansetzen, aber seine Finanzausstattung ist unzureichend und der Mittelabfluss bisher viel zu gering. Die Gründe sind seit über eineinhalb Jahren bekannt: Der Beantragungsprozess ist zu voraussetzungsvoll und bürokratisch.
Schüler müssen Digitalisierungs-Krise ausbaden
Insbesondere die Anforderung, dass die Schule ein fertiges Medienkonzept vorlegen muss, um die Förderung erhalten zu können, ist schlicht kontraproduktiv. Dies alles hat dazu geführt, dass viel Zeit ins Land gegangen ist, ohne dass die Schulen auch nur einen Schritt bei der Anschaffung der IT-Infrastruktur weitergekommen sind.
Bisher sind kaum Mittel aus dem Digitalpakt abgeflossen. Das ist der jetzigen kritischen Situation ein unhaltbarer Zustand. Es sollten jetzt sofort – länderübergreifend –Vereinfachungen und Standardisierungen des Antragsverfahrens erfolgen. Notfalls müssen den Behörden und Schulen professionelle Agenturen zur Seite gestellt werden.
Es braucht keine Antragslyrik für die Bewilligung der Mittel, sondern konkrete Schritte zur Beschaffung der IT. Allen unseren europäischen Nachbarländern ist es gelungen, die Schulen mit Server, WLAN, PCs oder Laptops auszurüsten. Wir hinken da mächtig hinterher. Den italienischen Schulen ist es in nur einer Woche gelungen, auf digitalisiertes beziehungsweise Online-Lernen umzustellen.
Das müssen die Schülerinnen und Schüler in Deutschland nun in der Krise ausbaden. Sicher, einzelne Schulen zeigen ihren guten Willen und versuchen, mit Hausaufgaben per E-Mail-Versand und WhatsApp-Gruppe anzufangen. Oft sind dabei übrigens die Kinder und Jugendlichen die Treiber, denn sie drängen schon lange auf eine stärkere Digitalisierung des Unterrichts.
Wochenlanger Unterrichtsausfall? Für Deutschland undenkbar
Die jüngste international vergleichende Umfrage zu den digitalen Kompetenzen der Schüler in Deutschland hat gezeigt, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler über erstaunlich gute Kompetenzen im Umgang mit Computer oder Smartphones verfügt, allerdings hat rund ein Viertel auch nur sehr geringe.
Die Schulministerien und Schulleitungen sind gefragt, nun endlich nachzuziehen und die weniger digital-affinen Lehrkräfte zu unterstützen, sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Das ist Learning by doing, wie man es sonst auch im Schulalltag macht – und meist ja sogar ziemlich erfolgreich.
Die Alternative des ersatzlosen Ausfalls des Unterrichts für mehrere Wochen oder Monate jedenfalls ist einfach keine Option für ein Land mit internationaler Schlüsselökonomie.
Neben der löchrigen IT-Infrastruktur rückt deshalb auch der zweite Schwachpunkt der deutschen Bildungsarbeit in den Fokus: Die Kommunikation zwischen den Lehrkräften und den Eltern der Schülerinnen und Schüler. Mütter und Väter müssen die Kinder in den jetzt beginnenden Wochen der Schulschließung nicht nur beaufsichtigen und betreuen, sondern auch beim Lernen begleiten, unterstützen und – vor allen Dingen – motivieren.
Dadurch bekommt die Elternarbeit und Elternkommunikation eine völlig neue Dimension. Sie ist nicht mehr auf die Rolle des Klassenlehrers und den Elternsprechtag (der sowieso auf absehbare Zeit ausfallen muss) begrenzt, sondern ist eine Kernaufgabe für alle Lehrkräfte über alle Klassen hinweg. In den nächsten Wochen bedeutet Unterrichten vor allem, nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern immer auch ihre Eltern gezielt anzusprechen.
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Den Eltern kommt nunmehr eine ausgesprochen wichtige Aufgabe zu: Sie werden in den kommenden Wochen und – möglicherweise – Monaten mehr denn je zum Hauptansprechpartner der Kinder, was die unmittelbare Unterstützung und Begleitung beim Lernprozess angeht. Viele von ihnen werden nicht nur an die eigenen pädagogischen, sondern auch ihre inhaltlichen Kompetenz-, Wissens- und Lerngrenzen stoßen. Dabei brauchen die Eltern also selbst eigentlich auch wieder Unterstützung, sei es durch die Lehrkräfte der Kinder oder durch andere Stellen.
Ein ernstes Problem stellt zudem der Zugang zu den Geräten und Plattformen für die Kommunikation dar. Die ist bei eher bildungsfernen Eltern oft lückenhaft, was die Lehrkräfte vor besondere Herausforderungen bei der Einbindung in die Lernprozesse stellt. Gelingende Bildungs- und Erziehungspartnerschaften zwischen Schulen, Eltern und Schülerinnen und Schülern sind somit kein „nice to have“, sondern eine elementare Grundvoraussetzung für erfolgreiche Lehr- und Lehrprozesse.
Drei Sofortmaßnahmen
Die neue Situation stellt Schulen, Lehrkräfte, Schüler und Eltern vor völlig neue und sehr schwierige Herausforderungen. Was ist jetzt sofort zu tun?
Erstens: Die Politik muss schnellstens die Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Gelingen schaffen, damit die Schulen ihre Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben und Anleitung versehen und die Eltern in den Lernprozess einbinden können.
Zweitens: Der Digitalpakt ist sofort zu aktivieren und aufzustocken, Antrags-, Entscheidungs- und Auszahlungsverfahren sind zu vereinfachen; die anschließenden Beschaffungsverfahren mit ihren Ausschreibungsvorschriften sind zu verflüssigen.
Drittens: Schulleitungen und Lehrkräfte brauchen ein Training, Elternarbeit und Elternkommunikation auszubauen und zu professionalisieren.
Wie lässt sich das schaffen? Eine Möglichkeit wäre, den „Bildungsrat“ von Bund und Ländern nun sofort einzusetzen und mit einer schon bestehenden Forschungsinstitution zu vernetzen. Damit gäbe es eine neutrale und unabhängige wissenschaftliche Beratungsinstitution für Politik und Praxis – analog zum Robert Koch-Institut für die epidemiologische Expertise.
Der Bildungsrat bekäme nur eine einzige Aufgabe: Er soll Vorschläge unterbreiten, wie in Zeiten der Coronakrise mit Schulschließungen der Unterricht aufrechterhalten und mithilfe der Eltern die Bildung der Kinder und Jugendlichen erfolgreich umgesetzt werden kann.
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