Serie: Gender in der Forschung (6): Philosophieren über Gender
Ehe, Macht, Begehren: Seit der Antike interessieren sich Philosophen für die Geschlechterverhältnisse.
Philosophie – damit verbindet man zumeist ganz abstrakte Fragen nach Sein und Werden, nach den Bedingungen von Erkenntnis und Wahrheit, den Prinzipien der Moral und des guten Lebens. Die Grundfragen und Begriffe, um die es dabei geht, scheinen so allgemein, dass „Geschlecht“ in der Philosophie gar keinen Platz zu haben scheint. Womit also befasst sich Geschlechterforschung in der Philosophie? Und warum?
Zunächst einmal gilt es festzustellen: Die Auffassung, dass Geschlechterverhältnisse kein Gegenstand der Philosophie sind, galt nicht immer – genau genommen ist sie recht jung und vor dem 20. Jahrhundert kaum anzutreffen. Platon und Aristoteles, von denen Grundtexte stammen, auf die sich die europäische Philosophie weitgehend bezieht, haben intensiv über die Bedeutung von Geschlecht in der Natur, der Gesellschaft und im politischen Leben nachgedacht. Begriffliche Unterscheidungen wie die zwischen Materie und Form sind für sie Unterscheidungen, die sich zugleich auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern beziehen. Ihre Vorschläge dazu, wie Politik und gesellschaftliches Zusammenleben zu gestalten seien, geben Auskunft darüber, wie wichtig es auch zu ihrer Zeit war, sich über die soziale Organisation von Geschlechterverhältnissen, von Arbeitsteilungen und Machtverhältnissen zu verständigen.
Gleiche Rechte auch für Frauen
Auch in den Philosophien späterer Jahrhunderte wurde über Themen wie die kulturelle Bedeutung von Geschlechterdifferenzen, über die Regulation sexuellen Begehrens oder die Organisation von Familie und Staat viel und kontrovers diskutiert. Kants Begriff der Vernunft ist ohne die Abgrenzung zum „Gefühl“, das dem weiblichen Geschlecht zugewiesen wird, kaum verständlich. Gleiches gilt für Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, zu der seine Theorie der Familie, der Ehe und der Liebe gehört.
Die philosophischen Annahmen von Kant und Hegel über die gesellschaftliche und moralische Bedeutung der Geschlechterdifferenz waren dabei keineswegs unumstritten. Eine Reihe von Autorinnen und Autoren – beispielsweise Olympe de Gouges, Condorcet, Theodor Gottlieb Hippel und Mary Wollstonecraft – bezogen die philosophischen und politischen Ansprüche der Aufklärung, insbesondere das Postulat der Gleichheit und die Idee der Menschenrechte, auch auf Frauen (und auf die Sklaven in den europäischen Kolonien). Sie formulierten radikale Absagen an rechtliche, politische und soziale Ungleichheit und Unterdrückung.
Erst mit der Aufklärung wurden die Machtverhältnisse mit der Biologie erklärt
Natur? Ja, auch der Begriff der Natur spielte in den philosophischen Reflexionen und Argumentationen über die Jahrhunderte hinweg eine Rolle. Doch das Argument, die Ursache von Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern liege in der Anatomie des weiblichen bzw. männlichen Körpers begründet – dieses Argument tauchte erst dort auf, wo es darum ging, die Ansprüche der Aufklärung auf politische und gesellschaftliche Gleichheit abzuwehren. Nicht zufällig entwickelte sich der moderne, biopolitische Rassismus ebenfalls ab dem frühen neunzehnten Jahrhundert und berief sich in ähnlicher Weise auf „die Biologie“.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der philosophischen Naturbegriffe und Geschlechtertheorien macht daher vor allem eins deutlich: Die Art und Weise, wie heute über Geschlecht gesprochen und gedacht wird, ist in keiner Hinsicht selbstverständlich oder allgemeingültig und schon gar nicht „natürlich“. Die Begriffe und ihre Inhalte, das zeigt die Philosophiegeschichte, sind erstens höchst wandelbar und zweitens schon immer umkämpft. Sie offenbaren keine Wahrheiten, sondern sind Einsätze in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Möglichkeiten und Perspektiven des Zusammenlebens.
Judith Butler: Das biologische Geschlecht ist nicht in Reinform zu fassen
Diese Einsicht gilt selbstverständlich auch für die Geschlechterforschung selbst. Sofern Philosophie Arbeit am Begriff ist, beinhaltet philosophische Geschlechterforschung immer auch eine kritische Reflexion auf das eigene begriffliche Instrumentarium. Eine der folgenreichsten Debatten hat dabei Judith Butlers Kritik am Begriff „Frauen“ ausgelöst. Butlers zentrale Überlegung bestand darin, dass wir das „biologische Geschlecht“ niemals in Reinform zu fassen bekommen, also ohne Sprache, ohne Kultur, ohne Normen. Immer wenn wir auf den physiologischen Körper Bezug nehmen, tun wir dies vermittelt über Wörter, Begriffe, bestimmte Denkschemata und Denktraditionen.
Daher ist es unzutreffend und letztlich irreführend, zwischen dem biologischen Geschlecht (engl.: sex) und dem sozialen Geschlecht (engl.: gender) eine Trennlinie zu ziehen. Butler schlug daher vor, nur noch von „gender“ zu sprechen. Sie behauptete nicht, dass wir körperlose Ideen sind und die Geschlechtszugehörigkeit „bloß ausgedacht“ ist, sondern dass das, was wir als „natürliches Geschlecht“ bezeichnen, immer schon von Normen und gesellschaftlichem Handeln geprägt ist.
Der Blick richtete sich auf die Vielfalt geschlechtlicher Normen
Eine Folge ihrer Hinwendung zur Analyse von Geschlechternormen war, dass sich der Horizont weitete: Statt auf den Gegensatz Frauen–Männer richtete sich der Blick nun auf die Vielfalt geschlechtlicher Normen und Existenzweisen – also auf die unterschiedlichen Arten und Weisen, auf die jemand „als Mann“ oder „als Frau“ oder eben auch jenseits dieser Zuordnungen lebt.
Diesem Ansatz wurde und wird von Theoretikerinnen der „sexuellen Differenz“, deren prominenteste Vertreterin Luce Irigaray ist, entgegengehalten dass die Differenz des Männlichen und des Weiblichen in der männlich geprägten Kultur, in der wir leben, eine herausragende Rolle spielt. Die Ausbildung von Subjektivität und Begehren, so die These, funktioniert grundsätzlich – bei Männern und Frauen – über eine Abwertung und Abwehr des Weiblichen. Das „Weibliche“ steht dabei nicht für die wirklichen Frauen oder sogenannte weibliche Tugenden, sondern eben für all das, was in den männlichen Denktraditionen seit Jahrhunderten verdrängt wurde und in einer männlich geprägten Sprache überhaupt nicht angemessen ausgedrückt werden kann.
Die philosophische Geschlechterforschung ist keine Theorie, sondern ein wissenschaftliches Feld
Insgesamt sind die theoretischen Konzepte von Körper und Geschlecht, mit denen in der philosophischen Geschlechterforschung gearbeitet wird, also höchst unterschiedlich. Überhaupt bezeichnet „philosophische Geschlechterforschung“ – oder „feministische Philosophie“, wie das Gebiet im angelsächsischen Kontext heißt, wo es weniger Berührungsängste gibt – keine Position oder Theorie, sondern ein wissenschaftliches Feld, einen Forschungs- und Debattenzusammenhang. Wie in anderen wissenschaftlichen Feldern auch, gibt es internationale Fachzeitschriften und Kongresse, übergreifende und eher spezialisierte Debatten und vor allem ein breites Spektrum an Forschungsrichtungen und -perspektiven.
Die Beiträge vergessener Philosophinnen aufarbeiten
Dabei spielt zum einen die kritische Aufarbeitung der philosophischen Tradition hinsichtlich der impliziten und expliziten Annahmen und Theorien über die Geschlechterverhältnisse eine zentrale Rolle. Forschungen zu mehr oder weniger allen „Klassikern“ der Philosophie haben gezeigt, dass die philosophischen Geschlechtertheorien keineswegs nur an den Rändern der philosophischen Entwürfe und Systeme angesiedelt sind, sondern die jeweiligen Grundbegriffe prägen. Da in der akademischen Philosophie – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – bislang nur männliche Autoren als „Klassiker“ betrachtet werden, widmet sich ein weiterer Forschungszweig der Geschichte der Philosophinnen und zielt darauf, die Beiträge dieser vergessenen Autorinnen sichtbar zu machen.
Macht, Öffentlichkeit, Gerechtigkeit - Reformulierung von Begriffen
Darüber hinaus arbeiten feministische Philosophinnen zu so gut wie allen Sachfragen und -gebieten der Philosophie. Im Bereich der Sozialphilosophie und Politischen Philosophie geht es vor allem um Theorien über Gleichheit und Differenz, Identität und Alterität sowie um eine Reformulierung von Begriffen wie Macht und Herrschaft, Öffentlichkeit und Privatheit, Gerechtigkeit und Politik. Diese Begriffe wurden in der Regel allein unter Bezug auf männliche, privilegierte Lebenswelten formuliert. Das Ziel besteht darin, sie neu zu fassen, sodass sie geeignet sind, die vielfältigen Erfahrungswelten und Machtverhältnisse begreifbar zu machen, die in geschlechtlich segregierten Gesellschaften wie der unseren mit der Kategorie „Geschlecht“ angesprochen sind.
Intersektionalität: Geschlecht ist nur ein Faktor unter anderen
Zunehmend hat sich dabei in den vergangenen Jahren ein „intersektionales“ Verständnis von Geschlecht durchgesetzt. Gemeint ist damit, dass Menschen in ihrer Existenz niemals allein durch Geschlechterverhältnisse bestimmt sind. Wir sind vielmehr in eine ganze Reihe von Machtverhältnissen gleichzeitig eingebunden. Dazu gehören Verhältnisse ökonomischer Ungleichheit, aber auch Hierarchien und Machtverhältnisse auf der Basis von kultureller Zugehörigkeit und geografischer Herkunft, von sexuellen Lebensweisen, Alter, Behinderung oder Nicht-Behinderung.
Die Diskussion darüber, wie ein Begriff und eine Theorie der Geschlechterverhältnisse beschaffen sein müsste, um die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit multipler Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu erfassen, ist dabei längst nicht abgeschlossen. Angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher, transnationaler und globaler Konflikte kann sie es auch nicht sein. Philosophische Geschlechterforschung ist, wie Philosophie insgesamt, ohne Ende. Denn es geht ihr nicht um abschließende Welterfassung, sondern darum, gesellschaftliche Konflikte begreifbar und damit veränderbar, lösbar zu machen.
Die Autorin ist Privatdozentin für Philosophie und forscht an der Freien Universität Berlin. - Die bereits erschienenen Teile der Serie "Gender in der Forschung" finden Sie hier: Teil 1 -"Keine Angst vorm bösen Gender" (von Ilse Lenz), Teil 2 - "Auch das Biologische ist sozial" (von Kerstin Palm), Teil 3 - "Lernen, wie man Grenzen zieht" (von Heinz-Jürgen Voß). Teil 4 - "Riskante Ideale von Männlichkeit" (von Ahmet Toprak). Teil 5 - "Der moderne Mann sucht - sich selbst" (von Michael Meuser)
Susanne Lettow
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