Gender in der Forschung: Der moderne Mann sucht – sich selbst
Die Familie wird wichtiger, im Job werden Frauen zur Konkurrenz: Der gesellschaftliche Wandel fordert Männer heraus, sich neu zu positionieren.
Geht es in den Medien um Männer, sind seit einigen Jahren Krisenszenarien stark verbreitet. Von „Not am Mann“ ist die Rede („Die Zeit“, 2014), und es wird gefragt, „was vom Mann noch übrig ist“ („Der Spiegel“, 2008). Die Männer scheinen sich auf der Seite der Verlierer gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen zu befinden. Dies mögen medientypische Dramatisierungen sein. Es ist allerdings festzuhalten, dass tradierte männliche Lebenslagen im Zuge des Wandels von Geschlechter-, Familien- und Erwerbsverhältnissen in vielfacher Weise herausgefordert sind. Männer sind gefordert, sich neu zu positionieren.
Traditionell stellt sich männliche Selbstvergewisserung im Wesentlichen über Erwerbsarbeit und beruflichen Erfolg her. Zwar mag das Zeitalter der Industriegesellschaft, in dem sich dieses Männlichkeitsverständnis etablierte, an sein Ende gekommen sein. Doch die in dieser Epoche entstandenen symbolischen Ordnungen und kulturellen Deutungsmuster wirken beharrlich fort. Die Berufszentriertheit bestimmt bis in die Gegenwart Erwartungen an Männer wie auch deren Selbstverständnis.
Männer knüpfen Familiengründung häufig an gesicherte Jobperspektive
So knüpfen Männer den Entschluss zu einer Familiengründung deutlich häufiger als Frauen an eine gesicherte berufliche Perspektive. Sie sehen sich vor die Anforderung gestellt, mit ihrem Einkommen die Familie ernähren zu können. Sie tun dies gegenwärtig zwar nur noch zu einem Viertel in der Position des Alleinernährers. Bei weiteren 45 Prozent der Paare mit minderjährigen Kindern ist der Mann allerdings weiterhin der Haupternährer. Er arbeitet Vollzeit, die Frau Teilzeit. Männer unterliegen stärker als Frauen der Erwartung einer generellen, durch Familienpflichten nicht begrenzten beruflichen Verfügbarkeit. Anders als Mütter werden Väter in Bewerbungsgesprächen selten mit der Frage konfrontiert, wie sie berufliche Anforderungen und elterliche Pflichten miteinander zu vereinbaren gedenken.
Die zentrale Stütze des berufszentrierten und auf die Position des Familienernährers bezogenen männlichen Lebensentwurfs ist und war das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, wie es insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschte. Die zentralen Merkmale sind eine geregelte, abhängige Vollzeitbeschäftigung, Arbeitsplatzkontinuität und sozialstaatliche Absicherung.
Tendenzen zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
Tendenzen zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses sind deutlich sichtbar. Atypische, befristete, prekäre und diskontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu, sozialstaatliche Sicherungssysteme werden abgebaut. Angesichts der fortbestehenden Berufszentriertheit männlicher Lebensentwürfe beinhalten diese Entwicklungen das Potenzial der Verunsicherung. Dass die Berufszentriertheit bruchlos zu realisieren ist, erweist sich für eine wachsende Zahl von Männern als eine Illusion.
Auf der anderen Seite spielt Berufstätigkeit eine immer größere Rolle in weiblichen Biografien. Die Erwerbsquoten von Männern und Frauen haben sich in den letzten 50 Jahren kontinuierlich einander angenähert. Auch wenn die Teilzeitquote der Frauen deutlich höher als die der Männer ist, sind Frauen zu Konkurrentinnen auf dem Arbeitsmarkt geworden. Für eine wachsende Zahl von hoch qualifizierten Frauen gewinnt der Beruf einen ähnlich hohen Stellenwert, wie er ihn für Männer schon lange hat. All dies lässt die tradierte Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern nicht unberührt.
Wenn die Ernährerrolle zur Fiktion wird
Im Rahmen der tradierten Geschlechterordnung ist die Position des Mannes in der Familie durch die Rolle des Ernährers der Familie bestimmt. Wenn die Berufsrolle gefährdet ist, wird die Ernährerrolle schnell zur Fiktion. Zum anderen haben sich die Erwartungen an den Vater und das Verständnis von Vaterschaft verändert. Ein „moderner“ Vater beteiligt sich daran, die Kinder zu betreuen. Fürsorglichkeit wird zu einem wichtigen Bestandteil von Väterlichkeit, und eine solche Väterlichkeit findet Eingang in Männlichkeitskonzepte.
Wie Modernisierung von Männlichkeit stattfindet
Das neue Anforderungsprofil weist jedoch beträchtliche Unschärfen auf. Es ist vor allem negativ definiert: nicht nur Ernährer zu sein. Es mangelt an einer klaren Bestimmung der Eigenschaften, die den „neuen“ Vater ausmachen. Nicht von den Erwartungen an seine Ernährerfunktion entlastet, empfinden Väter sich als Getriebene – sie werden weder den beruflichen noch den familiären Anforderungen gerecht. Das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie beginnt die Männer einzuholen. Dies erzeugt vielfältige Suchbewegungen. Der Krisendiskurs ist ein Ausdruck dessen.
Immer mehr Väter gehen in Elternzeit
Ernährer und Erzieher – beide Anforderungen bestimmen gegenwärtig die Vaterschaft. In einer Studie des Deutschen Jugendinstituts aus dem Jahr 2009 gaben knapp 95 Prozent der Befragten sowohl an, ein Vater müsse den Lebensunterhalt für die Familie verdienen, als auch, er müsse sich Zeit für das Kind nehmen. 80 Prozent sahen es als Aufgabe des Vaters, das Kind zu betreuen und zu beaufsichtigen. Seit der Novellierung des Elternzeit- und Elterngeldgesetzes im Jahr 2007 hat sich der Anteil der Väter, die in Elternzeit gehen, von 3,5 Prozent im Jahr 2006 auf aktuell 32 Prozent nahezu verzehnfacht. Dieser deutliche Anstieg verweist darauf, dass am Aufwachsen des Kindes teilzuhaben Eingang in die Praxis von Vaterschaft gefunden hat.
Allerdings nahmen 78 Prozent der Väter die Elternzeit nur für den Mindestzeitraum von zwei Monaten. Das wiederum verdeutlicht die gleichzeitige Persistenz, wenn nicht Dominanz der Ernährerfunktion. In die gleiche Richtung weist der Befund aus der Studie zu Vaterschaftskonzepten junger Männer, dass nur 43 Prozent der Befragten die eigene Karriere zugunsten des Kindes zurückstellen würden – obwohl doch die Zustimmungsrate zu Betreuungsaufgaben des Vaters äußerst hoch war.
Erzieher nur so weit es die Erwerbsarbeit zulässt
Wie lässt sich der doppelte Anspruch lösen? Vorherrschend scheint zu sein, Erzieher nur so weit zu sein, wie es die Erwerbsarbeit zulässt. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sich das väterliche Engagement in der Familie auf das Wochenende konzentriert. Dann verbringen Väter etwa doppelt so viel Zeit mit ihren Kindern wie unter der Woche. Am Wochenende gibt es so kaum noch zeitliche Unterschiede zwischen den Elternteilen – anders als unter der Woche, wenn Männer zwar nicht unbeteiligt, jedoch deutlich weniger als Frauen involviert sind.
Diese Daten verdeutlichen zweierlei. Erstens: Es gibt eine Kluft zwischen dem neuen Vaterschaftsdiskurs, der ein hohes Maß an Engagement in der Familie fordert, und der Praxis von Vaterschaft, in der ein solches Engagement erst in Ansätzen realisiert ist. Zweitens: Die populäre Rede vom abwesenden Vater wird der gegenwärtigen Realität in den Familien nicht mehr gerecht.
In dem Maße, in dem das Engagement von Männern in der Familie zunimmt, wird der Binnenraum der Familie neben der Erwerbsarbeit zu einem für die männliche Selbstvergewisserung relevanten Ort. Dies zeigt sich vor allem bei den – gegenwärtig noch eine Minderheit ausmachenden – Vätern, die sich in hohem Maße und längerfristig an Familienarbeiten, insbesondere der Kinderbetreuung, beteiligen. Ihnen ist es wichtig klarzustellen, dass ihr familiales Engagement nicht mit einem „Männlichkeitsverlust“ verbunden ist. Denn dieses Engagement hat eben noch nicht den Status des Selbstverständlichen.
Familie und Selbstvergewisserung
Väterliches Engagement in der Familie und männliche Selbstvergewisserung sind so oft nicht ohne Probleme zu vereinbaren. Indem sie sich in der Familie engagieren, leben sie eine alternative Männlichkeit. Gleichzeitig versuchen sie aber auch, dies in konventionelle Muster von Männlichkeit zu integrieren. Hierbei handelt es sich nicht um einander ausschließende Strategien, beides findet sich durchaus parallel. Darin zeigt sich die Ambivalenz des neuen Vaterschaftsmodells.
Die skizzierten Herausforderungen erzeugen Suchbewegungen unterschiedlicher Art. Unabhängig davon, in welche Richtung diese gehen, findet eine Modernisierung von Männlichkeit statt. Sie kann immer weniger als etwas fraglos Gegebenes erfahren werden. Männer müssen mehr als je zuvor eigene, nicht mehr von der Tradition vorgegebene Antworten finden, wie sie ihr Leben zwischen Erwerbsarbeit und Familie gestalten wollen. Dies kann als Chance erfahren werden: Handlungsspielräume erweitern sich. Es kann aber auch als eine erzwungene Modernisierung von Männlichkeit empfunden werden, die tradierte Gewissheiten zerstört.
Eine Rückkehr zu den verloren gegangenen Gewissheiten ist allerdings nicht möglich. Die Notwendigkeit, einen Lebensentwurf zwischen Erwerbsarbeit und Familie zu finden, dürfte vorerst für männliche Lebenslagen prägend sein – wobei im Dazwischen viele Positionen möglich sind.
- Der Autor ist Professor für Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der TU Dortmund.
Die bereits erschienenen Teile der Serie "Gender in der Forschung" finden Sie hier: Teil 1 -"Keine Angst vorm bösen Gender" (von Ilse Lenz), Teil 2 - "Auch das Biologische ist sozial" (von Kerstin Palm), Teil 3 - "Lernen, wie man Grenzen zieht" (von Heinz-Jürgen Voß). Teil 4 - "Riskante Ideale von Männlichkeit" (von Ahmet Toprak).
Michael Meuser
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