Serie: Gender in der Forschung (1): Keine Angst vorm bösen Gender
Gegen die Geschlechterforschung wird massiv gehetzt – aber an den Fakten vorbei. Worum es in den Gender Studies wirklich geht.
Nicht nur anonym im Internet, auch in Qualitätszeitungen wird die Genderforschung regelmäßig als „Genderwahnsinn“ attackiert, werden Geschlechterforscherinnen und -forscher diffamiert. Genderforschung verleugne beim Thema Frauen und Männer die biologischen Fakten, heißt es. Sie sei darum keine Wissenschaft, sondern eine Ideologie mit dem Ziel der geschlechterlosen Gesellschaft. – Aber stimmt das? Wir haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gebeten, uns einen Beitrag zur Genderforschung aus ihrer jeweiligen Disziplin zu schreiben. In der nächsten Zeit veröffentlichen wir die Texte in loser Folge. (Tsp)
Früher waren die Weiber schuld, dann war es der Feminismus und heute sind es Gender und die Genderforschung. Kleine, aber stimmgewaltige Kreise greifen die Genderforschung seit einiger Zeit heftig an und fordern ihre Abschaffung. Sie sei unwissenschaftlich, pervers, aus ihr spreche Männerhass oder gleich Wahnsinn („Gender-Gaga“). Die Kritiker sind politisch zumeist im neoliberalen, rechtskonservativen und rechtsextremen Spektrum zu Hause. Sie befinden sich in fundamentalistischen kirchlichen Gruppen, unter „Männerrechtlern“, in der AfD oder bei Pegida, aber durchaus auch in der „bürgerlichen“ Presse. Einige schrecken vor Hass und Drohungen bis zu Mord und Vergewaltigung nicht zurück.
Wissenschaftsferne Hassprediger wollen festlegen, was Wissenschaft sein soll
Selbstverständlich ist Kritik an der Geschlechterforschung wichtig und willkommen, aber sie sollte auf ernsthafter inhaltlicher Auseinandersetzung beruhen. Diese haben die deutschen Wissenschaftsinstitutionen wie die Universitäten, die relevanten Fächer und die DFG vollzogen. Im Ergebnis haben sie die Geschlechterforschung nach langen Debatten und einer Reihe von Evaluierungen aufgenommen und institutionalisiert. Man wundert sich schon über selbst ernannte wissenschaftsferne (Hass-)Prediger, die beliebig festlegen wollen, was „unwissenschaftlich“ sein soll. Wie steht es angesichts der massiven Abwertungs- und Abschaffungskampagne und besonders der Bedrohung von Forscher_innen heute um die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Forschung in der Bundesrepublik?
Dabei ist die Geschlechterforschung grundlegend, um Gesellschaften und besonders ihren gegenwärtigen Wandel zu verstehen. Seit jeher werden über Geschlecht Macht, Chancen und Ressourcen verteilt – Geschlecht bildet also zum einen eine Strukturkategorie für soziale Ungleichheit. Zum anderen wird diese Ungleichheit oft mit der Geschlechterdifferenz begründet. Die Genderforschung trennt diese Fragen nach Geschlechterungleichheit und -unterscheidung analytisch, auch wenn sie zusammenhängen.
Dass "Biologie" wichtig ist, stellt die Genderforschung nicht infrage
Die Genderforschung stellt nicht infrage, dass es „die Biologie“ gibt und sie eine wichtige Bedeutung hat. Aber sie hat beobachtet, wie unterschiedlich biologische Zusammenhänge kulturell interpretiert und gestaltet werden. So hat Geschlecht eine grundlegende Bedeutung für die Versorgung von Kindern, aber zugleich zeigt sich eine hohe Variabilität zwischen den Kulturen. Bei den Trobriandern im Südpazifik etwa fütterten und betreuten herkömmlich die Väter ihre Kinder. In der Moderne wurde demgegenüber die Kinderversorgung als biologische Rolle der Frau und Mutter zugeschrieben. Damit wurde ihre Abhängigkeit vom männlichen Ernährer und Familienvater begründet und im Familienrecht festgeschrieben. In anderen Worten wirkte die Geschlechterunterscheidung nun als Legitimation von Ungleichheit. Die Geschlechterforschung hat die weltweiten Variationen von Gender und die damit verbundenen Machtverhältnisse untersucht und sie hat daraus geschlussfolgert: Im Zusammenhang mit Geschlecht zeigen sich ganz unterschiedliche soziale Strukturen, es wird also: sozial gestaltet oder konstruiert.
Zeugung, Schwangerschaft und Geburt sind auch soziale Prozesse
Die Genderforschung blendet die körperliche Dimension von Schwangerschaft/Zeugung oder Geburt also nicht aus, aber sie sieht darin soziale Prozesse, die auf Beziehungen zwischen Menschen und nicht einfach auf biologische Triebe oder genetische Veranlagung zurückgehen. So hat die Geschlechterforschung die Kinderversorgung und die Hausarbeit aus der Biologie in die Gesellschaft geholt und die ungleiche Arbeitsteilung in der Versorgung, der Carearbeit, kritisiert. Sie hat aber auch das wachsende Interesse von Männern an aktiver Vaterschaft und gleicher Partnerschaft untersucht und aufgezeigt, dass sie ebenso wenig wie „die Frauen“ biologisch programmiert sind. Nur noch etwa ein Viertel der Männer bejaht heute das Traditionsmodell vom männlichem Ernährer und der Hausfrau, bei den jungen sind es noch weniger. Ob die neuen Männermehrheiten auch die neuen Wege gehen können, die sie suchen, liegt ebenfalls an den gesellschaftlichen Möglichkeiten, die der flexibilisierte Kapitalismus, die Betriebe und der Sozialstaat dafür eröffnen und nicht an ihrem „biologischen Mannsein“.
Wenn Biolog_innen durchs Mikroskop blicken, interpretieren sie ihr Material und formen es kulturell
Die Geschlechterforschung sieht die Biologie wie andere Wissenschaften in ihrem sozialen Kontext. Sie nimmt wahr, dass sie auf menschlichen Erkenntnismöglichkeiten aufbaut und auf den Bedingungen der Sprache. Wenn Biolog_innen oder Mediziner_innen durchs Mikroskop blicken, interpretieren sie ihr Material und formen es dabei kulturell. Wenn die Genderforschung also sagt, auch der Körper sei ein „Konstrukt“, will sie die Bedeutung der Anatomie nicht bestreiten, wie die Anti-Gender-Fraktion behauptet. Vielmehr verweist die Genderforschung damit in guter philosophischer Tradition auf die kulturellen Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis.
Vor allem von zwei Perspektiven her untersucht die Genderforschung die Frage der Geschlechterdifferenzierung: Nach Judith Butler fragt sie, welche Bedeutung Sprache und kulturelles Wissen dafür haben, dass gerade „Geschlecht“ als nicht hintergehbare biologische Voraussetzung für die Festlegung von Körper und Identität erscheint.
Auch die Kanzlerin "macht Gender"
Ethnomethodologische Richtungen betrachten, wie Geschlecht in alltäglichen Beziehungen immer wieder hergestellt wird und so für alle plausibel wird, also das Doing Gender („Geschlecht tun“). Selbst die Kanzlerin der Bundesrepublik trägt weiblich markierte orangefarbene oder hellgrüne Blazer (aber meist mit Hose …), die ihr Vorgänger nicht angezogen hätte, und dieses Doing Gender fließt in ihre öffentliche Beurteilung mit ein. Beide Richtungen beziehen sich auf Körper und Biologie, aber sie sehen sie in ihrem sozialen Kontext und nicht als von vornherein gegebene, determinierende Fakten. Durch Sprache, Routinehandeln und kulturelles Wissen wurde das soziale Geschlecht tief verankert und immer wieder restabilisiert; es ist also keineswegs beliebig zu vervielfältigen oder gar von der Genderforschung abzuschaffen, wie der Vorwurf der Anti-Genderkreise lautet.
Queere Ansätze arbeiten sexuelle Vielfalt vor dem Hintergrund heteronormativer Machtverhältnisse heraus. Sie setzen Homosexualität nicht gegen Heterosexualität, sondern denken über Gleichheit und individuelle Autonomie für verschiedene Gruppen angesichts von Vielfalt nach. Dazu gehören die Konzepte individueller sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung oder intimer Bürgerrechte, die auch international wirksam wurden.
Die Genderforschung setzt sich mit Gendermainstreaming kritisch auseinander
Außerdem verbindet die Genderforschung Geschlecht mit anderen Kategorien sozialer Ungleichheit wie Klasse, Migration oder Sexualität. Heute ist die Frage nach wechselwirkenden Ungleichheiten oder Intersektionalität leitend in der Genderforschung. Im Bereich der Versorgungsarbeit hat sie etwa auch die zunehmende irreguläre Beschäftigung von Migrantinnen im Haushalt erforscht, auf denen die wachsende Erwerbstätigkeit einheimischer Frauen aufbaut. Unter dem Druck des ökonomisierten Arbeitsmarkts wird so eine gleiche Arbeitsteilung bei der Versorgungsarbeit vermieden und das Modell der "McPolin" propagiert, anstelle langfristige sozialstaatlich abgesicherte Lösungen für die Pflege im Alter zu entwickeln.
Ein weiterer Vorwurf an die Genderforschung lautet, sie wolle über den Politikansatz des Gendermainstreaming die traditionellen Geschlechterrollen vernichten und „den neuen Menschen schaffen“ (so zuerst Volker Zastrow im Jahr 2006 in der „FAZ“).
Nun bewegen sich Gendermainstreaming und Genderforschung auf verschiedenen Feldern: Ziel des Gendermainstreaming ist im Feld der Politik die im Grundgesetz festgeschriebene Gleichberechtigung für Männer und Frauen zu verwirklichen und dabei Frauen und Männer gleich einzubeziehen. Gender Mainstreaming als Ansatz der Gleichstellung bedeutet, dass „die Politik, dass aber auch Organisationen und Institutionen jegliche Maßnahmen, die sie ergreifen möchten, hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und von Männern untersuchen und bewerten sowie gegebenenfalls Maßnahmen zur Gleichstellung ergreifen“ (so die Definition der Bundeszentrale für politische Bildung).
Die "Erfindung des neuen Menschen" findet nicht statt
Demgegenüber setzt sich die Geschlechterforschung im Feld der Wissenschaft kritisch mit Gendermainstreaming auseinander, wie das auch die Politikwissenschaft mit politischen Ansätzen tut. Manche Genderforscher_innen untersuchen das Gendermainsteaming in Bezug auf Anspruch und Umsetzung, auf auftretende Potenziale und Probleme. Andere kritisieren den Fokus auf Frauen und Männer, worin sie ein Verharren in traditionellen Genderkonzepten sehen. Daraus nun eine „politische Geschlechtsumwandlung“, die „Erfindung eines neuen Menschen“ oder gar die Anstiftung zur Perversität zu machen, ist verzerrend und unsinnig. Aber mit solchen Zerrbildern wird gegen Gleichstellung und die Geschlechterforschung mobil gemacht.
Nach allem: Gender ist ein innovativer kritischer Begriff zum Forschen und (Hinter-)Fragen mit offenem Ausgang. Die Geschlechterforschung hat – darauf gestützt – zahlreiche Studien zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen eingebracht: zur Zukunft der Arbeit und der Versorgung von Kindern und Alten, zum demografischen Wandel, zur Ökologiefrage, zur Vielfalt der Lebensformen und wachsenden Ungleichheit. Sie hat sich als internationale Forschungsrichtung durchgesetzt und bearbeitet diese Fragen im transnationalen Austausch (mein Tipp zum Weiterlesen: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Theorie, Methoden, Empirie, hrsg. von Ruth Becker und Beate Kortendiek, 2010, 968 S.,64,99 Euro).
Die Geschlechterforschung ist wesentlich, um den gegenwärtigen raschen Wandel zu verstehen und zu bewältigen: Dieser Wandel lässt sich nicht durch die Neubekräftigung von Biologismen gestalten, sondern nur durch den Einbezug der pluralistischen Geschlechterforschung als kritische wissenschaftliche Beobachtungsinstanz. Sie wird weiter gebraucht und sie wird sich dabei weiter verändern.
Die Autorin ist Professorin i.R. für Geschlechter- und Sozialstrukturforschung an der Universität Bochum. – Den von ihr verwendete Unterstrich etwa in „Biolog_innen“ nennt die Linguistik „gender gap“. Er soll Männer, Frauen und weitere Geschlechter bezeichnen.
Ilse Lenz